By Olivia Blumenfeld Arens,Manuela Schmid, Nicole Grossmann und Christa Weber
Die ausländische Bevölkerung in der Schweiz kommt in die Jahre und wird pflegebedürftig. Aber sind die Pflegeheime auf die Betreuung von Menschen aus anderen Kulturen vorbereitet? Der folgende Artikel geht dieser Frage anhand einer Literaturrecherche nach und lässt Betroffene zu Wort kommen. Die nachfolgenden Geschichten wurden alle aus der Literatur entnommen, es wurden durch die Autorinnen keine neuen Interviews durchgeführt.
Die nachfolgenden Geschichten wurden alle aus der Literatur entnommen, es wurden durch die Autorinnen keine neuen Interviews durchgeführt.
Nach mehreren Jahren Pflege zuerst durch den Ehemann und die Spitex zuhause, später durch die Tochter und die Söhne, wird ein Pflegeheimeintritt für die Italienerin Antonia V. unabdingbar. Doch sie wehrt sich vehement. Die Tochter berichtet: „Sobald die Mutter das Wort ‹Heim› hörte, wehrte sie sich stark. Sie wollte einfach nicht ins Heim.“ So fiel der Mutter auch die Integration im Pflegeheim schwer. „Meine Mutter war dieses Essen nicht gewöhnt, vom Geschmack her, von der Situation und dann plötzlich an einem Ort, den sie nicht kennt. Wir Italiener sind zum Beispiel nicht gewöhnt, Café complet am Abend zu essen.“ (Hanetseder, 2013, S. 37)
Nicht für alle Italienerinnen und Italiener muss der letzte Lebensabschnitt in einem Pflegeheim so entfremdend sein. Aktuell gibt es in der Schweiz sechs„mediterrane Abteilungen“ in Alters- und Pflegeheimen, vorwiegend für Italienisch und Spanisch sprechende Menschen (Stand April 2015: Domicil Schwabgut (BE), Altersheim Limmat (ZH), Erlenhof (ZH), Falkenstein (BS), Helios (SG), Oasis (ZH)). In diesen Institutionen werden wichtige Elemente der mediterranen Kultur gelebt. So wird vom Personal und den Bewohnern Italienisch oder Spanisch gesprochen, gemeinsam Spaghetti gegessen und Espresso getrunken. Im Altersheim Domicil Schwabgut in Bern wurde sogar eine Marienstatue vom Priester geweiht. Herr Kämpfer, Geschäftsleiter des Domicils Schwabgut, meint: „Das Angebot wird von den betagten Italienerinnen und Italiener sehr geschätzt, von denen es viele in ihren Anfangsjahren in der Schweiz nicht immer leicht hatten.“ (Spectra 106, 2014)
Ab 1945 kamen die ersten Arbeitskräfte aus dem von Kriegsfolgen wirtschaftlich zerstörten Italien in die Schweiz. An eine dauerhafte Niederlassung dachte damals niemand; weder die Schweizer noch die Italiener. Die einzige Motivation der Ankömmlinge war hartes Arbeiten damit die Familien in der Heimat mit Geld versorgt werden konnten. Die Schweiz benötigte in der damaligen Hochkonjunktur dringend Arbeitskräfte und man betrieb gezielt eine Anwerbepolitik. Zu Beginn wurde der Nachzug von Ehepartnerinnen und -partnern sowie Kindern verboten, da die gesellschaftliche Integration der Arbeitsmigranten in der Schweiz nicht vorgesehen war. Auch Antonia V. kam 1953 vor allem zum Arbeiten in die Schweiz. Mit der schweizerischen Kultur und deutschen Sprache wurde sie jedoch wenig vertraut, da sie sich vor allem unter ihresgleichen bewegte (D’Amato, 2008; Hanetseder, 2013).
Ab den 60er und 70er Jahren kamen weitere Einwanderungsgruppen aus Spanien, Portugal, Ex-Jugoslawien und der Türkei auf der Suche nach Arbeit in die Schweiz. Zwar hatte sich bis dahin die Gesetzgebung zum Familiennachzug schon etwas gelockert (D’Amato, 2008), doch jede Einwanderungsgruppe musste erneut um die Akzeptanz in der Schweizer Bevölkerung kämpfen. Treffend hatte Max Frisch gesagt: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen“. (Frisch, M, 1967, S. 100)
Saime Y. flüchtete im Alter von 65 Jahren nach vielen Jahren Repression mit Schleppern von der Türkei in die Schweiz. Sie brauchte zwei Jahre, bis sie ihre traumatischen Erlebnisse verarbeitet hatte. Wie sie flüchteten auch Menschen aus Tibet, Uganda, Vietnam, Bosnien und anderen Ländern hierher, jeder mit einer anderen tragischen Geschichte und der Hoffnung nach Sicherheit. Oft handelt es sich bei den Flüchtlingen um sogenannte Kontingentsflüchtlinge – Menschen, die in einem Erstasylland Zuflucht gefunden haben, dort jedoch nicht bleiben konnten (D’Amato, 2008; Hüngerbühler & Bisegger, 2012). Jede dieser Einwanderungsgruppen musste andere Strategien entwickeln und anwenden, um sich in der Schweiz zurechtzufinden und von der einheimischen Bevölkerung akzeptiert zu werden. Abbildung 1 veranschaulicht die verschiedenen Einwanderungsgruppen, welche nach dem 2. Weltkrieg in die Schweiz kamen.
