Unterstützende Massnahmen zur staatlichen Alterspolitik in einer schnell alternden Gesellschaft

«Niemanden zurücklassen»: Die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Initiativen für die Gesundheitsversorgung im Alter in Vietnam

De Anjuska Weil

Vietnam steht vor der Herausforderung einer schnell alternden Gesellschaft. Der Wandel vom Agrar- zum Industrieland verändert Familienstrukturen und den Platz alter Menschen in der Gemeinschaft. Zugleich hinterliess der Vietnamkrieg tiefgreifende Lücken in Familien und führte zu langfristigen gesundheitlichen Folgen. Die Leitlinie «Niemanden zurücklassen» in der Alterspolitik des Landes ist zugleich Anspruch und Handlungsaufforderung. Ergänzend zu den staatlichen Massnahmen schaffen zivilgesellschaftliche Initiativen wie «Altersclubs», generationenverbindende Unterstützungsstrukturen und ehrenamtliche Gesundheitsförderung ein Netzwerk der Solidarität und verbessern die Lebensqualität älterer Menschen.

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«Niemanden zurücklassen»: Die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Initiativen für die Gesundheitsversorgung im Alter in Vietnam
Tai Chi Vorführung in der Region Ha Giang im nördlichen Hochland von Vietnam. Foto: © Anjuska Weil


Alternde Gesellschaft

Vietnam gehört zu den Ländern mit einer besonders schnell alternden Gesamtbevölkerung, bedingt durch die niedrige Geburtenrate und eine steigende Lebenserwartung. Laut Daten der Weltbank wurde Vietnam 2015 zu einer «alternden Gesellschaft» und wird voraussichtlich bis 2035 den Status einer «alten Gesellschaft» erreichen (World Bank, 2021). Eine Gesellschaft gilt als «alternd», wenn mehr als 7 % der Bevölkerung 65 Jahre oder älter sind, und als «alt», wenn dieser Anteil mehr als 14 % beträgt. 2023 betrug der Anteil von über 65-jährigen in Vietnam 10% (World Bank, 2023). Während der Übergang von einer alternden zu einer alten Gesellschaft in Australien und Neuseeland rund 60 Jahre und in Japan 24 Jahre dauerte, wird erwartet, dass Vietnam diesen Wandel in weniger als 20 Jahren vollziehen wird (WHO, 2020).

Vietnam steht nicht nur vor der Herausforderung einer schnellen Alterung der Bevölkerung, sondern muss den Übergang zu einer alten Gesellschaf auch viel früher in seiner wirtschaftlichen Entwicklung und bei deutlich niedrigerem Pro-Kopf-Einkommen bewältigen als andere Länder. Im Zuge des Wandels vom Agrar- zum Industriestaat schwächen Binnenmigration und neue wirtschaftliche Chancen in den Ballungszentren traditionelle Familienstrukturen, wodurch die Betreuung älterer Menschen durch jüngere Familienmitglieder erschwert wird. Besonders schwierig wird die Situation durch spezifische Probleme, wie die langfristigen gesundheitlichen Folgen des Vietnamkrieges, die zusätzliche Belastungen im Gesundheitssektor verursachen.

Während der Übergang von einer alternden zu einer alten Gesellschaft in Australien und Neuseeland rund 60 Jahre und in Japan 24 Jahre dauerte, wird erwartet, dass Vietnam diesen Wandel in weniger als 20 Jahren vollziehen wird.

In den Provinzen Zentralvietnams und des Südens leben immer noch viele Menschen, die durch das dioxinhaltige Entlaubungsmittel Agent Orange dauerhaft geschädigt wurden. Zwischen 1961 und 1971 versprühte die US-Luftwaffe über dem Süden Vietnams 80 Millionen Liter dieses Gifts. Allein im Distrikt A Luoi in der Provinz Thua Tien-Hué, im zentralen Hochland, durch den die Ho Chi Minh-Piste verlief, gibt es noch immer rund 5000 Betroffene. Nach Angaben der vietnamesischen Regierung leidet etwa die Hälfte der über 60-Jährigen an chronischen Erkrankungen. Rund 5 Millionen Menschen, das entspricht etwa 5 % der Gesamtbevölkerung, leben mit einer Behinderung. Psychische Traumatisierungen sind in diesen Zahlen noch nicht enthalten. Obwohl die Kriegsgeneration allmählich ausstirbt, wirken die Spätfolgen von Agent Orange und Blindgängern weiter nach.

Einmal pro Woche kümmert sich die freiwillige Gesundheitspromotorin Phoung Nguyen um die 79-jährige Nguyen Thi Theo. «Ich kümmere mich wirklich gerne um sie. Das ist für mich ein bisschen so, als ob ich meine Mutter pflegen würde. Ich spüre, es tut ihr gut – und das tut auch mir gut.» Foto: ©  Anjuska Weil 
Einmal pro Woche kümmert sich die freiwillige Gesundheitspromotorin Phoung Nguyen um die 79-jährige Nguyen Thi Theo. «Ich kümmere mich wirklich gerne um sie. Das ist für mich ein bisschen so, als ob ich meine Mutter pflegen würde. Ich spüre, es tut ihr gut – und das tut auch mir gut.» Foto: © Anjuska Weil 
Obwohl die Kriegsgeneration allmählich ausstirbt, wirken die Spätfolgen von Agent Orange und Blindgängern weiter nach.

