De Martin Leschhorn Strebel
Im November hat zum vierten Mal die People’s Health Assembly (PHA) in Dhaka stattgefunden. Rund 1‘000 Gesundheitsaktivistinnen und –aktivisten haben verschiedene globale Gesundheitstrends analysiert und diskutiert. Von den unterdessen unzähligen globalen Gesundheitskonferenzen unterscheidet sich die PHA durch eine radikal basisnahe Perspektive.
Vierzig Jahre Alma-Ata-Deklaration bringen es mit sich, dass das Konzept einer umfassenden Basisgesundheitsversorgung als zentrales Element jedes Gesundheitssystems in diesem Jahr verstärkt verhandelt wird. Ich spreche hier technisch von einem Konzept, was vergessen lässt, dass die Basisgesundheitsversorgung von seiner Entwicklung vor und nach der Konferenz von Alma-Ata immer mehr war als nur ein papierenes Konstrukt: Es war immer auch eine von Menschen und Gemeinschaften getragene Bewegung. Dies zeigte sich auch an der diesjährigen People’s Health Assembly, die im vergangenen November in Dhaka, Bangladesch, stattgefunden hat.
Es war die vierte Ausgabe der People’s Health Assembly (PHA) seit 2000. Es handelt sich dabei nicht einfach um eine weitere Konferenz, im wachsenden Angebot an Konferenzen zur globalen Gesundheit. Zwar verhandelt die PHA immer Themen, die auch auf der globalen Agenda stehen, doch geschieht dies in der Regel durch eine stark basisnahe Perspektive und mit einer durchaus auch offen zelebrierten Radikalität.
Über 1‘000 TeilnehmerInnen aller Kontinente waren präsent, mit einem sichtbaren Schwerpunkt aus südostasiatischen Ländern. Die PHA-Kultur wird verständlicher, wenn man sich die vertretenen Milieus vor Augen führt. Auffallend viele Krankenpflegerinnen und Hebammen waren präsent, die sich oft auf Gemeindeebene engagieren. Dann waren einige Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter anwesend, die die Angestellten im Gesundheitssektor vertreten. Da waren GesundheitsaktivistInnen, die sich in spezifischen Kampagnen engagieren, wie etwa dem Kampf gegen Tabak. Dazu zählte etwa ein Vertreter des People’s Health Movements im Senegal, die sich für Regulierungen gegen den Tabakkonsum engagieren. Oder die MEZIS aus Deutschland – einem ÄrztInnennetzwerk, das sich gegen die Einflussnahme der Pharma auf ihren Beruf wehrt (MEZIS steht für „Mein Essen zahle ich selbst“). Vor Ort waren auch VertreterInnen von NGOs, die in der internationalen Gesundheitszusammenarbeit tätig sind. Präsent waren auch MenschenrechtsanwältInnen, die für das Recht auf Gesundheit bis vor Gericht ziehen. Und nicht zu vergessen die AktivistInnen aus Griechenland, die im von Wirtschaftskrise und Austeritätsprogammen gebeutelten Land Solidaritätskliniken und Suppenküchen errichtet haben.
Diese Vielfalt zeichnet die PHA aus, und sie versprüht auch den Geist der Weltsozialforen. Hinter der PHA steht das People’s Health Movement (PHM). Dabei handelt es sich um eine lose Struktur von Einzelpersonen und affiliierten Organisationen – unter anderem Medicus Mundi International. International ist diese Struktur je nach Weltregion unterschiedlich stark. In einzelnen Ländern – etwa in Bangladesch, Indien und einzelnen afrikanischen Staaten – gibt es jeweils nationale PHM-Vereinigungen. Inwieweit diese Struktur zukunftsfähig ist, wird sich zeigen müssen. Einzelne Beobachter bemängelten, dass seit Jahren die gleichen Einzelpersonen PHM International prägten und diese es bislang nicht geschafft hätten, eine zweite Generation einzubinden. Es bleibt abzuwarten, ob in den nächsten fünf Jahren eine nächste PHA stattfinden wird – sollte der Anlass tatsächlich stranden, ginge ein wichtiger Ort der Begegnung und der Reflexion für GesundheitsaktivistInnen weltweit verloren.
