De Charlotte Briner
Geschätzte zwei bis drei Millionen Frauen weltweit leben mit einer Fistel. Täglich kommen um die 160 neue Fälle dazu. Nur ein Viertel davon wird in einer Gesundheitseinrichtung behandelt. Betroffen sind vor allem junge Frauen in ländlichen Gebieten Asiens und Afrikas südlich der Sahara, wo die geburtshilfliche Versorgung mangelhaft ist (WHO 2018). Nebst den physischen Folgen hat eine unbehandelte Fistel schwerwiegende psychische und soziale Auswirkungen. Meist leben die Frauen isoliert und in grösster Armut. Eine Operation kann die physische Verletzung heilen. Doch der Weg zurück in die Gesellschaft hat damit erst begonnen.
Eine Fistel ist eine Verletzung, die bei einem stark verzögerten Geburtsverlauf ohne angemessene fachliche Betreuung entstehen kann. Es bildet sich dabei ein Loch zwischen Blase und Vagina oder seltener zwischen Blase und Rektum. Unbehandelt leidet die Frau fortan unter Harn- und/oder Stuhlinkontinenz, begleitet von schmerzhaften Wunden und Hautirritationen im Genitalbereich. Gerade in ländlichen Gebieten, wo Wasser ein kostbares Gut ist und Hygieneartikel kaum vorhanden sind, ist dies eine Katastrophe.
Eine schwere, unbegleitete Geburt, die sich über Tage hinzieht, bedeutet ausserdem meist, dass das Kind bei der Geburt stirbt. Auch die gebärenden Frauen selbst entkommen dabei nicht immer dem Tod. Jeden Tag sterben weltweit über 800 Frauen an Komplikationen während der Geburt und Schwangerschaft. (Aufgrund der geringen Sichtbarkeit und des geringen Bewusstseins, das mit dieser Beeinträchtigung verbunden ist, ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Nur eine halbe Million von Fällen ist via Gesundheitseinrichtungen erfasst - WHO 2018). Frauen mit einer Fistel haben also in mehrfacher Weise traumatische Ereignisse überlebt.
Viele Fistelüberlebende werden in der Folge aber nicht umsorgt von ihrem Umfeld, sondern stigmatisiert und geächtet. Die physische Beeinträchtigung wird als Strafe Gottes oder als böser Fluch angesehen. Gesellschaftliche Erwartungen an Frauen – wie das Gebären von Nachkommen, das Kümmern um Partner und Haushalt, sexuelle Attraktivität – können Fistelüberlebende nicht mehr im herkömmlichen Sinne erfüllen. Ausserdem sind sie meist nicht in der Lage, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Entsprechend sind sie angewiesen auf die Hilfe Dritter. Die Auswirkungen für die psychische Gesundheit der Frauen sind enorm. Ein tiefer Selbstwert und Scham, posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen sind weit verbreitet unter Fistelüberlebenden. Je nach Studie leiden bis zu 91% der Frauen an Depressionen. Manche Frauen reduzieren zudem ihre Nahrungszufuhr, um mehr Kontrolle über ihre Inkontinenz zu erlangen (Bashah 2018, Belayihun 2019, Tsegaw 2018, Watt 2020).
"Gesellschaftliche Erwartungen an Frauen – wie das Gebären von Nachkommen, das Kümmern um Partner und Haushalt, sexuelle Attraktivität – können Fistelüberlebende nicht mehr im herkömmlichen Sinne erfüllen."
