De Carmen Steimann
Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) legt einen Schwerpunkt auf Gesundheitszusammenarbeit und hat die Postulate von Alma-Ata offen aufgenommen. Zwei Generationen Rotkreuz-Mitarbeitende blicken zurück auf 40 Jahre Alma-Ata: Vreni Wenger (1943) hat in den 1970er Jahren als Programmverantwortliche beim SRK begonnen und war bis zu ihrer Pensionierung 2003 Co-Leiterin des Departements für Internationale Zusammenarbeit. Thomas Gass (1968) leitet seit 2014 die SRK-Abteilung Grundlagen und Entwicklung und kommt aus der Gesundheitszusammenarbeit, Schwerpunkt HIV-Prävention. „Engagement für das Recht auf Gesundheit braucht es heute mehr denn je“, sind beide Interviewpartner überzeugt.
Vreni Wenger: An der Konferenz in Alma-Ata nahm für die Schweiz der damalige Rotkreuz-Chefarzt als Mitglied der Schweizer Delegation teil. Es dauerte dann eine Weile, bis die Ergebnisse von der SRK-Führungsebene „nach unten“ in die Programmarbeit durchsickerten. Bei uns in der internationalen Zusammenarbeit fiel die Erklärung von Alma-Ata auf fruchtbaren Boden. Wir waren ein kleines Team und hatten den Anspruch, über die Katastrophenhilfe hinauszugehen. Die Deklaration von Alma-Ata fiel zeitlich zusammen mit den ersten Gehversuchen des SRKs in Basisgesundheit in Lateinamerika. Dies waren Projekte im Bereich Gesundheit, die nicht aus der Katastrophenhilfe hervorgingen. Das SRK hat hier schon Pionierarbeit geleistet. Entwicklung hatte in der Rotkreuzbewegung damals wenig Bedeutung, man verstand darunter vor allem Strukturhilfe für schwache Rotkreuz-Gesellschaften. Alma Ata bot erstmals einen Rahmen für die Ausgestaltung von Gesundheitszusammenarbeit.
Vreni Wenger: Nein, eher ein Ringen um eine angemessene Form der Gesundheitszusammenarbeit. Was kann eine Organisation von aussen sinnvoll unterstützen, welche Bereiche müssen durch innere Ressourcen im Einsatzland abgedeckt werden? Gesundheit als Thema lag dem SRK nahe. In den 1970er Jahren war Gesundheit aber noch kein anerkannter Entwicklungssektor, wie z.B. Landwirtschaft. Erst ab den 1980er Jahren etablierte sich Gesundheit als Entwicklungsthema.
Thomas Gass: In beruflichen Kontakten mit der Rotkreuzföderation spüre ich heute noch, dass das SRK massgeblich beigetragen hat, Gesundheit und Entwicklung als Themen voranzutreiben. Etwa 26 von insgesamt 190 Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften sind auch international tätig – das SRK ist eine davon. Primary Health Care (PHC) hat im SRK Tradition und ist ins langfristige Engagement integriert worden. Dieser ausgeprägte Entwicklungs- und Gesundheitsfokus unterscheidet uns von anderen Rotkreuzgesellschaften, die bis heute stärker in der Nothilfe engagiert sind.
Selber war ich 1978 erst zehn Jahre alt und bekam nichts mit von Alma-Ata. Ich wurde in den 2000er Jahren sensibilisiert für Primary Health Care. Beruflich war ich für SolidarMed in Afrika tätig, wo ich HIV-Programme koordinierte. Ein sogenanntes vertikales Programm, fokussiert auf eine Krankheit. Das war erfolgreich. Aber es hat auch Nachteile, wenn man in einem schwachen Gesundheitswesen alle Ressourcen auf eine Krankheit setzt. 2008 war ich in London an einer Konferenz zu 30 Jahre Alma Ata. Da kam für mich die Erkenntnis, dass ich meinen Fokus verschieben möchte von der krankheitsspezifischen HIV-Arbeit hin zur Stärkung von Gesundheitssystemen, zu horizontaler Gesundheitsarbeit. 2008 war für mich ein Aha-Erlebnis. Heute, 40 Jahre nach Alma Ata, schliesst sich der Kreis und ich darf beim SRK die Postulate - Gleichberechtigung, Partizipation, Gesundheit für alle, Basisversorgung – weiterentwickeln helfen.