Die PHA in Dhaka fand in einem Land statt, das durchaus beispielhaft für Entwicklungen in der globalen Gesundheit steht. Bangladesch gehört zu denjenigen Ländern, die in den letzten Jahren eine starke Wirtschaftsentwicklung erfahren haben. Dahinter steht insbesondere die Rolle des Landes als globale Manufaktur von Kleidern, welche die weltweite Nachfrage nach kurzlebigen, ultra-günstigen Kleidungsstücken befriedigen soll. Mit jährlichen Wachstumsraten von 5-6% während den letzten zehn Jahren gilt das Land seit 2015 nicht mehr als Entwicklungsland, sondern als ein Land mittleren Einkommens. Viele Menschen sind dadurch aus der Armut gekommen. (Asian Development Bank, 2015, p. 81) Heute befinden sich noch rund 30% unter der Armutsgrenze. (Asian Development Bank, 2015, p. 78) Doch ist die Ungleichheit zwischen den verschiedenen Landesteilen wie auch innerhalb der Gesellschaft weiterhin sehr ausgeprägt.
Ende Dezember 2018 finden Wahlen statt. Die regierende Awami-Liga wird von der Bangladesh Nationalist Party und ihrem Parteienbündnis herausgefordert. Formal ist Bangladesch eine parlamentarische Demokratie. Die Menschenrechtssituation ist schlecht, wie verschiedene willkürliche Verhaftungen und die Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit zeigen.
Wie politisch fragil die Situation ist, erlebten wir auch an der PHA. Am Vorabend vor der Versammlung war die Aufregung gross. Mails der OrganisatorInnen liessen befürchten, dass die Versammlung nicht stattfinden könne. Der zur Verfügung gestellte Campus war kurzfristig von der Universität abgesagt worden. Klar war einzig, dass die Eröffnung sicher um einen Tag verschoben werden musste.
Einige der TeilnehmerInnen fanden den Weg nicht an die PHA. Oder besser: Ihnen wurde der Weg zu ihr versperrt. Diejenigen, die eigentlich darauf zählen konnten, am Flughafen in Dhaka ein sogenanntes "Visum on Demand" zu erhalten, wurden von den Immigrationsbehörden abgewiesen. Mehr Glück hatten diejenigen, die aus afrikanischen Ländern oder dem mittleren Osten mit Visa angereist kamen. Aber auch sie wurden teilweise über Stunden, eine Person ganze 22 Stunden, durch die Polizei aufgehalten, bis sie endlich einreisen konnten.
Schwierige oder verhinderte Einreisen, Absage des ursprünglichen Veranstaltungsortes durch die Universität: Was stand hinter diesen Ereignissen im unmittelbarem Vorfeld der PHA? Zwei Antworten wurden an der PHA kolportiert, die wohl beide in Kombination zueinander stehen. Erstens war die Sicherheitslage in diesen Tagen im Zusammenhang mit dem laufenden Wahlkampf angespannt. Dieser war zwar bislang für bengalische Verhältnisse recht friedlich verlaufen. Kurz vor dem Beginn der PHA kam es allerdings zu Unruhen zwischen den Anhängern der Opposition, der Polizei und Anahängern der Regierungspartei. Dabei gab es auch Todesopfer. Die Sicherheitslage war entsprechend angespannt. Zweitens hat ein führender Vertreter des People’s Health Movements Bangladesh kurz vor Beginn der Versammlung öffentlich kritische Aussagen zur Regierungspolitik gewagt. Der an der Universität, an der die PHA hätte stattfinden sollen, lehrende Professor musste sich anschliessend im Fernsehen für diese Aussagen entschuldigen, um die Wogen wieder zu glätten. Diese Ereignisse vor der eigentlichen Versammlung liessen die Stimmung im Land und die politischen Schwierigkeiten für die Menschenrechte und für das Recht auf Gesundheit kurz aufblitzen.
Die wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahre, die durchaus positiven Entwicklungen in einigen gesellschaftlichen Bereichen, aber auch die zunehmende Ungleichheit wie auch die politische Situation wirken sich auf die gesundheitliche Situation im Land aus. Der Ökonom Hossain Zillur Rahman zeigte in seinem Eingangsreferat zwei unterschiedliche Listen, die dies auf den Punkt bringen. Die eine Liste nannte er Indicators of Hope, die andere Statistics of Despair.
Indicators of Hope
Statistics of Despair
Ich habe diese Liste in einer Gesprächsrunde mit Angestellten des Health Community Development Programms am Lambspital in Parbatipur diskutiert. Sie entsprechen durchaus ihren Erfahrungen und den Zahlen, auf die sie aufgrund eigener Erhebungen in ihrem Programmgebiet im Nordwesten verweisen können. Da ihr Distrikt als einer der ärmsten gilt, sind ihre Zahlen in einigen Bereichen noch ausgeprägter.
Mit diesem Scheinwerfer auf die Situation in Bangladesch treten bereits zentrale Themen der People’s Health Assembly 2018 ans Licht: Ungleichheit und Ungerechtigkeit, soziale und ökologische Determinanten, Universal Health Coverage und umfassende Basisgesundheitsversorgung (Primary Health Care) als zentrale Treiber der Gesundheit.
