De Jürgen Focke
Seit 2015 wurden mehrere große internationale Vertragswerke bei den Vereinten Nationen verabschiedet. Aber weder bei der Nachhaltigkeitsagenda, dem Pariser Vertrag, dem Sendai Framework noch dem zuletzt beschlossenen "Pact for the future" wurden ältere Menschen, aber auch Menschen mit Behinderung, angemessen berücksichtigt. Das hat Auswirkung auf deren Absicherung in den nationalen sozialen Sicherungssystemen und damit verbunden in der Gesundheitsfür- und vorsorge. Auch in der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit bleiben ältere Menschen somit der „blind spot“.
Die demografische Entwicklung bringt große Herausforderungen, aber auch Chancen und neue Aufgaben für den Staat, die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Bürger mit sich. Diese wirken mittel- bis langfristig und bedürfen daher eines längeren Zeithorizonts. Entwicklungsvorhaben, die heute beschlossen werden, wirken insbesondere bei sozialen Sicherungssystemen erst in 20 – 30 Jahren nachhaltig. Dies gilt nicht nur für den sog. Globalen Süden. Daher ist es Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft, diese Entwicklungen und Potentiale frühzeitig in internationalen Vertragswerken zu verankern, damit sie die Potentiale global entfalten. Ein Blick in die letzten Dokumente zeigt jedoch erhebliche Lücken, wenn es um die Berücksichtigung älterer Menschen, aber auch Menschen mit Behinderung, in der Wahrung ihrer Rechte geht. Dabei wird die Personengruppe der Menschen über 60 Jahren, bereits 2030 größer sein, als die der Jugendlichen und 2050 werden Ältere mit ca. 2 Mrd. Menschen die mit Abstand größte Bevölkerungsgruppe darstellen. (WPP, 2024)
In den vier wichtigsten internationalen Vertragswerken, die den Referenzrahmen für eine prosperierende und gerechte Welt abbilden, findet sich diese vorausschauende Betrachtung jedoch nicht wieder. Die Nachhaltigkeitsagenda 2030 betrachtet ältere Menschen in den 17 Oberzielen und 169 Unterzielen nur dreimal. (SDG 2.2; SDG 11.2; SDG 11.7;) (SDG, 2015) Das Pariser Übereinkommen, vulgo. Klimaabkommen, erwähnt diese Personengruppe überhaupt nicht. (Paris Agreement, 2015)
Der im Sommer 2024 bei den Vereinten Nationen verabschiedete Pact of the Future, der die Weichen zur Bewältigung der globalen Herausforderungen stellen sollte, hatte noch im Zero draft (POTF, 2024) ältere Menschen und Menschen mit Behinderung marginal betrachtet. In der finalen Version wurde die vulnerable Gruppe der älteren Menschen komplett herausgestrichen. (POTF Final, 2024)
Lediglich das Sendai Rahmenabkommen zur Katastrophenvorsorge billigt älteren Menschen eine Rolle, die der Wissensträger, zu. (Sendai Framework, 2015)
Die Nachhaltigkeitsagenda 2030 betrachtet ältere Menschen in den 17 Oberzielen und 169 Unterzielen nur dreimal. Das Pariser Übereinkommen, vulgo. Klimaabkommen, erwähnt diese Personengruppe überhaupt nicht.
