UNO Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung

Meilenstein für grundlegende Veränderung oder wiederum blosses Blendwerk?

De Thomas Schwarz

In den letzten drei Jahren hat sich das Netzwerk Medicus Mundi International intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie es nach den Millenniumsentwicklungszielen (MDGs) weitergehen soll. Vergleicht man die im Laufe dieses Prozesses formulierten Erwartungen und Analysen zu „Gesundheit für alle nach 2015“ mit der im September von der UNO verabschiedeten „Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung“, stellt sich die Frage: Ist die neue UNO-Entwicklungsagenda die erhoffte Weltverfassung? Der Autor ist skeptisch.

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Meilenstein für grundlegende Veränderung oder wiederum blosses Blendwerk?

Angelique Kidjo performt am UN-Gipfel zur nachhaltigen Entwicklkung (Photo: UN Photo/Kim Haughton)

 

Herbst 2012: unter Federführung von Medicus Mundi International erarbeitet eine Gruppe von Fachleuten der globalen Gesundheitspolitik und Gesundheitsentwicklungszusammenarbeit die Stellungnahme der zivilgesellschaftlichen Koalition „Beyond 2015“ zu einem thematischen Hearing der UNO: Gefragt sind Perspektiven zur Rolle der Gesundheit in der nachhaltigen Entwicklung im Zeitalter nach Ablauf der Millenniumsentwicklungsziele, also nach 2015.

Es ist ein bunt zusammengewürfelter Haufen von politischen AktivistInnen und abgebrühten LobbyistInnen, der um den gemeinsamen Text ringt, der dann im Dezember 2012 unter dem Titel „The post-2015 development agenda: What good is it for health equity?” (Beyond 2015 Positionspapier, Dezember 2012, pdf) veröffentlicht wird. In der Zusammensetzung der Arbeitsgruppe zeigt sich exemplarisch die Vielfältigkeit – oder besser Konfusion? – zivilgesellschaftlicher Stimmen im Dialog um globale Gesundheit.

Krankheiten – Gesundheitssystem – Determinanten:
Drei Stämme, drei Sprachen

Da gibt es zunächst die „Themenlobby“: VertreterInnen von Verbänden und Organisationen, die ihr Engagement auf einzelne Krankheiten konzentrieren und im Ringen um die MDG-Nachfolgeziele ihre thematischen Silos verteidigen, ohne gross nach rechts und links zu schauen: HIV/AIDS, Malaria, Gesundheit von Mutter und Kind, nichtübertragbare Krankheiten (NCDs), Sexuelle und Reproduktive Gesundheit und Rechte, Mental Health und viele mehr. Die „grossen drei“ (HIV/AIDS, Malaria, TB) sowie die Gesundheit von Mutter und Kind stehen dabei am Ende der goldenen MDG-Jahre und der in dieser Zeit stark gewachsenen finanziellen Mittel vor einer ungewissen Zukunft. Und die in den MDGs zu kurz Gekommenen unternehmen alles, um „ihr Thema“ in den Nachfolgezielen endlich prominent zu platzieren.

Dann die „Gesundheitssystemler“: Ihre Aufmerksamkeit gilt dem Zugang aller zu einer umfassenden  Gesundheitsversorgung im Rahmen starker nationaler Gesundheitssysteme. Sie erhalten Rückenwind durch die Weltgesundheitsorganisation WHO, deren Strategie es ist, „Universal Health Coverage“ als neues Gesundheitsentwicklungsziel festzuschreiben. Nachdem die Millenniumsziele allzu stark auf einzelne Krankheiten fokussierten, fordern die VertreterInnen eines systemischen Ansatzes, dass wieder vermehrt über die allgemeine Gesundheitsversorgung – und was es dafür braucht – geredet wird.

Schliesslich die Grundsätzlichen, die Politischen: Sie sind eher eine Randgruppe unter den „health advocates“. Aus ihrer Sicht genügen weder die Bekämpfung einzelner Krankheiten noch die Stärkung nationaler Gesundheitssysteme als Mittel zur Erreichung von „Gesundheit für Alle“. Im Geist von Alma Ata fordern sie die Auseinandersetzung mit allen politischen, ökonomischen und sozialen Determinanten von Gesundheit und Gesundheitssystemen. Sie sind weniger an einem perfekten „Gesundheitsziel“ interessiert, sondern an der Gesamtausrichtung und -architektur der neuen Entwicklungsziele: Alle Ziele sind auf ihre Auswirkungen hinsichtlich des Rechts auf Gesundheit zu überprüfen, alle Länder und Politikbereiche sind gefordert.

