Auf dem Weg zu Primary Health Care – der Beitrag des Difäm und der Kirchen

Primary Health Care – ein Ansatz für die Zukunft

De Gisela Schneider und Beate Jakob

Das Deutsche Institut für Ärztliche Mission e.V. (Difäm) hat die Entwicklung des Primary Health Care (PHC)-Konzepts begleitet und unterstützt. PHC war und ist Bestandteil der Arbeit des Difäm und seiner kirchlichen Partner weltweit. Auf Grund der Lernerfahrungen seit 40 Jahren versteht das Difäm heute PHC als ein wichtiges Element in einem umfassenden Ansatz zur Stärkung von Gesundheitssystemen mit dem Ziel, dass alle Menschen Zugang zu Gesundheit haben und das Menschenrecht auf Gesundheit verwirklicht ist.

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Primary Health Care – ein Ansatz für die Zukunft

Medizinische Beratung einer Dorfbewohnerin im Tschad. Foto: Difäm

 

Seit mehr als sieben Jahrzehnten ist das Menschenrecht auf Gesundheit ("The right to the highest attainable standard for health”) in der UN-Erklärung für Menschenrechte verankert. 1946 hatte es die Weltgesundheitsorganisation in ihrer Verfassung festgeschrieben. 1978 in der Erklärung von Alma Ata wurde dieses Recht noch einmal betont und „Gesundheit für alle“ bis zum Jahr 2000 proklamiert. Leider konnte dieses Ziel nie erreicht werden.

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts, wurde auf unterschiedlichen Ebenen ein Diskurs dazu geführt, wie man alle Menschen mit Gesundheit erreichen kann, da sehr deutlich wurde, dass eine westliche, institutionelle Medizin, diesem Auftrag nicht gerecht werden konnte. Die Gesundheitsdefinition in der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO, 1946) steht in diesem Zusammenhang. Sie forderte die Staaten auf, Gesundheit durch einen integrativen Ansatz zu verbessern, anstatt die Verantwortung für Gesundheit ausschließlich beim Gesundheitssektor zu sehen.

Im Rahmen dieser Entwicklung kam auch das Engagement der christlichen Kirchen im Bereich von Gesundheit auf den Prüfstand. Denn gerade die kirchliche Gesundheitsarbeit in den Ländern des Südens basierte auf dem „westlichen“ medizinischen Modell mit seinem Schwerpunkt auf Institutionen und kurativer medizinischer Versorgung. Darüber hinaus wurde die kirchliche Gesundheitsarbeit, die von europäischen und nordamerikanischen Kirchen unterstützt und damit auch bestimmt wurde, grundsätzlich hinterfragt.

In dieser Situation fand auf Initiative des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) und des Lutherischen Weltbunds (LWB) im Jahr 1964 beim Difäm in Tübingen eine Konsultation statt. Es sollten Antworten gefunden werden auf die Frage, ob und gegebenenfalls wie sich die Kirchen in Zukunft im Gesundheitsbereich einbringen sollten. Die Teilnehmenden hielten am bleibenden Auftrag der Kirchen im Gesundheitsbereich fest. Sie betonten die Aufgaben und Möglichkeiten von Gemeinden und deren direkter Beteiligung am Aufbau von Gesundheit – und legten damit einen der Grundsteine für das Konzept von Primary Health Care, das in den folgenden Jahren Gestalt gewinnen sollte. Um neue Konzepte der kirchlichen Gesundheitsarbeit zu entwickeln, rief der ÖRK 1968 die Christian Medical Commission (CMC) ins Leben. In der CMC arbeiteten Vertreterinnen und Vertreter aus Europa, Indien und Afrika zusammen. Sie entwickelten gemeinsame Positionen, die mit der WHO ausgetauscht wurden und so Eingang fanden in die Entwicklung des Konzepts von Primary Health Care. Dabei stand die Beteiligung der Menschen an der Basis im Mittelpunkt, neben den Prinzipien von Gerechtigkeit und Solidarität, die wir in der Deklaration von Alma Ata wiederfinden.


Primary Health Care – von der Begeisterung zur Ernüchterung

Das Konzept von PHC war eine Chance für die Kirchen, denn die Prinzipien der Gerechtigkeit und Solidarität sind die Basis christlicher Gesundheitsarbeit. Mit ihrem flächendeckenden Netz von Gemeinden haben die Kirchen den Zugang zu den Menschen und eine Infrastruktur für die Partizipation und Umsetzung präventiver oder gesundheitsfördernder Maßnahmen vor Ort. Von daher nahm das Difäm, wie viele andere, die Proklamation von Primary Health Care in Alma Ata begeistert auf und setzte große Hoffnungen in deren Umsetzung.