Die in den 40er- und 50er-Jahren eingereisten Italienerinnen und Italiener kommen in die Jahre und werden pflegebedürftig. Die italienische Gemeinschaft – als grösste nicht Deutsch sprechende ausländische Bevölkerungsgruppe der Schweiz – hat sich selbst dafür stark gemacht, die Bedürfnisse ihrer betagten Landsleute zu erforschen. In Zusammenarbeit mit der öffentlichen Hand sind daraus diese kulturspezifischen „Mediterranen Abteilungen“ in Pflegeheimen entstanden (Hungerbühler & Bisegger, 2012; Spectra 106, 2014).
Die etwas später eingewanderten Bevölkerungsgruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien und der Türkei werden ebenfalls bald in grösserem Mass in die pflegebedürftigen Jahre kommen. Das Auftreten der eigenen Pflegebedürftigkeit sowie die damit verbundenen Unsicherheiten über mögliche Varianten der pflegerischen Betreuung in der Schweiz gehört zu den grösseren Sorgen älterer Migrantinnen und Migranten. Das bestätigt auch Saime Y.: „Wer wird sich um mich kümmern? Wie kann ich sterben und wo werde ich sterben? (…) Was wird mir als fremdsprachiger Frau geboten?“. Sie kennt sich mit den Unterstützungsangeboten im Alter wenig aus. Auch Ada V. aus Bosnien denkt lieber nicht an die Zukunft. Für sie ist der Eintritt in ein Altersheim „die letzte Stufe“ (Hungerbühler & Bisegger, 2012). Obwohl Alters- und Pflegeheime in der Türkei gar nicht beliebt sind und sogar als Strafe empfunden werden, ist die Basler Grossrätin Gülsen Oeztürk überzeugt, dass türkische Altersheime in Basel einmal zum Stadtbild gehören werden (Forum 55+ Basel-Stadt, 2011).
Anders als bei der relativ homogenen grossen italienischen Einwanderungsgruppe werden in Zukunft die Herkunftsländer und -regionen der pflegebedürftigen Menschen immer vielfältiger und aufgefächerter, genauso auch ihre Geschichten und Bedürfnisse (vgl. Abbildung 2, Bundesamt für Statistik, 2010). Das bedeutet, dass es immer schwieriger wird, Angebote zu schaffen, die wie die „mediterranen Abteilungen“ spezifisch auf einzelne Gruppen zugeschnitten sind. Um jedoch herauszufinden, welche Pflegeangebote den Bedürfnissen der Migrantinnen und Migranten gerecht werden könnten, müssten diese erst systematisch erhoben und ausgewertet werden (Bisegger & Hungerbühler, 2008).
Damit der Eintritt ins Pflegeheim für Migrantinnen und Migranten der nächsten Generationen nicht so beängstigend wie bei Antonia V. verlaufen wird und sie ihren Lebensabend zwar in der Fremde, doch nicht entfremdet verbringen können, ist ein Umdenken in Pflegeheimen gefordert. Dabei sollten möglichst niederschwellige Zugänge gestaltet werden, welche besonders auf sprachliche Hürden, Informationsdefizite und die unterschiedlichen Wertevorstellungen eingehen. Neue Modelle sind am nachhaltigsten, wenn sie mit direkter Mitwirkung der Migrationsbevölkerung entwickelt werden. Denn je nach soziokulturellem Hintergrund können die Vorstellungen zum Konzept „Alter“ sehr unterschiedlich sein. Das Umdenken hin zu einem transkulturell geöffneten Pflegeheim muss auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Bereits in der Betriebsstrategie und dem Leitbild sollte die kulturelle Diversität verankert sein. Zusätzlich sollen auf allen Hierarchieebenen Fachpersonen mit Migrationshintergrund eingestellt werden, welche eine sehr grosse Ressource darstellen. Sie bringen das Verständnis für ihre Ursprungskultur aber auch für die Schweizer Kultur mit. Dadurch tragen sie zu einem offenen Klima von gegenseitiger Toleranz und Nichtdiskriminierung bei.
Wenn sich Pflegeheime so gezielt auf die Migrationsbevölkerung vorbereiten, könnten noch viele Migrantinnen und Migranten wie Lan N. aus Vietnamsagen, dass der Eintritt in ein Pflegeheim für sie kein Problem sein werde (Hungerbühler & Bisegger, 2012).