De Wanda Mainka et Lorenz Schwarz
Seit 2010 ist das Recht auf Bildung für jedes Kind in der kenianischen Verfassung (art. 43.1) verankert. Großartig! Die Inklusion im Bildungsbereich konnte beginnen. Allerdings gab es nur wenige Programme der Regierung, die das fokussierten. Inklusion bedeutet vor allem auch echte Teilhabe von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft und der aktive Abbau von Stigmata und Vorurteilen. Was bedeutet das im Einzelnen für einen Mann mit psychischer Erkrankung und einen Jungen mit infantiler Zerebralparese im kenianischen Alltag?
In der überarbeiteten kenianischen Verfassung von 2010 sind Menschen mit Behinderung erstmals explizit erwähnt und ihnen ist ein Recht auf Bildung garantiert. In den folgenden Jahren gab es weitere Erlasse, die dieses Recht auf Bildung im inklusiven Setting für Kinder und Erwachsene spezifizierten (Elder, 2015). Aktuell gibt es verschiedene Modelle im Schulsektor für die Integration von Kindern mit Behinderung (KMB): spezielle Schulen für KMB oder spezielle Abteilungen für KMB in einer Regelschule. Dabei findet jedoch keine Inklusion statt, da Kinder mit und ohne Behinderung nur neben einander lernen und nicht miteinander (Adoyo/Odeny, 2015). Der Inklusions-Gedanke verstärkte sich in den letzten Jahren dank der Lobby-Arbeit von unterschiedlichsten Stakeholdern. Elder 2015 (p 20) benennt, dass lediglich 39% der KMB in Kenia auf eine Regelschule gehen. Nur 19% der KMB sind in der Sekundarstufe (Battle, 2020).
Special Education Professionals, eine kenianische NGO in Nairobi, hat sich die Verbesserung der Lebensqualität von Kindern mit Behinderung und ihren Familien zur Aufgabe gemacht. Dabei setzen sie vor allem auf einen multiprofessionellen Ansatz in der therapeutischen Begleitung und Unterstützung der Familien und geben gezielte Trainings für spezifische Gruppen. Das sind vorrangig die Eltern, aber auch die Lehrer*innen in allen Schulformen. In den Trainings werden die unterschiedlichsten Herausforderungen beleuchtet: von Störungen in der Nahrungsaufnahme über Feinmotoriktraining bis hin zu psychischen Herausforderungen. Die Inklusion von Kindern mit Behinderungen stellt nach wie vor eine große Schwierigkeit dar. Einerseits aufgrund von Stigmata, andererseits aufgrund mangelhafter Unterstützung durch die Regierung, wenn bspw. die Mutter ihr Kind pflegt und daher nicht arbeiten gehen kann.
"Elder 2015 (p 20) benennt, dass lediglich 39% der Kinder mit Behinderung (KMB) in Kenia auf eine Regelschule gehen. Nur 19% der KMB sind in der Sekundarstufe (Battle, 2020)."
Das KICD (Kenyan Institut of Curriculum Development) hat ein edukatives TV Programm für die zahlreichen Schüler auf die Beine gestellt, welche durch die pandemiebedingte Schulschließung Zuhause lernen mussten. Täglich gab es eine 30-minütige Sendung speziell für Kinder mit Behinderung, wo bspw. erklärt wurde, wie die Eltern ihren Kindern Schuhe-Zubinden beibringen können. Für die Konzeption und Durchführung wurde auch die NGO Special Education Professionals ins Boot geholt.
Direkte Unterstützung von der kenianischen Regierung hat Esther Wangui im Pandemie-Jahr 2020 nicht erhalten. Sie hat ihre Arbeit im informellen Sektor durch die Pandemie verloren, wie sehr viele Menschen.