Dabei konnte man auf Erfolge bauen. Difäm arbeitete eng mit dem in Jamkhed/Maharashtra tätigen Ärzten Drs. Arole zusammen, die auch Mitglied des CMC waren und die Prinzipien von Alma Ata erfolgreich in ihrem Distrikt umsetzten im Rahmen des „Comprehensive Rural Health Projects“. Drs. Arole zeigten der Welt, dass Gesundheit für alle möglich ist, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und Menschen im Zentrum stehen, wie in Alma Ata gefordert. (www.jamkhed.org)

In ähnlicher Weise gab es viele Einzelprojekte, wo das Difäm z.B. die Ausbildung von Dorfgesundheitshelferinnen und -helfern förderte, oder die Ansätze von Home Based Care, Projekte der Aufklärung zu Gesundheit in Dörfern etc. Erfolge wurden erzielt, aber das große Ziel „Gesundheit für Alle im Jahr 2000“ konnte bei weitem nicht erreicht werden. Und so folgte auf die Begeisterung, Ernüchterung.

Über die Ursachen wurde viel diskutiert und geschrieben. Dazu beigetragen haben „äußere“ Faktoren wie HIV und Aids, die in vielen wirtschaftlich armen Ländern, Gesundheitssysteme erheblich schwächten, aber vor allem war die wirtschaftliche und politische Situation in vielen Ländern nicht gegeben, dass ein solch weitreichender Prozess, wie ihn die Deklaration von Alma Ata forderte, umsetzbar war. Der Druck auf die Regierungen durch die Strukturanpassungsprogramme der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds sind dabei nur ein Beispiel, wie Gesundheit ins Hintertreffen geriet. Anstatt öffentliche Haushalte und Gesundheitssysteme zu stärken, wurden diese geschwächt.

Daneben gab es ein grundsätzliches Missverständnis des Ansatzes von PHC selbst: Viele hielten PHC für eine „billige Medizin für die Armen“, bei der die Versorgung an der Basis durch wenig geschultes Personal stattfand und weitgehend losgelöst ist, von den höheren Ebenen der Gesundheitsversorgung.

Um die komplexen Prozesse der Partizipation zu umgehen und schnell Ergebnisse zu erzielen, wurden in vielen Ländern vertikale Programme entwickelt, wo von zentraler Stelle z.B. der Zugang zu Impfungen oder die Verteilung von Moskitonetzen etc. ermöglicht wurde. „Comprehensive PHC“ wurde in kurzer Zeit ersetzt durch „Selective PHC“. Dies war einfacher zu steuern, ging aber an den Prinzipien von Alma Ata nämlich die Menschen an der Basis einzubeziehen und aufzubauen, völlig vorbei. Auch wenn durch die großen internationalen Programme wie EPI (Expanded Programme of Immunisation), Safe Motherhood, oder ORS Distribution, vieles erreicht werden konnte, so hat dies nie dazu beigetragen, vor Ort resiliente Gesundheitssysteme aufzubauen, bei der die Eigenverantwortung der Menschen und deren Beteiligung im Mittelpunkt stehen.

Kinderstation am Gesundheitszentrum der evangelischen Kirche CEPAC in Sange, Kongo. Foto: Difäm

 

In der Zeit der Millenniumentwicklungsziele (MDGs) wurde sehr viel in Gesundheit investiert und dabei insbesondere Mütter/Kindergesundheit sowie die großen Erkrankungen wie HIV, Malaria und TB ins Auge gefasst. Dank, der nun zur Verfügung stehenden Mittel z.B. über den Globalen Fond gegen Aids, Malaria und TB oder auch die Mittel von GAVI konnte sehr viel erreicht werden. So wurden große Erfolge erzielt, im Sinne der Reduzierung von Kindersterblichkeit, Müttersterblichkeit oder auch dem Zugang zu Medikamenten in der Behandlung von HIV und Aids u.a. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es noch sehr große Lücken gibt und vor allem die Systeme der Länder oft nicht so gestärkt wurden, dass Zugang zu Gesundheit für alle möglich ist und jedes Jahr Millionen von Menschen in Armut fallen, weil sie sich Gesundheit schlicht nicht leisten können.  