Vreni Wenger: Die vertikalen Programme, die Thomas Gass erwähnt, waren eine Zeitlang im Trend. Man darf nicht vergessen, dass HIV und Aids als Probleme derart akut waren, dass man sie angehen musste. Im gleichen Zug entstanden globale Initiativen im Kampf gegen Malaria, HIV/Aids und Tuberkulose – dies hat die Programme der Gesundheitszusammenarbeit beeinflusst.
Thomas Gass: Ab 2000 kamen dann die Millenniumsentwicklungsziele MDGs, vor allem im Gesundheitsbereich. Die erwähnten Initiativen – die Gates Foundation, Global Fund etc. – haben globale Kampagnen finanziert zur Bekämpfung der drei schlimmen Infektionskrankheiten. Das war eine grosse Errungenschaft. Andere Ziele hingegen wurden in 15 Jahren MDGs nicht erreicht, namentlich bei der Mutter-Kind-Gesundheit oder der Finanzierung von Basisgesundheitszentren. Auch der ungleiche Zugang zur Grundversorgung war kein Fokus der MDGs. Das neue Framework – die Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals - SDGs) mit dem Postulat von Universal Health Coverage – muss man vor diesem Hintergrund sehen.
Thomas Gass: In gewissem Sinn ja. Mit den SDGs wird postuliert, dass niemand in die Armutsfalle tappen darf, weil er/sie krank wird. Die 400 Millionen Menschen, die heute keinen Zugang zu Gesundheitsgrundversorgung haben, haben das Recht auf Gesundheit. Dieses muss man einfordern.
Vreni Wenger: Das Postulat von Alma-Ata - Gesundheit als Menschenrecht - ist immer noch gültig.
Vreni Wenger: Meine Erfahrung hat gezeigt, dass es Geduld braucht, damit diese Basisversorgung wachsen kann. Ohne eigene Ressourcen der betroffenen Bevölkerung funktioniert das nicht. In den 1980er Jahren hat man Promotoren ausgebildet für einfache Handreichungen im Krankheitsfall. Das war nicht unumstritten, aber dennoch erfolgreich, denn die Promotoren waren in die Gemeinschaft eingebettet und konnten ihr Wissen stetig erneuern.
Thomas Gass: Vorläufer waren die „Barfussdoktoren“, die es vor Alma-Ata zum Beispiel in China gab. Alma-Ata nahm diese Idee von Gesundheitspromotoren auf. Leider ging dieses Fundament in den 1990er Jahren gleich wieder verloren, da der Internationale Währungfonds (IWF) und Weltbank die armen Länder zum Sparen zwangen. Mit fatalen Auswirkungen! Heute sehe ich ein Revival der Gesundheitspromotoren. Empowerment von unten ist wieder wichtig, um eine Brücke zu schlagen zwischen dem Gesundheitswesen und den betroffenen Menschen. Für das Rote Kreuz und seine Freiwilligen ist dies eine grosse Chance.
Thomas Gass: Unser grosses Kapital sind die 17 Millionen Freiwilligen weltweit. Sie können das Recht auf Qualität in der Gesundheitsversorgung einfordern, die Menschen im Zugang unterstützen. Auf sie setzen wir, um Krankheiten vor allem durch einen veränderten Lebensstil vorzubeugen. Mehr als die Hälfte der globalen Krankheitslast entfällt heute auf nicht-übertragbare Krankheiten; wie Krebs, Atemwegserkrankungen, Diabetes, Herzkreislauf-Erkrankungen. Wenn wir Freiwillige fit machen für den Umgang mit diesen Herausforderungen, sehe ich ein riesiges Potenzial.