Es ist ein schwieriger Dialog zwischen verschiedenen Welten, „Stämmen“ und Sprachen. Das Produkt der Arbeit, das Positionspapier von „Beyond 2015“, benennt die folgenden Pfeiler für den Einbezug von Gesundheit in den künftigen Entwicklungszielen:

  • Health should be recognized as a right in and of itself as well as being clearly linked with other development sectors. The post-2015 framework must address the root causes of poverty and the structural power imbalances; it must, in general, have universal applicability and not only to low- and middle-income countries.
  • Reducing health inequities must be an explicit and central outcome of the post-2015 health goal(s) – with special emphasis on disadvantaged populations.
  • A comprehensive approach is needed to move away from fragmented goals and targets, and incorporate the underlying determinants of health.
  • The post-2015 framework must ensure broad participation in its preparation and its monitoring of processes and outcomes by setting clear participation targets.
  • We need to move beyond official development assistance (ODA) and address, on the one hand, the illicit outflow of resources from low-income countries and on the other hand set goals for the development of new financing mechanisms.

Dieser „kleine Sieg“ eines holistischen und politischen Verständnisses von Gesundheit und nachhaltiger Entwicklung bleibt aber im weiteren Prozess weitgehend unbeachtet – und einmalig: In den folgenden zwei Jahren mit globalen Konsultationen, deren Schwerpunkt sich allmählich an den Sitz der UNO in New York verlagert, sind es schliesslich die finanzstarken Themenlobbyisten, die sich am meisten Gehör verschaffen.

UNO-Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung
Weltverfassung oder Schönwetterdeklaration?

Im Sommer 2013 beschrieb ich die Spannbreite unserer Erwartungen an die MDG-Nachfolgeziele an Anlässen in Madrid (Action for Global Health) und Berlin (medico international) wie folgt: „Klare, verbindliche Ziele, deren Erreichung wir von allen Staaten und der Staatengemeinschaft einfordern können: Ein Meilenstein auf dem Weg hin zu einer Weltinnenpolitik? Oder noch so eine abgehobene und unverbindliche Schönwetterdeklaration, die an den Verhältnissen nichts ändern wird?“

Grafik der Asian Development Bank zum Gesundheitsziel (Asian Development Bank / flickr)

 

Nachdem die „UNO Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung“ im September 2015 von einer Sondersitzung der UNO-Generalversammlung mit viel Pomp und Pathos verabschiedet wurde (UNO-Agenda 2030) – der Papst und Malala haben gesprochen, Shakira hat John Lennon’s „Imagine“ gesungen, das UNO-Hauptgebäude war mit Illustrationen der SDGs erleuchtet, und alle haben Selfies getwittert –, bleiben gemischte Gefühle zum Prozess und zum erreichten Resultat.

Der unbefriedigende Ausgang des Ringens um die MDG-Nachfolgeziele war bereits im Frühsommer absehbar: „Mit ihren 17 Themen und den oft unrealistischen Zielformulierungen sind die SDG ein Wunschkatalog, der es allen recht machen will – und sie riskieren damit, eine von vielen Absichtserklärungen der internationalen Staatengemeinschaft zu bleiben, die als solche nicht sehr viel bewirken. Wer sorgt für ihre Umsetzung? Und mit welchen Mitteln? An der ungerechten Verteilung des Reichtums, an den Machtverhältnissen, an den Bestimmungsfaktoren für Armut und Krankheiten ändern die SDGs wohl nichts. Ich habe meine Zweifel, dass sich mit ihnen viel zu Gunsten armer Länder und armer Menschen bewegt.“ (Interview mit Thomas Schwarz in: Eine Welt 3/2015, DEZA, September 2015)