Frau Wangui und ihre drei Kinder wohnen in sehr einfachen Verhältnissen. Ihr 10-jähriger Sohn Meshack mit infantiler Zerebralparese geht seit 2017 in eine Schule, wo er das einzige Kind mit Behinderung ist. Die Anfangszeit in der Schule beschreibt Frau Wangui als schwierig, da sie alle zwei Stunden in die Schule ging, um die Windeln von Meshack zu wechseln. Das übernimmt mittlerweile eine andere Person vor Ort. Außerdem wurde ihr Sohn anfangs von seinen Mitschüler*innen gemobbt. Dies hat sich verändert und Meshack geht mittlerweile sehr gern in die Schule, sagt er und seine Augen strahlen dabei. Er fühlt sich in der Schule wohl, wird von den Kindern respektiert, hat Freunde gefunden und die Lehrer*innen wissen wie sie mit ihm umgehen müssen. Frau Wangui ist dankbar, dass ihr Sohn dort zur Schule gehen kann. Seitdem ist er viel selbstständiger geworden und hat große Entwicklungsschritte gemacht, beschreibt sie.
Mitte März 2020 schlossen die kenianischen Schulen ihre Tore bis Januar 2021. Auch Meshack blieb in dieser Zeit Zuhause. Teilweise haben sie Aufgaben von den Lehrern bekommen, sagt Meshacks Mutter. An digitalen Unterricht ist im Allgemein in den Lebensverhältnissen der Familien - kein Computer, kein Geld für den Internetanschluss, häufige Stromausfälle - und der schlechten Ausstattung der Schule nicht zu denken (Battle, 2020). Frau Wangui berichtet, dass sie von der kenianischen Regierung in dieser Zeit keine Unterstützung erhalten hat. Lediglich von der lokalen NGO „Special Education Professionals“ kam telefonische Unterstützung zur Therapie von Meshack und auch in Form von Lebensmitteln.
"An digitalen Unterricht ist im Allgemein in den Lebensverhältnissen der Familien - kein Computer, kein Geld für den Internetanschluss, häufige Stromausfälle - und der schlechten Ausstattung der Schule nicht zu denken."
St. Martin CSA, eine Community-based Organisation aus Nyahururu, Kenia, setzt sich für die Bedürftigen und Marginalisierten der Gesellschaft ein. Dazu gehören verwaiste oder vernachlässigte Kinder, Opfer von häuslicher oder geschlechtsspezifischer Gewalt oder Personen mit psychischen oder Sucht-Problemen. Die Organisation arbeitet dabei eng mit der Gemeinschaft zusammen. Das Ziel ist immer die betroffenen Personen so weit wie möglich wieder in das Leben der Gemeinschaft zu reintegrieren. Dies braucht häufig zuerst eine Aufklärung und Sensibilisierung der Gemeinschaft, um falsche Vorstellungen zu korrigieren und Stigmata abzubauen.
Eines Tages informierte eine lokale freiwillige Mitarbeiterin aus dem kleine Dorf Ol Jabet St. Martin über einen Mann aus dieser Gemeinde mit einem schweren psychischen Problem. Die Freiwillige stellte sich vor einiger Zeit für ein Projekt zur geistigen Gesundheit zur Verfügung und wurde ausgebildet, Fälle von psychischen Problemen zu erkennen und erste Abklärungen vorzunehmen.
Als das Team von St. Martin den kleinen Hof erreichte, wurde es vom Bauer und dessen Familie empfangen. Es stellte sich heraus, dass der Mann mit den psychischen Problemen, nennen wir in Paul, der Bruder des Bauers ist. Paul lebte seit ein paar Jahren auf dem Hof. Seine Mutter hatte ihn aus der Stadt hergebracht, weil sie mit seiner Krankheit nicht mehr zurechtkam. Die Familie berichtete, dass Pauls Verhalten in letzter Zeit immer auffälliger wurde und dass sie es mit der Angst zu tun bekamen.