Vreni Wenger: Es ist sinnvoll, Freiwillige nicht nur punktuell im Notfall einzusetzen, sondern diese Ressource zu pflegen und zu „unterhalten“. Dazu braucht es langfristiges Engagement und ein Umdenken bei den Partnergesellschaften, die humanitäre, kurzfristige Hilfe gewohnt sind.
Vreni Wenger: Bangladesch ist ein Beispiel für ein Land, in dem das SRK einen Paradigmenwechsel vollzogen hat. In den 1970er und 80er Jahren leisteten wir immer wieder Katastrophenhilfe. Intern kamen wir dann zum Schluss, dass wir das nicht endlos perpetuieren können. Wir wollten nicht mehr Jahr für Jahr Hilfsgüter liefern, sondern mittel- und langfristig etwas entwickeln. Mit dem lokalen Roten Kreuz, in der Basisgesundheit, aber auch mit anderen Partnern.
Thomas Gass: Es gibt tolle Erfolge im Bereich Basisgesundheit mit Nicht-Rotkreuz-Partnern. Bangladesch, Laos oder Kirgistan sind dafür gute Beispiele. Die Programme konnten mit Unterstützung der Regierung ausgeweitet werden. Trotzdem möchten wir in Zukunft wieder vermehrt auf die Rotkreuz-Bewegung setzen. Dies ist der schwierigere Weg, mit teils schwachen Partnern. Aber das Potenzial ist gross! In Afrika – Malawi, Togo, Äthiopien, Südsudan – setzen wir auf die Zusammenarbeit mit lokalen Rotkreuz-Partnern und Freiwilligen. Natürlich ist es wichtig, auch Erfahrungen mit staatlichen Partnern zu sammeln. Wir stehen ein für ein starkes öffentliches Gesundheitswesen. Unsere Vision ist aber, dass die Rotkreuzgesellschaften diesem zudienen und sich ins Gesamtsystem integrieren.
Vreni Wenger: In Bolivien hatten wir zuerst einen Auftrag für ein Distriktgesundheitswesen in einer abgelegenen Region. Dort haben wir die Zusammenarbeit mit indigenen und Bauernorganisationen aufgebaut und dabei viel gelernt. Wir konnten ihnen schrittweise Verantwortung übertragen. Ein langer Weg, auf dem wir nicht unser Tempo anwenden konnten. Wir waren überzeugt, dass es Zeit braucht. Es gab ein natürliches Programmwachstum, indem weitere ländliche Zonen dazu kamen. Dass die Bauern- und indigenen Organisationen von den Gesundheitsbehörden als Verhandlungspartner anerkannt wurden, war ein Meilenstein.
Thomas Gass: Für die indigene Bevölkerung in Bolivien oder auch Ecuador konnte man sehr viel erreichen, die Gesundheitsversorgung sichern, auch gesetzlich den Anspruch verankern. Dort hat das SKR viel bewirkt. Der Geist dieser Projekte – die Idee der Mitbestimmung auf Dorfebene auf - lebt etwa in Kirgistan weiter. Lokale Gesundheitszentren und die Mitbestimmung via Gesundheitskomitees basieren eindeutig auf den Errungenschaften von Alma Ata.
Thomas Gass: Eine neuere Analyse in Laos hat uns gezeigt, dass in einem an sich erfolgreichen Projekt die ethnischen Minderheiten aus dem Blick gerieten. Obwohl das Projekt mehr Mütter, Schwangere, Kinder erreichte, wurde ausgerechnet die Hmong-Minderheit zu wenig erreicht. Sie hat klar eine schlechtere Gesundheitsversorgung. Dies führt uns vor Augen, wie wichtig es ist, die Benachteiligten im Fokus zu behalten und zusätzlichen Aufwand nicht zu scheuen. Man muss gezielt Angehörige der Minderheit ausbilden, zum Beispiel als Hebammen.