Dabei liest sich das UNO-Dokument zunächst eigentlich ganz vielversprechend: Es enthält eine grossartige Vision und viele bemerkenswerte Inhalte (wissen die Staaten eigentlich, wozu sie sich mit der „Agenda 2030“ verpflichtet haben?). Die Agenda ist sowohl holistisch (sie integriert  gesellschaftliche, ökologische und wirtschaftliche Entwicklung) also auch universell (sie ist für alle Staaten und Gesellschaften gültig) und kann – respektive könnte – somit durchaus als Ansatzpunkt für einen Politikdialog mit jeder Regierung dienen: Wie wird die Agenda in der Innenpolitik umgesetzt? Wie in der Aussen- und Wirtschaftspolitik und in der internationalen Zusammenarbeit? Wie steht es mit der Politikkohärenz?

Doch gibt es gerade beim Gesundheitsziel – und auf dem Hintergrund unserer eigenen Erfahrungen –  allzu deutliche Indizien, dass das, was hier vordergründig so holistisch und universell daher kommt, schlussendlich auf einer eklektischen Kompilation beruht: Als Resultat des jahrelangen Aushandlungsprozesses will es die „Agenda 2030“ einfach allen recht machen, allen etwas bieten. So dominierten denn an den „Side-events“ und in den Stellungnahmen rund um den New Yorker Gipfel auch wiederum das Silodenken und die thematische Nabelschauen. Das Gesundheitsziel selbst (Ziel 3, „Ensure healthy lives and promote well-being for all at all ages“) mit seinen 13 Unterzielen kommt als willkürlicher Katalog von Themen und Partikularanliegen daher: unstrukturiert, uninspiriert, inkohärent und somit konturlos und unbefriedigend.

Mutlosigkeit und alte Rezepte

Aufs Ganze betrachtet enthält die neue Weltentwicklungsagenda zu viele schwammige und unrealistische Ziele, lässt den Ländern zu grosse Freiheit in ihrer Umsetzung, und im „Kleingedruckten“ (Mittel der Umsetzung) bleibt ein ungelöster Widerspruch zwischen dem „Was“ und dem „Wie“ der Entwicklungsagenda: Es gilt schliesslich vor allem „more of the same...: ökonomisches Wachstum, privatwirtschaftliche Investitionen und „Partnerschaften“ werden als wichtigste Entwicklungsmotoren dargestellt. Einstein würde wohl die Stirn runzeln und einmal mehr festhalten, dass man Probleme niemals mit derselben Denkweise lösen kann, durch die sie entstanden sind...

Die Mutlosigkeit und alten Rezepte zeigen sich etwa bei der Entwicklungsfinanzierung: Hier übernimmt die „Agenda 2030“ die unbefriedigenden Resultate des Enwicklungsfinanzierungsgipfels von Addis Abeba im Juli 2015: Ablehnung eines globalen Mechanismus für Massnahmen im Steuerbereich (intergovernmental tax body), Verwässerung früherer Positionen und Instrumente zum Schuldendienst (Fit for Whose Purpose? Barbara Adams and Gretchen. Global Policy Watch, Juli 2015). Woher also sollen die finanzschwachen Länder bloss das Geld für die Umsetzung der ambitiösen Entwicklungsagenda nehmen?

Es stellt sich grundsätzlich die Frage, welches Gewicht eine „zahnlose“ Weltverfassung gegenüber den realpolitischen Entwicklungen und Kräften hat: Ich beziehe mich etwa auf die Verabschiedung neuer regionaler Handelsabkommen oder den jüngsten Siegen konservativer und nationalistischer Parteien in den Parlamentswahlen in verschiedenen Europäischen Ländern, darunter auch der Schweiz.

