De Florine Salzgeber et Anne Dominique Glaus
Die Situation in Bolivien in Bezug auf Gewalt gegen Frauen ist bereits in einer "normalen" Situation ernst. 58,5% der bolivianischen Frauen geben an, in ihrem Leben körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch einen Partner erlitten zu haben und 92.7% der Frauen haben psychische Gewalt erlebt (Bott, S. et al., 2019; UNO, 2018). Zudem ist die Feminizidrate in Bolivien die höchste der Länder Südamerikas (Coordinadora de la Mujer, 2019: 7). Durch die Pandemie und deren Folgen haben die Gewalt und auch die psychische Belastung zugenommen. Der Artikel beschreibt die Situation in Bolivien und stellt die Initiative TeEscucho vor, die Opfern von Gewalt und Menschen mit psychischen Problemen psychologische Unterstützung bietet.
Durch die Ankunft von Covid-19 wurden die Menschen gezwungen, zu Hause zu bleiben - der sicherste Ort, um sich vor dem Virus zu schützen. Wurde das Haus während der totalen Quarantäne unerlaubt verlassen, drohte eine Strafe von Arrest und einer hohen Geldbusse (Erbol, 2020). Einkäufe waren nur an einem Tag pro Woche erlaubt und die Schulen in den städtischen Gebieten wurden von Beginn der Pandemie bis heute geschlossen. Die strikten Massnahmen waren für viele Menschen eine ökonomische Katastrophe: In Bolivien arbeiten fast 85% der Menschen im informellen Sektor und verfügen über keine geregelte Arbeit (Noticias Fides, 2021). Sie verdienen ihren Lebensunterhalt beispielsweise als StrassenverkäuferInnen und hatten für die Zeit der Quarantäne keine finanziellen Rücklagen. Staatliche finanzielle Unterstützung und Lebensmittelhilfen wurden nur punktuell geleistet.
Diese Notlage löste Existenzängste aus und schürte in vielen Familien die Konflikte. Das plötzliche Eingeschlossensein der gesamten und oft erweiterten Familie in beengten Wohnverhältnissen trug ebenfalls zu den Konflikten bei. Das Risiko für Eskalationen und Gewaltsituationen stieg. Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, hatten kaum noch Aussenkontakte und waren isoliert. Es wurden von staatlichen Opferhilfeinstitutionen und von der Polizei zwar Nottelefone eingerichtet, diese waren jedoch schlecht erreichbar und schnell überlastet. Dies führte dazu, dass die Anzeigen aufgrund von Partnerschaftsgewalt während der strikten Pandemie gar zurückgingen (Ministerio público, 2020). Mit den Lockerungen der Quarantäne, stiegen sie jedoch an, da man das Haus wieder verlassen durfte und es einfacher war, eine Anzeige zu machen. Es muss somit von einer hohen Dunkelziffer und gar einer Zunahme der Gewalttaten während der Pandemie ausgegangen werden (Mendoza Revollo, 2020).
Der Staat versäumte es, in dieser Situation auf Prävention, Sanktion, Thematisierung der Geschlechterrollen («Gender») und auf die Bedürfnisse der Frauen zu fokussieren (Mendoza Revollo, 2020). Damit habe sich die Ungleichheit der Geschlechterrollen sogar verstärkt. So wurde das annehmlich sichere Zuhause zu einem gefährlichen Ort, an dem viele Frauen und Kinder nicht vor ihren Angreifern fliehen konnten.
Es gibt in Bolivien keine offiziellen Statistiken zur psychischen Gesundheit der Bevölkerung. Qualitative Untersuchungen wie von Jansen Estermann (2014) zeigen jedoch auf, dass die strukturelle Gewalt in Bolivien, wie die extreme Armut, die Diskriminierung und die ständige latente Todesdrohung aufgrund der vielen Risikosituationen die psychische Gesundheit der Menschen stark belastet. Der tagtägliche Kampf ums Überleben, die Frustrationen und Erniedrigungen lösen einen ständigen Druck auf die betroffenen Personen aus und erhöhen deren Verletzlichkeit. Gleichzeitig lassen diese Umstände kaum zu, dass sich die Menschen der Belastung gewahr werden. Oft werden psychische Probleme somatisiert oder möglichst ignoriert, bis sie von einem auslösenden traumatischen Ereignis oder einer Stresssituation an die Oberfläche geholt werden und das tägliche Funktionieren nicht mehr möglich ist. Das Klima der strukturellen Gewalt beeinflusst auch die Gewalt im privaten Bereich, welche bei vielen Frauen wiederholte Traumatisierungen zur Folge hat (Jansen Estermann, 2014). Auch sind Frauen von der strukturellen Gewalt und deren Konsequenzen überproportional stark betroffen - einerseits, da sie speziell als alleinerziehende Mütter öfter armutsbetroffen sind und andererseits, da sich die verschiedenen Diskriminierungen intersektional kumulieren, zum Beispiel bei armen indigenen Frauen.
