By Nadine Gerwig und Sabine Valenta
Trotz weiterentwickelten Aufklärungskampagnen stellt die hohe HIV/Aids-Rate weiterhin ein Problem im südafrikanischen Gesundheitswesen dar. Prävalenzzahlen vermögen nicht das Ausmass der chronischen Krankheitsbelastung Betroffener abzubilden, schon gar nicht unter den erschwerten Arbeits- und Lebensbedingungen in Südafrika. Ganz anders beleuchten die persönlichen Erfahrungen einer diplomierten Pflegefachfrau die palliative Pflege und Betreuung von HIV/Aids-PatientInnen am Lebensende.
"Viele kleine Leute, an vielen kleinen Orten, die viele kleine Dinge tun, können das Gesicht dieser Welt verändern." - Sprichwort der Xhosa
Gauteng - auch „Ort des Goldes" genannt - ist eine von neun Provinzen Südafrikas. Zu den Metropolgemeinden des östlich gelegenen Gauteng gehört neben Johannesburg auch Tshwane mit der Hauptstadt Pretoria. Der Osten, sowie der zentrale Landesteil sind von dem höchsten HIV Vorkommen Südafrikas geprägt (Health, 2013). Der Mangel an medizinischem Personal, an Medikamenten und neu entwickelten Technologien stellen zusätzlich zu der weitverbreiteten Armut und der hohen HIV- und Aids-Rate ein grosses Problem im südafrikanischen Gesundheitswesen dar (Clemens, 2006). 2012 lag die HIV Prävalenz von schwangeren Frauen in Gauteng bei 29.9 %. Damit befand sich Gauteng an 4. Stelle der insgesamt 9 Provinzen Südafrikas und musste mit 1.2 % Punkten den stärksten Anstieg der HIV Prävalenz innerhalb eines Jahres verbuchen. Generell hat die HIV-Rate in Südafrika in den letzten sieben Jahren ein recht stabiles Niveau erreicht, allerdings müssen jährlich 100.000 Menschen mehr mit dieser Erkrankung leben (Health, 2013).
Somit sind präventive HIV-Massnahmen und Aids-Behandlungen weiterhin auf der politischen Tagesordnung oder sollten es zumindest sein. Heutzutage hat Südafrika das grösste antiretrovirale Programm der Welt mit mehr als 2'150'000 Menschen, die mit HIV-Medikamenten behandelt werden. Obwohl Prävalenz-Zahlen seit 1990 elementar für das Monitorisieren der Epidemie sind, spiegeln sie einen jährlich quantitativen Schnappschuss wieder, der das Ausmass der chronischen Krankheitsbelastung qualitativ nicht abzubilden vermag (Health, 2013).
Die gesammelten Erfahrungen von S.V., diplomierte Pflegefachfrau, beleuchten qualitativ die Pflege und Betreuung von HIV-und Aids-PatientInnen. Von August 2010 bis August 2011 wurde S.V. die Möglichkeit geboten, im Hospiz Rivoningo Care Centre mitzuarbeiten: Als deutsche Partnerorganisation der Tshwane Leadership Foundation (TLF, damals noch Pretoria Community Ministries) bietet der Verein „Friends e.V.“ im Rahmen des entwicklungspolitischen Freiwilligendienstes „Weltwärts“ (BMZ, 2013) jährlich jungen Erwachsenen die Chance, in einem der TLF-Projekte in Pretoria mitzuarbeiten. Hierbei stehen der Nord-Süd-Austausch und das gemeinsame interkulturelle Lernen im Mittelpunkt. TLF arbeitet seit ihrer Gründung mit internationalen und lokalen Freiwilligen zusammen, welche die südafrikanischen Mitarbeiter/innen in den jeweiligen Projekten unterstützen (Friends, 2013, TLF, 2015).
Um Menschen in Not und Krisen in der Innenstadt Pretorias zu unterstützen, wurde bereits Anfang der 1990er Jahre die TLF gegründet. Hierfür haben sich sechs innerstädtische Kirchengemeinden zusammengeschlossen, um das friedliche und gleichberechtigte Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Nationen und Muttersprachen zu fördern. Dabei gilt es noch heute, 21 Jahre nach der offiziellen Beendigung des Apartheidregimes, die Jahrzehnte andauernde strikte Rassentrennung in Südafrika zu überwinden (TLF, 2015).