Staatliche Alterspolitik

In Vietnam geniessen alte Menschen traditionellerweise Achtung und Respekt. So setzt auch die Regierung Wert auf eine zeitgenössische Alterspolitik. 2009 wurde ein ausführliches Law of the Elderly (Gesetz für ältere Menschen) von der Nationalversammlung verabschiedet, welches sowohl die staatlichen Aufgaben als auch die gesellschaftlichen Verantwortlichkeiten regelt. Zentral sind dabei die gesundheitliche Versorgung sowie sozio-ökonomischen Aspekte wie Rentenansprüche, angemessene Unterkunft und Betreuung. In einer sich wandelnden und gleichzeitig rasch alternden Gesellschaft hat dieses Gesetz grosse Bedeutung. Über alle Paragrafen hinweg wird der Respekt gegenüber alten Menschen betont, und verschiedene Ministerien werden zu konkreten Massnahmen verpflichtet. 2012 - 2020 folgte die Umsetzung eines nationalen Aktionsplans (UNFPA, 2019).

Dennoch bleibt Altersarmut ein ernstes Problem in Vietnam und es besteht weiter Handlungsbedarf. Viele ältere Menschen sind gezwungen, sich durch Heimarbeit – wie das Herstellen von Räucherstäbchen, Beerdigungsgegenständen oder der bekannten konischen Reisstrohhüte – ein (Zusatz-)Einkommen zu generieren. Obschon sich der allgemeine Lebensstandard stetig verbessert, sind in den Strassen der Städte noch immer ältere Menschen, vor allem Frauen, zu sehen, die Altkartons und PET-Flaschen sammeln, um ein paar Tausend Dong zu verdienen. Neben den Massnahmen der staatlichen Alterspolitik spielen zivilgesellschaftliche Basisinitiativen eine wichtige Rolle in der Versorgung und Betreuung älterer Menschen. Zwei bemerkenswerte Beispiele sind die Association of the Elderly (AoE) und das Center for Aiging Support und Community Development (CASCD) – beide Organisationen werden seit vielen Jahren von medico international schweiz (vormals Centrale Sanitaire Suisse) unterstützt.

Neben den Massnahmen der staatlichen Alterspolitik spielen zivilgesellschaftliche Basisinitiativen eine wichtige Rolle in der Versorgung und Betreuung älterer Menschen.

Gemeinschaft leben und füreinander sorgen

Mit einem breiten Netzwerk von freiwilligen Mitarbeitenden setzt sich die AoE für die soziale Integration alter Menschen ein. Sie fördert sogenannte «Altersclubs», in denen Gemeinschaft und Austausch gepflegt wird – sei es beim gemeinsamen Tai-Chi, Schachspielen oder anderen Aktivitäten. Wichtig ist auch das Schreiben von Gedichten, eine subtile und gesellschaftlich anerkannte Form, um Emotionen und Lebensgefühle auszudrücken. Dadurch trägt es neben dem kulturellen Austausch auch zum psychosozialen Wohlbefinden bei.

In Vietnam ist Zugehörigkeit sowohl für Einzelpersonen wie auch für Organisationen von grosser Bedeutung. Die Clubs alter Menschen sind in den Strukturen von Dörfern und Stadtvierteln verankert und stärken die Position älterer Menschen in ihrer Gemeinschaft. In diesen Clubs gehört gegenseitige Fürsorge zum Selbstverständnis – ein wesentlicher Aspekt für alte Menschen, die die Schrecken von 30 Jahren Krieg und der Entbehrung der Nachkriegszeit in sich tragen. Besonders wichtig sind diese Clubs für jene, deren Kinder weit entfernt in Industriezentren arbeiten oder für Menschen, die keine Familien mehr haben. Hier finden sie Weggefährt:innen und Bezugspersonen, die ihnen Halt geben. Neben ihrer Funktion als Treffpunkte, sind die Clubs gleichzeitig Orte für die Betreuung alter Menschen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die spezifische Ausbildung freiwilliger Gesundheitspromotor:innen, die Menschen, die unter den Folgen von Agent Orange leiden, in Alltag unterstützen. Diese Helfer:innen bieten nicht nur Zuwendung und etwas Erleichterung, sondern helfen auch dabei, das ungewöhnliche Leiden zu verstehen und leisten praktische Unterstützung, von alltäglichen Handreichungen über gezielten Massagen bis hin zu einfacher Physiotherapie.