Das Klima der strukturellen Gewalt beeinflusst auch die Gewalt im privaten Bereich, welche bei vielen Frauen wiederholte Traumatisierungen zur Folge hat.
Während der Pandemie trugen zudem die Angst vor dem Virus selbst, die strikten Massnahmen, die damit verbundene häufigere und heftigere Gewalt wie auch die vielen Todesfälle zu einer Zunahme der psychischen Belastung der Bevölkerung bei, beispielsweise zu mehr Depression oder Angstzuständen, wobei Frauen doppelt so häufig wie Männer von Depression betroffen sind (García, 2020; Noticias Fides, 2020). Auch nahmen Suizide oder Suizidversuche aufgrund der Angst vor der Krankheit und wenig verlässlicher Information zu (Chuquimia, 2021).
In Bolivien wird der mentalen Gesundheit bis heute leider nicht die nötige Beachtung geschenkt. Es fehlt an psychologisch und psychiatrisch geschulten Fachkräften und spezialisierten Einrichtungen (WHO, 2008). Psychologische Beratung in Anspruch zu nehmen, ist in Bolivien zudem stark stigmatisiert. Die meisten Menschen ziehen es vor, psychische Belastungen von einem/r traditionellen Heiler/in behandeln zu lassen (Jansen Estermann, 2014).
Aufgrund der Pandemiesituation begannen verschiedene NGOs wie auch staatliche Organisationen telefonische Beratung anzubieten. Ein Projekt, welches insbesondere Opfern von Gewalt und Menschen mit psychischen Problemen Unterstützung bietet, ist «TeEscucho».
In Bolivien wird der mentalen Gesundheit bis heute leider nicht die nötige Beachtung geschenkt. Es fehlt an psychologisch und psychiatrisch geschulten Fachkräften und spezialisierten Einrichtungen. Psychologische Beratung in Anspruch zu nehmen, ist in Bolivien zudem stark stigmatisiert. Die meisten Menschen ziehen es vor, psychische Belastungen von einem/r traditionellen Heiler/in behandeln zu lassen
TeEscucho ist ein kostenloses psychologisches Beratungstelefon, welches von den beiden NGOs Comundo und Infante ins Leben gerufen wurde. Knapp hundert PsychologInnen engagieren sich freiwillig bei TeEscucho, so kann an 24h pro Tag das ganze Jahr über ein/e Psycholog/in erreicht werden. TeEscucho bietet Kriseninterventionen an und wenn eine weiterführende Psychotherapie/Begleitung nötig ist, wird die Person an andere Stellen weitergeleitet. Durch die einfache und ständige Erreichbarkeit und die mögliche Anonymität soll die Schwelle herabgesetzt werden, eine psychologische Beratung in Anspruch zu nehmen. Dies scheint zu funktionieren: in den ersten drei Monaten nach Start des Projektes im September 2020 konnten 300 Beratungen abgeschlossen werden.
73% der Anrufenden sind Frauen. Als Grund für den Anruf geben über die Hälfte an, dass sie aufgrund von Angstzuständen im Zusammenhang mit dem Corona-Virus Unterstützung suchen. Die allermeisten dieser Frauen haben Gewalt in ihrer Kindheit oder später in Partnerschaftsbeziehungen erlebt, ein grosser Teil befindet sich auch aktuell noch in einer Gewaltsituation. Es scheint, dass viele durch die erlebte Gewalt traumatisiert wurden und auch schon vor der Pandemie an verschiedenen Symptomen litten, ihr Leben konnten sie jedoch trotz Einschränkungen meistern. Die Pandemiesituation und die (Todes)ängste vor dem Virus haben das Fass zum Überlaufen gebracht und die Paniksymptome haben das Funktionieren im Alltag stark erschwert bis verunmöglicht.