Bis 2030 wollen die Vereinten Nationen im Rahmen der Ziele für nachhaltige Entwicklung das Auftreten neuer Geburtsfisteln vollständig eliminieren. Die Gründe für deren Entstehung sind an sich vermeidbar. Gefördert werden sie jedoch durch geschlechtsspezifische Ungleichheiten beziehungsweise einen geringen Stellenwert der Frau und ihrer Gesundheit. Gerade Kinderheiraten und daraus folgende Teenage-Schwangerschaften bergen ein hohes Risiko für geburtstraumatische Verletzungen. Ein weiterer Faktor ist das mangelhafte Angebot an hochwertigen medizinischen Dienstleistungen im Bereich der Müttergesundheit. Präventiv sind hier Angebote rund um die Familienplanung sowie der Zugang zu Vorsorgeuntersuchungen wichtig. Ebenso zentral ist aber auch, dass die Frauen und ihre Partner diese Angebote nutzen wollen, in nützlicher Frist erreichen und sich auch leisten können. Dafür ist es wichtig, das Vertrauen in die medizinischen Dienstleistungen zu stärken und Kenntnisse über die sexuelle und reproduktive Gesundheit zu vermitteln.
Im Sinne von «leaving no one behind» setzt sich Women’s Hope International (WHI) seit bald zwanzig Jahren für die Heilung und Reintegration von Frauen und Mädchen mit Fisteln ein. Dazu setzt WHI auf verschiedene Massnahmen; unter anderen den Ausbau von zugänglichen medizinischen Dienstleistungen, die Ausbildung von Fachpersonal, die Sensibilisierung der lokalen Bevölkerung, aktuell insbesondere bezüglich schädlicher Praktiken wie Kinderheirat, sowie auf den Einbezug von Behörden und lokalen Entscheidungsträgern in diese Interventionen. Ein Projekt von WHI, das sich auf die Reintegration von Frauen mit einer operierten Fistel konzentriert, wird im Folgenden vorgestellt.
"Gerade Kinderheiraten und daraus folgende Teenage-Schwangerschaften bergen ein hohes Risiko für geburtstraumatische Verletzungen. Ein weiterer Faktor ist das mangelhafte Angebot an hochwertigen medizinischen Dienstleistungen im Bereich der Müttergesundheit."
Eine Operation kann die Inkontinenz der Frau beenden (etwa 80% der Fistel-Operationen sind erfolgreich), doch eine Rückkehr ins «alte» Leben ist damit nicht garantiert. Gerade wenn Fistelüberlebende von Mann und Familie verlassen wurden und sich fortan als alleinstehende Frauen durchschlagen müssen, bleiben sie auch nach erfolgreicher Operation von existenzieller Armut betroffen (El Ayadi AM, et al. 2019). Genau an diesem Punkt setzt ein vierjähriges Projekt von WHI in Äthiopien an, das anfangs dieses Jahres startete. Ziel des Projekts ist, die Frauen so zu befähigen, dass sie erfolgreich ein neues Leben aufbauen können. Das Projekt findet in einem Rehabilitationszentrum des renommierten Spitals «Addis Abeba Fistula Hospital» statt, einige Kilometer ausserhalb der Hauptstadt. Die Frauen verbringen dort nach ihrer Operation etwa drei Monate zur Genesung.
Das Projekt von WHI unterstützt die Frauen durch Physiotherapie und psychosoziale Beratung sowie durch ein niederschwelliges Berufsbildungsprogramm. Ausgangspunkt des Programms ist eine eingehende Abklärung der wirtschaftlichen, familiären und psychischen Situation der Trainee. Gemeinsam mit ihr wird besprochen, wie sie nach ihrer Entlassung aus dem Rehabilitationszentrum ihr Leben gestalten kann. Je nach Möglichkeiten und Eignung wird eine der vier Ausbildungsmöglichkeiten gewählt: Gemüseanbau, Hühneraufzucht und -haltung, Lebensmittelverarbeitung und Töpferei. Die Frauen eignen sich die erforderlichen Kenntnisse durch «learning by doing» direkt auf dem grosszügigen Gelände des Zentrums an. Ebenso erhalten die Frauen – angepasst an den jeweiligen Bildungshintergrund – eine Einführung in grundlegende Unternehmens- und Finanzfertigkeiten.