Thomas Schwarz bei seinem Referat am MMS Symposium (Foto: Christoph Engeli / MMS)

 

Noch ist das letzte Wort zur „Agenda 2030“ aber nicht gesprochen. Einerseits müssen Umsetzung und Rechenschaftsmechanismen der neuen Weltentwicklungsagenda zunächst noch fertig ausgehandelt werden – die „Interagency and Expert Group on SDG Indicators” IAEG-SDGs liefert ihre Arbeit vermutlich erst im Frühling 2016 ab. Anderseits ist zu hoffen, dass das von der UNO zur kontinuierlichen Überwachung und Steuerung der Umsetzung der Entwicklungsagenda eingesetzte „High-level Political Forum“ HLPF seine Aufgabe dynamisch wahrnimmt und neue Impulse setzt, und schliesslich gibt es einzelne Staaten, die ganz explizit eine Führerschaft für die konsequente und umfassende Umsetzung der Entwicklungsagenda beanspruchen. So hat etwa Schweden nicht nur eine „High-Level Group“ von Staatsoberhäuptern zur Umsetzung der Entwicklungsagenda einberufen, sondern die Nachhaltigkeitsziele auch als Benchmark für die Arbeit und Politikkohärenz aller Ministerien (und nicht nur ihres Entwicklungsdienstes) erklärt.

Was bleibt zu tun?

Meine Schlussbemerkungen bleiben für den Moment etwas ratlos. Gilt das, was mein Kollege Thomas Gebauer kürzlich festgehalten hat? Er schrieb: „Die neue Entwicklungsagenda droht als Blendwerk zu enden, als Flickschusterei, die das herrschende Weltwirtschaftssystem allenfalls ein bisschen weniger zerstörerisch und gewalttätig aussehen lässt“ (Thomas Gebauer, Widersprüche in der Entwicklungsagenda, Frankfurter Rundschau). Oder sollen wir eher dem nüchternen Optimismus eines William Easterly folgen, der die SDGs zwar als missglückt wertet, aber gleichzeitig festhält, das die Umsetzung bahnbrechender Ideen sowieso nicht „geplant“ werden kann, sondern dass sie dann passiert, wenn es Zeit ist? (William Easterly, The Trouble with the Sustainable Development Goals)

Falls dies so ist, und bis es soweit ist, schlage ich in Zeiten der Agenda 2030 folgende einfache Verhaltensregeln vor: Kühlen Kopf bewahren. Der Verblendung widerstehen. Rechenschaft einfordern. Nicht resignieren. An unserem jeweiligen Ort weiterhin auf grundlegende Veränderung hinarbeiten.

 

References

  1. Einen Überblick über die Thematik bietet die MMI-Themenseite “Health in the UN 2030 Agenda for Sustainable Development”: www.bit.ly/mmi-beyond2015guide
  2. Freie Umsetzung des Beitrags zum MMS-Symposium „Geforderte Schweiz: Gesundheit für alle in einer sich verändernden Welt.“ Vom 28. Oktober 2015 in Basel. Die im Vortrag verwendeten Powerpoint-Folien finden sich hier: http://www.medicusmundi.ch/de/tagungen/geforderte-schweiz-gesundheit-fuer-alle-in-einer-sich-veraendernden-welt/more-information/praesentationen/thomas-schwarz/at_download/file
  3. The post-2015 development agenda: What good is it for health equity (Beyond 2015 Positionspapier, Dezember 2012): publiziert auf www.bit.ly/mmi-beyond2015call

  4. Englischsprachige UNO-Website: https://sustainabledevelopment.un.org/post2015/transformingourworld 
    Deutscher Text: http://www.un.org/depts/german/gv-69/band3/ar69315.pdf
  5. Interview mit Thomas Schwarz in: Eine Welt 3/2015, DEZA, September 2015 https://www.eda.admin.ch/deza/de/home/publikationen_undservice/publikationen/publikationsreihen/eine_welt.html/content/publikationen/de/deza/eine-welt/eine-welt-3-2015
  6. Fit for Whose Purpose? Barbara Adams and Gretchen. Global Policy Watch, Juli 2015 https://www.globalpolicywatch.org/blog/2015/07/27/fit-for-whose-purpose/
  7. Thomas Gebauer, Widersprüche in der Entwicklungsagenda, in: Frankfurter Rundschau online, http://www.fr-online.de/gastwirtschaft/gastwirtschaft-widersprueche-in-der-entwicklungsagenda-,29552916,31805826.html
  8. William Easterly, The Trouble with the Sustainable Development Goals, http://www.currenthistory.com/Easterly_CurrentHistory.pdf

Thomas Schwarz
Thomas Schwarz, Geschäftsführer von Medicus Mundi International - Netzwerk Gesundheit für Alle
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