Vreni Wenger: In Lateinamerika haben wir übrigens gezielt traditionelle Hebammen einbezogen. Das war für eine Organisation wie das SRK ein Novum, bei dem uns die Postulate von Alma-Ata sicher entgegen kamen. In Paraguay und Bolivien haben wir den Brückenschlag versucht zu Naturheilkunde und traditioneller Medizin.
Thomas Gass: Im SRK setzten wir uns bis heute dafür ein, dass das formale und das traditionelle Gesundheitswesen zusammenarbeiten, nicht gegeneinander. Geburten zu Hause unterstützen wir zwar nicht, gemäss Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Aber wir setzen auf die traditionellen Geburtsbegleiterinnen, Hebammen, weil sie das Vertrauen der Menschen geniessen und in eine Klinik überweisen können, wenn sie nicht weiterwissen. Je weiter man aufs Land kommt, desto prägnanter ist traditionelle Medizin. Man geht zum Heiler, wenn man ein Problem hat. Deshalb liegt hier ein Schlüssel in der Grundversorgung.
Vreni Wenger: Herausforderung der Postulate von Alma-Ata ist wirklich die Frage, wie weit eine Organisation wie das SRK einen integrativen Ansatz über das Eingangstor Gesundheit verwirklichen kann. Gesundheit steht ja nicht alleine da, es geht um Produktion, Sicherstellung von Ernährung, Bildung … verschiedene Sektoren der Gesamtentwicklung. Meiner Meinung nach sollte man Gesundheit nicht isoliert betrachten, sondern mit benachbarten Sektoren zu einem ausgeglichenen Zusammenspiel bringen. Kohärenz ist wichtig. Das hat uns immer beschäftigt, wie weit der Spielraum reicht.
Thomas Gass: Heute sprechen wir vom Multi-Stakeholder Approach. Oder anders gesagt: man darf nicht mit Gesundheitsscheuklappen an die Sache rangehen. Beim SRK sagen wir heute aber klar, wir sind nicht kompetent für Landwirtschaft oder Bildung, dafür gibt es andere Partner. Wir koordinieren uns deshalb mit anderen Akteuren, zum Beispiel für Ernährung. Wenn Ernährungssicherung nicht möglich ist, wie z.B. in Haiti, dann kommen wir nie aus dem Teufelskreis Durchfall – Unterernährung – Kindersterblichkeit heraus. Solange wir nur im Gesundheitswesen arbeiten, können wir nicht nachhaltig Erfolg haben. In Haiti zum Beispiel haben wir deshalb den Gartenzaun überschritten – mit Gemüsegärten, Beratung von Müttern, Wachstumskontrolle bei Kindern – und so den Ernährungsfokus integriert.
Thomas Gass: Entwicklungszusammenarbeit steht heute unter dem Druck von Seiten des Rechtspopulismus. Das Budget ist jedes Jahr in Frage gestellt, die Kredite kommen knapp durch. Wir wollen deshalb politisch vermehrt die Internationale Zusammenarbeit (IZ) thematisieren. Gesundheit ist eine Ressource für Menschen, die ihr Schicksal selber bestimmen und aus der Armut herausfinden wollen. Dieser Zusammenhang muss immer wieder aufgezeigt werden und die IZ hat hier eine politische Dimension.
Thomas Gass: Mehr denn je! Wenn man im Sozial- und Gesundheitsbereich spart wie in den 1980er, 1990er Jahren, leiden die Ärmsten darunter. Die Schweiz hat eine solidarische Verpflichtung im Süden.
Vreni Wenger: Auch das SRK hat diese Verpflichtung. Und gemeinsam ist man stärker. Das Netzwerk Medicus Mundi Schweiz ist enorm gewachsen und wichtiger denn je. Mit Medicus Mundi Schweiz (MMS) haben wir eine gemeinsame Plattform, um in der Gesundheitsaussenpolitik zusammenzuspannen.
Das Interview führte Carmen Steimann, Kommunikation Internationale Zusammenarbeit, Schweizerisches Rotes Kreuz SRK Email