Paul wurde vom Bruder herzu gerufen. Im Gespräch merkten die Sozialarbeiter*innen schnell, dass Paul ärztliche Hilfe benötigt. Sie fragten ihn, wo er schlafe. Paul führte sie zu seiner Hütte, die etwas abseits hinter dem Hof seines Bruders stand – nur, da war keine Hütte. Ein Stück Blech balancierte auf vier Pfosten, die Wände waren durch eine Ansammlung von Holz und Steinen lediglich angedeutet. Paul bat das Team einzutreten durch eine Lücke in der Umrandung, welche die Tür darstellte. „Drinnen“ setzten sich die Sozialarbeiter*innen auf ebenso imaginäre Stühle. Es stellte sich heraus, dass Paul seine Hütte Stück für Stück verfeuert hatte und dabei jegliche Einmischung und Hilfe verweigerte.
"Das Ziel ist immer die betroffenen Personen so weit wie möglich wieder in das Leben der Gemeinschaft zu reintegrieren. Dies braucht häufig zuerst eine Aufklärung und Sensibilisierung der Gemeinschaft, um falsche Vorstellungen zu korrigieren und Stigmata abzubauen."
Das Team von St. Marin CSA konnte Paul davon überzeugen, das lokale Krankenhaus aufzusuchen. Dort wurde er untersucht und eine Behandlung eingeleitet. Zwischenzeitlich riefen die Sozialarbeiter*innen die Nachbar*innen und Mitglieder der Gemeinde zusammen und erklärten ihnen Pauls Situation, er werde behandelt und die Ärzt*innen erwarten eine Besserung. Er brauche aber ein neues Haus. Sie appellierten an die Solidarität der Versammelten und prompt spendete jemand Wellblech für das Dach. Andere steuerten Baumaterial bei. Am nächsten Wochenende trafen sich die Nachbarn*innen hinter dem Hof und bauten Pauls Hütte wieder auf.
Heute geht es Paul viel besser und er freut sich sehr über seine neue Hütte. Er geht wieder unter Leute, scherzt mit den Nachbar*innen und erledigt kleine Arbeiten für sie. Auch die Familie seines Bruders ist überglücklich. Die Bäuerin sagte zum Team von St. Martin: „Wisst ihr, ihr denkt, dass Paul krank war. Aber ich war noch viel kränker. Indem ihr ihm geholfen habt, habt ihr auch mich geheilt.“
"Heute geht es Paul viel besser und er freut sich sehr über seine neue Hütte. Er geht wieder unter Leute, scherzt mit den Nachbar*innen und erledigt kleine Arbeiten für sie."
Gemäß diesem Motto arbeitet St. Martin nicht direkt mit den benachteiligten Personen. Der Fokus liegt auf den Mitglieder*innen der Gemeinschaft (religiös, politisch oder die Nachbarschaft), aus welcher die betroffenen Personen kommen. St. Martin ist der Überzeugung, dass langfristige und tragfähige Lösungen immer innerhalb und durch die Gemeinschaft gefunden werden können. Die notwendigen Ressourcen und Fähigkeiten sind schon vorhanden, ebenso die Hilfsbereitschaft. Es bedarf nur der richtigen Mobilisierung, um eine prekäre Situation zu verbessern.
Eine wichtige Rolle dabei spielen die rund 600 lokalen Freiwilligen. Dieses Netzwerk besteht aus Personen, die bereit sind, ihre Zeit und Energie für das Wohl der Gemeinschaft einzusetzen. Diese Freiwilligen können Bäuer*innen, Hausfrauen, Ladenbesitzer*innen, Ärzt*innen oder Rechtsanwält*innen sein. Je nach ihren Fähigkeiten und ihrem Wissen können sie in den Projekten von St. Martin mitwirken, in direktem Kontakt mit den Bedürftigen, als Berater*in für medizinische oder rechtliche Fragen oder im Leitungsorgan eines Projektes. Zugleich sind sie Botschafter*innen für Solidarität und Inklusion in ihren Gemeinden.
"St. Martin ist der Überzeugung, dass langfristige und tragfähige Lösungen immer innerhalb und durch die Gemeinschaft gefunden werden können. Die notwendigen Ressourcen und Fähigkeiten sind schon vorhanden, ebenso die Hilfsbereitschaft."