Diese Defizite spiegeln sich auch in der direkten Arbeit der Vereinten Nationen wider und bilden in keiner Weise den Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung ab. So ergab eine Untersuchung von HelpAge International im UN-Menschenrechtsindex zu den Beobachtungen und Empfehlungen der Vertragsorgane, dass nur 32 Erwähnungen durch den Ausschuss für bürgerliche und politische Rechte (0,3 % aller 11 098 Beobachtungen/Empfehlungen) im Vergleich zu 236 Erwähnungen durch den Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (2 % aller 11 707 Beobachtungen/Empfehlungen) und 497 Erwähnungen durch den Ausschuss zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (2,7 % aller 18 443 Beobachtungen/Empfehlungen) auf die Durchsetzung der Rechte älterer Menschen abzielten. (OHCHR, 2024)
Unser jüngster Report vom September 2024 zur Gleichstellung von Geschlechtern zeigt, dass bei den über 7.200 Projekten, die von OECD-Staaten finanziert wurden, nur 16 auf die Förderung von älteren Frauen abzielten. (Investing in Equality, 2024)
In Diskussionen mit den Organisationen und Agenturen der Vereinten Nationen werden diese Lücken zwar grundsätzlich anerkannt, jedoch nicht geschlossen. Besonders auffällig ist dieses bei Maßnahmen der humanitären Hilfe. Der Anteil der älteren Menschen, die durch Naturkatastrophen betroffen sind, ist 5–7-mal höher, als diese dem Bevölkerungsanteil entsprechen. (Disaster Risk and Age Index, 2015) Hauptgründe für mangelnde Interventionen sind, dass die Bedarfe der älteren Menschen nicht betrachtet werden. So fehlen zum Beispiel im UN-Cluster-System jegliche Hinweise und Maßnahmen in den Bereichen: Shelter und Protection sowie Gesundheit und Ernährung, die auf die speziellen Bedarfe älterer Menschen eingehen. So benötigen ältere Menschen in der Nahrungsaufnahme vermehrt Vitamin-D. Dieses wird jedoch im UN-Cluster für Nutrition nicht erwähnt. In der Gesundheitsversorgung fehlt es an der Bereitstellung von Hilfsmitteln im Katastrophenfall, wie Gehhilfen, Brillen, etc. (vgl. If not now, when?, 2020)
Der Ukrainekrieg stellt dieses noch einmal eindringlich dar. So fehlte es nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine an geeigneten Transportmitteln, um ältere und damit häufig auch bettlägerige Patient:innen aus den Kampfgebieten zu evakuieren und angemessen zu versorgen. Erst ein Appel des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler vom März 2022 sorgte dafür, dass diese Notlage auch international erkannt wurde und geeignete Fahrzeuge vor allem von westeuropäischen Hilfsorganisationen für die Evakuierung bettlägeriger Patient:innen bereitgestellt wurden.
In Diskussionen mit den Organisationen und Agenturen der Vereinten Nationen werden diese Lücken zwar grundsätzlich anerkannt, jedoch nicht geschlossen. Besonders auffällig ist dieses bei Maßnahmen der humanitären Hilfe. Der Anteil der älteren Menschen, die durch Naturkatastrophen betroffen sind, ist 5–7-mal höher, als diese dem Bevölkerungsanteil entsprechen.
Naturkatastrophen steht der Mensch im Regelfall ohnmächtig gegenüber. Allerdings ließen sich die Auswirkungen signifikant reduzieren, wenn bereits präventiv vorgesorgt würde. Bis in die 90er Jahre war es üblich, dass alle erdenklichen Notfallszenarien zwischen zivilen und militärischen Stellen auf nationaler Ebene, aber auch international zum Beispiel bei WINTEX/CIMEX-Übungen vorausschauend eingeübt wurden. Ergebnisse und Empfehlungen flossen danach in die nationalen Katastrophenvorsorgepläne mit ein; ältere Menschen und deren Bedarfe waren inkludiert.
In den Nachfolgezeiten der sog. Friedensdividende wurden diese Übungen jedoch weitestgehend eingestellt oder fanden nur noch als Schreibtischübung statt. Bei einem Blick auf die „neue“ politische Landkarte zeigt sich jedoch, dass die National Disaster Response Plans (NDRP) nur selten die Bedarfe der älteren Menschen oder auch Menschen mit Behinderung betrachten und somit geeignetes Personal und Material vorenthalten. Nach der Ahrtalkatastrophe von 2022 werden diese in Deutschland derzeit überarbeitet und ob es hier ein lessons learned geben wird, statt eines lessons identified, wird sich noch zeigen müssen. Im globalen Süden sind die NDRP im Regelfall unterwickelt und müssen kontinuierlich angeglichen und durch Humitäre Pool Funds (mit-) finanziert werden. Das Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) fordert deshalb immer wieder eine vorausschauende humanitäre Hilfe ein, sowie einen Nexus zur entwicklungspolitischen Zusammenarbeit.
Deutschland hat sich dazu auch in seiner im September dieses Jahres verabschiedeten neuen Strategie in der humanitären Hilfe bekannt, (Strategie des Auswärtigen Amtes in der HuHi, 2024) bleibt aber in seinen Umsetzungsvorschlägen vage. Ältere Menschen und Menschen mit Behinderung werden dort als besonders vulnerable Gruppe nicht definiert, resp. fehlt es an vorsorgenden Umsetzungsvorschlägen. Dieses ist nicht nur in der deutschen strategischen Ausrichtung so, sondern lässt sich auf nahezu alle Länder auch des globalen Nordens projizieren. Der ehemalige deutsche Arbeits- und Sozialminister Franz Müntefering führte dazu in seinem Amt als Vorsitzender der deutschen Seniorenorganisation BAGSO häufiger aus: den Interessen und Rechten älterer Menschen begegnet die Politik mit einem freundlichen Desinteresse.