Damit diese Anstrengungen auf fruchtbaren Boden fallen, bezieht das Projekt von Beginn an das soziale und wirtschaftliche Umfeld der Frauen mit ein. Das Projektteam kooperiert dafür mit lokalen Behörden und Unternehmen im heimatlichen Dorf. Dadurch sollen die strukturellen Bedingungen vor Ort für den Neustart optimiert werden. Ebenso werden Schlüsselpersonen wie Älteste oder religiöse Autoritäten sensibilisiert, damit sie sich für die Anliegen der Fistelüberlebenden einsetzen. Die Stigmatisierung von Menschen mit besonderen Bedürfnissen wird dadurch in der lokalen Bevölkerung abgebaut. Weiter werden Familienmitglieder kontaktiert und ermutigt, die ehemalige Fistelpatientin zu unterstützen. Das Programm ermöglicht zudem den Familienmitgliedern eigene traumatische Erfahrungen aufzuarbeiten, die während der Zeit entstanden sind, an der die Ehefrau/Mutter/Tochter an einer Fistel litt.
Nach dem Austritt aus dem Programm stehen die Frauen weiterhin mit dem Projektteam in Kontakt und werden während des ersten halben Jahres ein- bis zweimal vor Ort gecoacht. Die Frauen selbst bleiben nach dem Aufenthalt im Rehabilitationszentrum in Form von Tandems miteinander vernetzt, um sich gegenseitig zu unterstützen.
Grundsätzlich verstärkt die Corona-Pandemie die Bedingungen, die auch ohne Pandemien für das Auftreten von Fisteln und die Nicht-Behandlung von Fistelüberlebenden verantwortlich sind. Eine Meta-Studie vom März 2021 weist denn auch auf einen signifikanten Anstieg an Todesfällen von Müttern und Stillgeburten hin (Chmielewska 2021). Aufgrund fehlender Transportmöglichkeiten und zusätzlich belasteter Gesundheitssysteme sind noch mehr werdende Mütter dem Risiko einer Geburtsfistel ausgesetzt. Vorbehalte in der lokalen Bevölkerung können dazu führen, dass Gesundheitszentren weniger aufgesucht werden, um eine Ansteckung mit dem Virus zu verhindern. Durch die wegfallenden Möglichkeiten sich wirtschaftlich zu betätigen, haben weniger Frauen und ihre Partner Geld für medizinische Behandlungen. Ausserdem ist durch die Schliessung von Schulen und die Eindämmung des öffentlichen Lebens mit einer Zunahme von Kinderheiraten zu rechnen, die wiederum zu einer Erhöhung der Fälle von Geburtsfisteln führt (UN 2020). Und schliesslich ist auch die Umsetzung von Sensibilisierungsmassnahmen in der lokalen Bevölkerung eingeschränkt.
Für WHI gilt in Krisenzeiten wie der aktuellen umso mehr, dass niemand zurückgelassen werden darf. Zusammen mit unseren Partnerorganisationen vor Ort entwickeln wir alternative Wege, um die Frauen und Gemeinschaften zu erreichen und für die Mutter-Kind-Gesundheit zu sensibilisieren. Gesundheitseinrichtungen, die aufgrund wegfallender Einnahmen in finanzielle Engpässe geraten, werden unterstützt, beispielsweise durch die punktuelle Übernahme der Kosten für Medikamente.
Im Addis Abeba Fistula Hospital und im Rehabilitationszentrum selbst zeigen sich die Folgen der Pandemie hauptsächlich darin, dass weniger Patientinnen ins Spital überwiesen werden. Normalerweise kommen Fistelpatientinnen aus ganz Äthiopien. Aufgrund der Pandemie sind die Transportdienste zwischen den Regionen nun reduziert und die Kosten für Reisen angestiegen. Aktuell investiert das Spital auf eigene Kosten in den Transport von Fistelpatientinnen aus entfernteren Regionen. So können trotz der sich weiter ausbreitenden Corona-Pandemie viele betroffene Frauen operiert werden. Das ganzheitliche Angebot des Rehabilitationsprogramms ermöglicht ihnen, Perspektiven zu entwickeln und nach einer langen Leidenszeit wieder positiv in die Zukunft zu blicken.