Ehrenamtliche Gesundheitsförderung

Eine entscheidende Rolle für die gesundheitliche Betreuung von alten Menschen übernehmen freiwillige Helfer:innen, sogenannte Gesundheitspromotor:innen. Sie werden von qualifiziertem Fachpersonal ausgebildet und verfügen über grundlegendes Wissen zur Pflege der Bedürftigen, sowie zu den Rechten älterer Menschen, die den betreuten Personen selbst oft kaum bekannt sind. Für ihre Hausbesuche erhalten die Gesundheitspromotor:innen eine einfache Ausrüstung mit Blutdruck- und Blutzuckermessgeräte sowie Waagen. Zusätzlich erhalten sie bei Bedarf bei den lokalen Gesundheitsposten Beratung und weiteres Material für ihre Tätigkeit.

Zur Gesundheitsvorsorge gehört auch die Vermittlung einer gesunden Ernährung. Darüber hinaus wird der Umgang mit Überschwemmungen und deren Folgen thematisiert, wie etwa die Feuchtigkeit in Wohnungen, die gesundheitsschädlichen Schimmel hervorruft, oder stehendes Wasser, in welchem sich Larven von Stechmücken entwickeln, die Krankheiten übertragen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die spezifische Ausbildung freiwilliger Gesundheitspromotor:innen, die Menschen, die unter den Folgen von Agent Orange leiden, in Alltag unterstützen. Diese Helfer:innen bieten nicht nur Zuwendung und etwas Erleichterung, sondern helfen auch dabei, das ungewöhnliche Leiden zu verstehen und leisten praktische Unterstützung, von alltäglichen Handreichungen über gezielten Massagen bis hin zu einfacher Physiotherapie.

Häufig machen die Gesundheitspromotor:innen Hausbesuche zu zweit. In regelmässigen Abständen treffen sie sich zu Erfahrungsaustausch und geselligem Beisammensein. Diese Treffen stärken das Gemeinschaftsgefühl und tragen dazu bei, dass es sehr wenige Abgänge gibt. Zudem erfahren die Promotor:innen hier Wertschätzung. So wächst ihre Zahl kontinuierlich von Dorf zu Dorf, von Stadtviertel zu Stadtviertel. Allein in der Provinz Thua Tien-Hué gibt es mittlerweile mehrere hundert Promotor:innen.

Generationenverbindende Unterstützung

Die Strategie von CASCD im nördlichen Hochland Vietnams, an der Grenze zu China, unterscheidet sich in mehreren Punkten. In dieser Region, in der verschiedene ethnische Gruppen zusammenleben, werden in den Clubs gezielt generationenverbindende Unterstützungsstrukturen – der Austausch zwischen jungen und alten Menschen – gefördert. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Verbesserung der bescheidenen Lebensverhältnisse. Dabei arbeitet CASCD eng mit dem lokalen Ableger des Ministry of Labour, Invalids and Social Affairs (MOLISA) zusammen, das unter anderem Tourismusinitiativen und handwerkliche Produktionsprojekte unterstützt. Während sich vor allem Frauen als Gesundheitspromotorinnen engagieren, helfen junge Männer in den Dörfern auf den bescheidenen Höfen der älteren und erkrankten Mitglieder oder führen Reparaturen und Anpassungen an Unterkünften vor, um die Lebensumstände zu verbessern.

Die Einbindung der jüngeren Generationen in die Betreuung der alten Mitglieder fördert nicht nur den Austausch von Erfahrungen, sondern hilft auch, das kulturelle Erbe lebendig zu halten.

Ein weiterer zentraler Aspekt der Clubarbeit in der Region Ha Giang ist die Bewahrung der kulturellen und ethnischen Identität der Mitglieder. Musik, Tanz und andere kulturelle Ausdrucksformen sind feste Bestandteile der Aktivitäten und tragen massgeblich zur psychosozialen Gesundheit der Gemeinschaften bei. Die Einbindung der jüngeren Generationen in die Betreuung der alten Mitglieder fördert nicht nur den Austausch von Erfahrungen, sondern hilft auch, das kulturelle Erbe lebendig zu halten. Auf diese Weise trägt die generationenübergreifende «Selbsthilfe» nicht nur zur Erhaltung sozialer Strukturen und zur Gesundheitsversorgung bei, sondern auch zur Bewahrung der Geschichte und Traditionen der Gemeinschaft.


Referenzen
Anjuska Weil
Anjuska Weil engagiert sich seit 1966 in der Vietnam-Solidarität. Sie ist als Vorstandspräsidentin der Vereinigung Schweiz-Vietnam sowie als ehrenamtliche Projektverantwortliche für Vietnam bei medico international schweiz aktiv. Im Einklang mit ihrem Ansatz von Solidarität und Selbstermächtigung unterstützt medico international schweiz lokale Gesundheitsorganisationen und Basisbewegungen in der Umsetzung ihrer Arbeit. In Vietnam wird insbesondere die Ausbildung von Gesundheitspromotor:innen unterstützt, die wichtige Beiträge zur Gesundheitsversorgung und -förderung leisten. E-Mail