Der Diskurs muss sich von der oft üblichen und begrenzten Diskussion über die Verletzlichkeit älterer Menschen zu den Möglichkeiten verlagern, die ältere Menschen bieten, und sie als individuelle Inhaber umfassender Menschenrechte betrachten Special Report on the Rights of older persons, 2019
Die Integration von vulnerablen Gruppen in die Vorsorgemaßnahmen sind ein lohnendes Investment. Nach Berechnungen des Büros der Vereinten Nationen zur Reduzierung von Katastrophenrisiken (UNDRR) kapitalisieren Investitionen in eine widerstandsfähigere Infrastruktur einen Nutzen von 4 US-Dollar für jeden investierten US-Dollar. (UNDRR, 2024)
Durch die sogenannten Regierungsverhandlungen könnten die Länder des Globalen Nordens, ihre Partner:innen im Globalen Süden unterstützen und antizipatorische Hilfsmaßnahmen fördern; eine Verpflichtung, die sich auch aus den partnerschaftlichen Verpflichtungen zur Förderung der „good governance Strukturen“ aus den SDG 16 und SDG 17 der Nachhaltigkeitsagenda ergibt. Aus den betreffenden Ministerien wird jedoch gespiegelt, dass dieses von den Partnerländern auch als Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten gewertet und daher abgelehnt werden kann.
Dass ältere Menschen und die Wahrung ihrer Rechte ein blinder Fleck in den internationalen Vereinbarungen sind, hatte bereits die internationale Arbeitsorganisation (ILO) 2014 festgestellt und hier insbesondere auf die Lücken in den sozialen Sicherungssystemen für ältere Menschen hingewiesen. (Social Protection Policy Papers, 2014)
Grundsätzlich sind die bestehenden Menschenrechtsverträge altersunabhängig und gelten auch für ältere Menschen. Die fehlende Berücksichtigung der Auswirkungen von Altersdiskriminierung und Altersdiskriminierung sowie die mangelnde Beachtung der spezifischen Bedürfnisse älterer Menschen führen jedoch zu unzureichenden internationalen Rechtsgarantien. In der Realität gibt es jedoch kein verbindliches, internationales Rechtsinstrument für diese vulnerable Gruppe, das die gesamte Bandbreite der Rechte älterer Menschen abdeckt, noch enthalten sie eine klare und umfassende Bestimmung zur Beseitigung aller Formen von Altersdiskriminierung. Der Diskurs muss sich daher von der oft üblichen und begrenzten Diskussion über die Verletzlichkeit älterer Menschen zu den Möglichkeiten verlagern, die ältere Menschen bieten, und sie als individuelle Inhaber:innen umfassender Menschenrechte betrachten. (Special Report on the Rights of older persons, 2019)
In seiner Botschaft zum Welttag der älteren Menschen am 1. Oktober 2023 forderte Antonio Guterres die internationale Gemeinschaft auf, mehr für den Schutz der Rechte älterer Menschen zu tun: Wir müssen mehr tun, um die Würde und die Rechte älterer Menschen überall zu schützen. ... ältere Menschen gehören oft zu den ersten Opfern von Krisen. Die Lösung dieser und anderer Probleme ist ein Gebot der Menschenrechte, das allen zugutekommt. (International Day of older persons, 2023)
Dies wird auch durch die über 900 Dokumente belegt, die während der 14 Sitzungen der Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen zu den Rechten älterer Menschen (OEWGA) eingereicht wurden und die Lücken im Rechtsschutzsystem für ältere Menschen aufzeigen. (OEWGA , 2024)
Ein eigenes internationales Menschenrechtsinstrument würde den dringend notwendigen Wandel hin zu einem menschenrechtszentrierten Ansatz erleichtern und ältere Menschen sichtbarer machen. Ähnliche transformative Veränderungen wurden bei anderen Gruppen beobachtet, für die spezielle internationale Menschenrechtsinstrumente geschaffen wurden. Die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW), der Schutz der Rechte von Kindern/KRK oder die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen/CRPD haben viele bestehende Ungerechtigkeiten beseitigt. Ältere Menschen verdienen es, sichtbar gemacht und durch eine spezielle Menschenrechtskonvention geschützt zu werden, ebenso wie die anderen vulnerablen Gruppen.