So hat die Ebola-Epidemie in West Afrika (2014-16) sehr deutlich gezeigt, was passiert, wenn Gesundheitssysteme schwach sind und auf solche Bedrohungen wie eine Epidemie nicht reagieren können. Am Ende waren 28.000 Menschen betroffen und viele mehr sind daran gestorben, dass sie keinen Zugang zu einer Gesundheitsversorgung hatten, da die Versorgung in den betroffenen Ländern zusammenbrach.

Daher müssen wir uns heute fragen, wie Gesundheitssysteme gestärkt werden können und so resilient werden, dass sie auch mit solchen Herausforderungen umgehen können. Dabei spielt der Ansatz von PHC der die Menschen mit einbezieht, eine zentrale Rolle.


Primary Health Care hat Zukunft

30 Jahre nach Alma Ata propagierte die WHO in ihrem Weltgesundheitsbericht 2008 „Primary Health Care. Now more than ever“ die Wiederbelebung von PHC, und zwar in der modifizierter Form von „Integrated“ bzw. „Diagonal PHC“: Es soll nicht nochmals der Fehler gemacht werden, PHC als Gesundheitsversorgung an der Basis ohne Bezug zu den anderen Ebenen der Gesundheitsversorgung zu verstehen.

Anstelle der Begeisterung von vor 40 Jahren ist eine eher nüchterne Betrachtung des Konzepts angezeigt: PHC ist kein „Allheilmittel“, aber eine wichtige, unverzichtbare Komponente einer Gesamtstrategie zum Aufbau resilienter Gesundheitssysteme und ist damit zum Erreichen des Ziels einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung (Universal Health Coverage, UHC) unerlässlich.

Herausforderungen im Gesundheitssystem. Foto: Difäm

 

Dabei soll PHC vertikale Programme nicht ablösen, sondern diese Programme müssen effektiv in PHC integriert werden. Ob Impfungen oder Moskitonetze, der Zugang zu Medikamenten oder gut ausgebildeter Geburtshelfer/innen, um nur ein paar Beispiele zu nennen, muss in der Eigenverantwortung der Menschen vor Ort eingesetzt und von dort aus die entsprechende Versorgung so aufgebaut werden, wie sie der lokalen Situation im jeweiligen Land auch gerecht wird.

In diesem Sinne setzt sich das Difäm heute für die Umsetzung von PHC ein. Dabei sind in Zukunft folgende Aspekte zu beachten:  

  • Die medizinische Versorgung auf der primären Ebene muss nicht nur verfügbar, sondern auch von bestmöglicher Qualität sein. Dorfgesundheitshelferinnen und -helfer brauchen eine intensive Schulung sowie fortlaufende Weiterbildung und Supervision. Damit das Gesundheitspersonal in Gesundheitszentren effektiv arbeiten kann, müssen die Einrichtungen auf der primären Ebene gut ausgestattet sein, und auch hier sollte eine laufende fachliche Weiterbildung gewährleistet werden. Für diese Maßnahmen braucht es ausreichende finanzielle Ressourcen.
  • Die Arbeit auf der primären Ebene muss verbunden sein mit den höheren Ebenen der Gesundheitsversorgung. Grundlegend ist ein funktionierendes System der Überweisung. Laut WHO können zum Beispiel 80 bis 90 Prozent der häufigsten Krankheiten von Kindern unter fünf Jahren auf der primären Ebene behandelt werden. Das bedeutet aber auch: Es ist extrem wichtig, die 10 bis 20 Prozent der Kinder, die eine Versorgung auf der höheren Ebene brauchen, zu erkennen, möglichst schnell dahin zu überweisen und den Transport zu ermöglichen. Des Weiteren sollen die Anliegen der Menschen an der Basis in die Planungen auf Distriktebene aufgenommen werden.
  • Langfristig kann die Gesundheit der Menschen nur verbessert werden, wenn sie in alle Planungen, Entscheidungen und Veränderungen, die sie betreffen, aktiv einbezogen sind. Anstatt passive Empfänger von Hilfe zu sein, gestalten sie aktiv Prozesse zur Verbesserung der Gesundheit ihrer Gemeinschaft. Primär bringen sie ihre eigenen Ressourcen ein. Die Unterstützung von außen kommt dazu, wenn diese nicht ausreichen. Das Difäm entwickelte und praktiziert einen ressourcenbasierten Ansatz, den so genannten ASSET-Ansatz: Menschen in Dörfern werden begleitet in einem Prozess, in dem sie ihre eigenen gesundheitsfördernden Ressourcen (= assets) erkennen und einbringen. Zu diesem Ansatz gehört auch ganz wesentlich, die Abkopplung der Dörfer von den höheren Ebenen der Gesundheitsversorgung zu überwinden.
  • Gesundheit darf nicht von der Einkommenslage der Menschen abhängen und so geht es heute darum, Gesundheitsfinanzierung gut und nachhaltig zu gestalten. Gesundheit ist ein Menschenrecht und darf daher nicht „privatisiert“ werden, sondern muss durch öffentliche Gelder und eine höhere internationale Solidarität finanziert werden, wo jeder Einzelne das dazu beiträgt, was er beitragen kann.