Ein Fall, der die häufigen und komplexen Multiproblemsituationen in Bolivien aufzeigt, ist die Situation von Teresa (33, Name geändert): Sie wandte sich an TeEscucho, weil ihr 2-jähriges Kind unerwartet gestorben war. Teresa war in tiefer Trauer und schaffte es kaum mehr, sich um ihre anderen beiden Kinder zu kümmern. In der dritten Sitzung erzählte sie, dass zudem ihre 5-jährige Tochter von den beiden 12-jährigen Cousins sexuelle Übergriffe erlebt hatte. Dies war für sie zutiefst verstörend und erinnerte sie an die sexuelle Gewalt, die sie in der Kindheit durch ihren Vater erlebt hatte. Die Beziehung zu ihrem Ehemann war sehr schwierig, die Grosseltern übten jedoch Druck aus, um eine Trennung zu verhindern. Teresa war sehr froh, sich in den Beratungsgesprächen anvertrauen und ihre Gefühle ausdrücken zu können. Sie konnte nach einiger Zeit eine Arbeit als Verkäuferin annehmen und tauschte damit die Rollen im Haushalt mit ihrem Mann – nun war sie die Verdienerin und er kümmerte sich vermehrt um die Kinder. Die neue Rolle verlieh ihr Auftrieb und neues Selbstvertrauen. Teresa selbst wollte aufgrund ihrer nun sehr knappen zeitlichen Ressourcen keine weiterführende Therapie in Anspruch nehmen, für ihre Tochter jedoch konnte im Anschluss eine Begleitung durch eine spezialisierte NGO organisiert werden.
Für viele AnruferInnen ist der Kontakt mit TeEscucho der erste Kontakt mit einem/r PsychologIn. Wenn diese erste Erfahrung als hilfreich erlebt wird, kann sie dazu beitragen, die Schwelle für das Aufsuchen einer nächsten psychologischen Beratung herabzusetzen. Manche AnruferInnen befürchten aufgrund ihrer psychischen Symptome, den Verstand zu verlieren. In diesen Fällen kann mit Psychoedukation zur Beruhigung der Person und zur Destigmatisierung der psychischen Krankheiten beigetragen werden. TeEscucho zeigt den Bedarf an psychologischer Unterstützung auf und weist damit auf die Wichtigkeit der psychischen Gesundheit hin.
Staatliche Institutionen haben den Mangel der Versorgung der psychischen Gesundheit realisiert und Massnahmen zum Ausbau angekündigt. Es wäre zudem anzustreben, dass Initiativen der Zivilgesellschaft und NGOs von staatlichen Stellen übernommen werden. Im Falle von TeEscucho konnte eine Kollaboration mit dem departementalen Gesundheitsdienst Cochabamba erreicht werden.
Auch im Bereich der Gewalt gegen Frauen tut sich einiges: Dank dem grossen Einsatz feministischer Bewegungen in den letzten Jahren verfügt Bolivien über eine umfassende Gesetzgebung bezüglich der geschlechtsspezifischen Gewalt. Die Implementierung der Gesetze wird jedoch von verschiedenen Faktoren gehindert: Auch Polizei und Staatsangestellte vertreten patriarchale Vorstellungen und verharmlosen die Gewalt, es herrschen Korruption und Straflosigkeit vor und es steht nicht das vorgesehene und nötige Budget für die Strafverfolgung, die Prävention und die Unterstützung der Opfer zur Verfügung.
Es bestehen zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen, aktive Frauenbewegungen und auch ein wachsendes Engagement staatlicher Institutionen, um diese Probleme anzugehen. Partnerorganisationen von Comundo engagieren sich beispielsweise zu Themen wie Männlichkeitsvorstellungen, zur Verantwortungsteilung im Haushalt und emotionaler Intelligenz und setzen interkulturelle Ansätze ein, um die patriarchalen Denkmuster in der Gesellschaft zu bekämpfen. Das Thema der Gewalt gegen Frauen ist in der Gesellschaft angekommen, was Hoffnung bringt.
Wir bedanken uns herzlich bei den Fachpersonen und Partnerorganisationen von Comundo, welche beim Artikel mitgewirkt haben.