Und da war natürlich noch ein weiteres Thema präsent, das in den regionalen Kontext gehört und Bangladesch zurzeit beschäftigt: Die Vertreibung der Rohingya aus Myanmar und die an dem mehrheitlich muslimischen Volk begangenen Verbrechen. Dazu sprach eindringlich die bengalische Menschenrechtsanwältin Shireen Huq: Sie habe aufgrund der begangenen Vergewaltigungen vaginale Verletzungen gesehen, wie letztmals nur während des Befreiungskampfes der Bengalen gegen die pakistanische Armee 1971. Die gesundheitlichen Folgen von Krieg und Gewalt, Stigmatisierung und Diskriminierung aufgrund eines um sich greifenden Nationalismus waren ein weiteres und sehr beelendendes Thema, das die Tage während der Versammlung begleitete.
All diese Themenbereiche wurden in verschiedenen Haupt- und Nebenplenen sowie im Rahmen von Workshops an konkreten, meist politischen Herausforderungen vertieft diskutiert.
Dass Freihandelsabkommen gesundheitlich negative Folgen haben können, ist weitgehend bekannt. Märkte werden für ungesunde Produkte wie Tabak und verarbeitete Lebensmittel geöffnet. Regierungen aus Ländern mit einer starken Pharmaindustrie wie der Schweiz fordern jeweils konsequent, dass der Patentschutz erweitert und damit der Zugang zu bezahlbaren Medikamenten erschwert wird. Vergessen wird dabei gerne, dass mit den Freihandelsabkommen auch versucht wird, die Regulierungsmacht der beteiligten Regierungen einzuschränken. Regulierungen, die für den gesundheitlichen Schutz der Bevölkerungen durchaus sinnvoll sein können. Dies wird häufig mit einer Klausel versehen, welche es Firmen ermöglicht, eine Regierung vor einem aussenstehenden Gericht zu verklagen (Investor-state dispute settlement, ISDS). Dabei geht es teilweise um extrem hohe Forderungen, die auf dem Verlust von in der Zukunft zu erwartenden Gewinnen basieren.
Klar werden in dieser Art gestaltete Freihandelsabkommen an der People’s Health Assembly als neoliberale Globalisierungsmachenschaften gebrandmarkt. Die berechtigte Frage ist aber in der Tat, wie muss Handel gestaltet werden, damit er auch breit abgestützte Entwicklung fördern kann, ohne dass die Gesundheit und die planetarischen Lebensgrundlagen gefährdet werden. Allen in Dhaka war auch klar, dass die Freihandelsabkommen heute von einer ganz anderen Seite, nämlich durch zunehmend sich nationalistischer gebärdende Regierungen in Frage gestellt werden.
Am PHA war auffällig viel Gesundheitspersonal vertreten, was sich auch entsprechend in den Debatten äusserte. So berichtete eine südafrikanische Pflegefachfrau von der Gewalt, welchen Community Health Workers in Townships ausgesetzt sind. Ein Gewerkschafter aus Guinea forderte von internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen, dass sie nicht nur mit den Regierungen und lokalen Partnerorganisationen, sondern auch mit den Gewerkschaften in den Ländern sprechen sollten, in welchen sie aktiv seien.
Verschiedentlich wurde festgestellt, dass Privatisierungen im Gesundheitssektor um sich greifen.. Von der Diskussionsgruppe im Lamb-Hospital wollte ich wissen, wie diesbezüglich die Situation in Bangladesch sei. Das sei in der Tat ein grosses und vielschichtiges Problem, das sich vor allem im städtischen Umfeld zeigt. Von den staatlichen Einrichtungen aus würden PatientInnen sehr offensiv, teilweise durch Agenten in den öffentlichen Spitälern, aber auch durch privat praktizierende ÄrztInnen auf private Einrichtungen verwiesen – mit hohen Kostenfolgen für die PatientInnen.
Doch es geht nicht nur um die Kostenfolgen, sondern auch um die gesundheitlichen Konsequenzen. In direkten Zusammenhang mit den Privatisierungen steht die sehr hohe Kaiserschnittrate von rund 30% in Bangladesch, wie Stacy Saha, Forschungsleiterin am Lamb-Hospital ausführt. Es gebe Privatspitäler, die über gar keinen Gebärsaal verfügten, sondern die gebärenden Frauen prinzipiell unters Messer legen würden. Lamb kämpft dagegen an, in ihrem Spital liegt die Rate denn auch mit 16% deutlich tiefer als im nationalen Schnitt.