Medizinische Untersuchung im Kongo. Foto: Difäm

 

Primary Health Care und die nachhaltigen Entwicklungsziele

Das Gesundheitsziel (SDG3) der nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) erwähnt PHC nicht explizit. Aber viele der Gesundheitsindikatoren, zum Beispiel die reproduktive Gesundheit, chronische Krankheiten, Alkohol- und Drogenabhängigkeit und andere psychische Erkrankungen erfordern einen partizipativen Ansatz, der in PHC gegeben ist. Zudem adressieren die SDGs die Determinanten von Gesundheit wie Ernährung, Sanitärversorgung und Hygiene und nehmen damit ein wichtiges Prinzip von PHC auf. Insofern brauchen wir PHC zum Erreichen der SDGs – ein ausschließlich vertikaler Ansatz wird die Gesundheit und die globale Entwicklung insgesamt nicht nachhaltig verändern können.

Die SDGs verabschieden das Denken, Maßnahmen der „Entwicklung“ beträfen nur die Länder des Globalen Südens. Darin unterscheiden sie sich wesentlich von den MDGs. Auch und gerade die Länder des Nordens müssen ihr Denken und Verhalten ändern, um zu einer nachhaltigen globalen Entwicklung beizutragen. Für den Gesundheitsbereich bedeutet dies: Wir müssen wegkommen vom Versorgungsdenken und Gesundheit als Aufgabe von Individuen und Gemeinschaften sehen. So bietet sich heute die Chance, Elemente von PHC auch in deutschen Gemeinden umzusetzen. Dies zeigt das Difäm exemplarisch in Projekten zu psychischer Gesundheit bzw. Krankheit in deutschen Kirchengemeinden. Die Gemeinden werden angeleitet, ihre Ressourcen zur Verbesserung psychischer Gesundheit wahrzunehmen und mit den professionellen Gesundheitsdiensten zu kooperieren.  


Referenzen

 

Gisela Schneider und Beate Jakob
Dr. Gisela Schneider, Direktorin des Difäm, Deutsches Institut für Ärztliche Mission, und der Tropenklinik Paul-Lechler-Krankenhaus in Tübingen.
Gisela Schneider arbeitete 1984 bis 2007 als Ärztin in Afrika. Neben ihrer klinischen Krankenhaustätigkeit bildete sie medizinisches Personal aus, entwickelte Basisgesundheits-programme und initiierte Gesundheitsprojekte zur Versorgung von Menschen mit HIV und Aids sowie zur Stärkung von Forschung und Lehre. Seit 2007 ist sie Direktorin des Deutschen Instituts für Ärztliche Mission e.V. (Difäm) in Tübingen. Sie begleitet Gesundheitsprojekte in Zentral- und Ostafrika sowie in den Ebola-Regionen in Westafrika und unterrichtet an der Akademie für globale Gesundheit und Entwicklung. Ausbildung: Medizinstudium, Master Public Health, Diploma in Tropical Medicine & Hygiene, Diploma in Reproductive Health.
  
Dr. med. Beate Jakob
ist Ärztin und Theologin. Nach ihrer Tätigkeit in der Inneren Abteilung der Universitätsklinik in Tübingen war sie für zwei Jahre in Kenia an einem Missionskrankenhaus tätig und ist jetzt Grundsatzreferentin beim Deutschen Institut für Ärztliche Mission. Sie bearbeitet Fragen im Grenzgebiet von Medizin und Theologie mit dem Ziel, das Engagement der Kirchen und Gemeinden in der Gesundheitsarbeit zu fördern – weltweit. Beate Jakob ist verheiratet und hat sieben Kinder.

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