Bericht zum MMS Round Table vom Juni 2022

Dekolonisierung der Gesundheitszusammenarbeit – eine Debatte nimmt Fahrt auf

By Martin Leschhorn Strebel

Die Dekolonisierung des eigenen Sektors ist unter Organisationen der internationalen Zusammenarbeit die dominierende Debatte. Im Rahmen eines Round Tables, den das Netzwerk Medicus Mundi Schweiz (MMS) in Zusammenarbeit mit seinen Mitgliedern fepa, IAMANEH und terre des hommes schweiz im Juni durchgeführt hat, gingen 22 Teilnehmer:innen dem Thema näher auf den Grund.

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Dekolonisierung der Gesundheitszusammenarbeit – eine Debatte nimmt Fahrt auf
MMS Round Table Juni 2022: "Bottom-up: Ein Weg zur Entkolonialisierung der internationalen Zusammenarbeit". Foto: © MMS

Ausgangslage für die Diskussion waren zwei Projekte, welche fepa in Zimbabwe, respektive terre des hommes schweiz und IAMANEH gemeinsam in verschiedenen Ländern durchführen. Beide Projekte zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Rolle der Organisationen aus dem Norden neu zu definieren und damit vielen Projekte inhärente Machtverhältnisse auf den Kopf zu stellen versuchen. Beide Projekte stehen für verschiedene Ansätze, die klassischen Rollenverteilung in der Zusammenarbeit zwischen Organisationen im Norden mit ihren Partnerorganisationen zu überwinden. Die Diskussion zeigt, wie einerseits notwendig, andererseits auch komplex das Vorhaben ist.

Alle Beteiligten sind sich schnell einig, dass es bei der Dekolonisierungsdebatte im Kern darum geht, bestehende, zerstörerische Machtstrukturen in der Zusammenarbeit zwischen den Partnerorganisationen im Norden und Süden abzubauen. Die Debatte rund um Machtstrukturen ist keine neue – sie begleitet den entwicklungspolitischen Sektor bereits seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Im Nachgang zur 68er Bewegung wurden Themen der internationalen Zusammenarbeit neu politisiert. Entwicklungszusammenarbeit stellten viele Organisationen in den Kontext solidarischen Handelns mit Befreiungsbewegungen im globalen Süden, was auch das Verhältnis zwischen den Partnern neu definierte.

Alle Beteiligten sind sich schnell einig, dass es bei der Dekolonisierungsdebatte im Kern darum geht, bestehende, zerstörerische Machtstrukturen in der Zusammenarbeit zwischen den Partnerorganisationen im Norden und Süden abzubauen.

Dekonstruktion von Machtverhältnissen

Auch in der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit wurden die Machtverhältnisse zwischen Geber- und Empfängerländer immer wieder diskutiert und neu ausgehandelt. Sichtbar wird dies in der Paris Declaration und der Accra Agenda for Action zu Aid Effectiveness. Kritische Debatten rund um Machtverhältnisse in der internationalen Zusammenarbeit wurden in den letzten Jahren zu Recht innerhalb von Nichtregierungsorganisationen sehr heftig rund um deren Rolle beim Wiederaufbau nach dem Erdbeben von Haiti geführt, bei den Skandalen rund um sexuelle Übergriffe von NGOs im Zuge der MeToo-Bewegung oder rund um rassistisch begründete Chancenungleichheit in Zusammenhang mit der Black Lives Matter-Bewegung. Für einige der Organisationen stellten die durch diese Debatten an den Tag gebrachten Skandale eine existenzbedrohende Situation dar.

Die Teilnehmer:innen am Round Table waren sich aber weitgehend einig, dass die Dekolonisierungsdebatte tiefer greift. Der 2021 erschienene Bericht «Time to Decolonise Aid» der Friedensorganisation Peace Direct zeigt auf, wie wichtig es ist, die historisch verankerten Dominanzstrukturen zu bearbeiten. Für die Mitarbeiter:innen von Organisationen im globalen Norden heisst dies insbesondere Herrschaftsmuster, wie die Übernahme der Entscheidungsgewalt oder des eigenen Führungsanspruches hinter sich zu lassen.


Veränderte Rollen

Sowohl fepa wie auch IAMANEH/terre des hommes schweiz betonen, wie sich mit diesem Ansatz auch die Rollen verändern: Top-Down-Strukturen müssen minimiert, demokratische Entscheidungsprozesse gestärkt werden. Die Organisationen in der Schweiz werden zu Alliierten ihrer Partner:innen, zu Brückenbauer:innen und Moderator:innen.

Wie sollen Machtstrukturen aufgebrochen werden? Die Teilnehmer:innen erarbeiteten ein ganzes Bündel von Vorschlägen, die auf struktureller Ebene, der eigenen Sprache, der eigenen ganz persönlichen Haltung ansetzten. Dekolonisierung heisst, neue Repräsentationsstrukturen zu schaffen und Entscheidungsgewalt an die Partner:innen im globalen Süden zu verlagern, aber auch selbst mit mehr Bescheidenheit und Respekt, aufzutreten.

Sowohl fepa wie auch IAMANEH/terre des hommes schweiz betonen, wie sich mit diesem Ansatz auch die Rollen verändern: Top-Down-Strukturen müssen minimiert, demokratische Entscheidungsprozesse gestärkt werden.

Um die notwendigen Veränderungsprozesse voranzubringen, kann Medicus Mundi Schweiz wichtige Lernprozesse koordinieren, aber auch gegenüber staatlichen Akteur:innen und dem philanthropischen Sektor sensibilisierende Rollen übernehmen. Dazu gehört es, Räume zu schaffen, wo die Analyse und Diskussionen weiter vorangetrieben werden können und wo die Mitgliederorganisationen von guter Praxis lernen können. Weiter soll an einer gemeinsamen dekolonisierten Sprache gearbeitet und die Rechenschaftssysteme neu, dekolonisiert gedacht werden.

Die Diskussion ist für Organisationen der internationalen Zusammenarbeit im Norden schwierig, aber auch sehr erkenntnisreich. Wenn der Sektor es schafft sich hier neu zu denken, wird die internationale Gesundheitszusammenarbeit insgesamt qualitativ gestärkt und zukunftsfähig gemacht.

Das nächste MMS Bulletin #164 widmet sich schwerpunktmässig der Dekolonisierung der internationalen Gesundheitszusammenarbeit und globalen Gesundheit. Es erscheint im Dezember 2022. Beiträge sind willkommen.

Martin Leschhorn Strebel
Martin Leschhorn Strebel ist Geschäftsführer des Netzwerks Medicus Mundi Schweiz. Email