TLF hat sich zum Ziel gesetzt, die Innenstadt Pretorias in einen lebenswerten Wohn- und Arbeitsraum für alle Bevölkerungsschichten, ob arm oder reich, zu gestalten. Projekte wie Akanani, The Potter’s House oder Lerato House, um nur einige der zahlreichen Arbeiten im Sinne des Gemeinwesens zu nennen, unterstützen innerstädtische Obdachlose, Frauen und junge Mädchen in Not durch Öffentlichkeitsarbeit, Schulungs- und Outreach-Programme. Auch werden den Menschen Unterbringungsmöglichkeiten und eine psychosoziale Unterstützung geboten.
Um speziell die HIV- und Aids-Problematik in Pretoria zu bekämpfen, unterstützt die TLF zusammen mit dem Partnerprogramm Sediba Hope AIDS Care Programme erkrankte Menschen in Not. Zusätzlich zu Informations- und Ausbildungsprogrammen, Aufklärungskampagnen und Outreach-Programmen in umliegenden Dörfern und Townships bietet das Hospiz Rivoningo Care Centre Aids erkrankten Menschen in Armut und Not eine würdevolle Betreuung am Ende des Lebens (TLF, 2015).
In einem Hospiz werden PatientInnen mit dem Ziel betreut, individuellen Bedürfnissen und Entscheidungen in der Sterbephase gerecht zu werden. Die patienten- und familienzentrierte Versorgung strebt eine würdevolle und schmerzfreie Symptom- und Schmerzkontrolle an und findet zu Hause, in Tageskliniken oder stationären Einrichtungen statt (Mwangi-Powell and Dix, 2011, Radbruch et al., 2011). Die palliative Versorgung von Aids-PatientInnen unterstützt vor allem das Medikamentenmanagement der Antiretroviralen Therapie, sowie die Symptomkontrolle der daraus resultierenden Nebenwirkungen und Komorbiditäten (Mwangi-Powell and Dix, 2011).
Das Hospiz Rivoningo Care Centre, lokalisiert als stationäres Einrichtungshaus in der Innenstadt Pretorias, bietet somit Aids erkrankten Menschen in Not eine medizinisch-pflegerische Betreuung an, wenn sie sich selbst keine staatliche Betreuung mehr leisten können. Geleitet wird das Hospiz von südafrikanischen Pflegefachfrauen mit einem Masterabschluss, den Advanced Specialist Nurses. Die pflegerische Betreuung der PatientInnen im Rivoningo Care Centre übernehmen jedoch überwiegend die Registered Auxiliary Nurses, die eine einjährige Pflegeausbildung absolviert haben. Bei einer zunehmenden Anzahl chronisch kranker HIV-PatientInnen ist es nachvollziehbar, dass Pflegekräfte eine fundierte Ausbildung benötigen, um dem Bedarf und der anspruchsvollen Tätigkeit gerecht werden zu können (Smit, 2005). In Südafrika wurde daher 2013 die Qualifizierung im Bereich des Pflegeberufes anhand des National Qualifications Framework (NQF) neu definiert, der vor allem die Professionalisierung vorantreiben sollte. Analysen zufolge sind jedoch weitere politische Anstrengungen notwendig, um die Pflege-Reformen umzusetzen, die die Pflegeausbildung unter anderem auf Bachelorniveau ansiedeln sollen (Blaauw et al., 2014).
Die fest verankerten Probleme des südafrikanischen Gesundheitswesens, wie geringe finanzielle Mittel, ein limitierter Zugang zu Medikamenten und notwendigen medizinischen Technologien und der Mangel an medizinischem Personal ist auch im Hospiz spürbar (Clemens, 2006): Eine routinierte, ärztliche Betreuung fehlt. Die PatientInnen werden lediglich einmal pro Monat in öffentlichen Spitälern betreut, welche ebenfalls hoffnungslos überfüllt sind (Clemens, 2006). Hier erhalten sie die speziellen HIV- und Aids-Medikamente, die ohne die staatlich-finanzielle Unterstützung häufig unerschwinglich wären (Aranda, 1999). Gängige Begleitmedikamente wie Schmerzmittel oder Antibiotika erhalten die PatientInnen meist nicht. Durch fehlende präventive oder kurative Therapiemöglichkeiten präsentieren sich die in den Entwicklungsländern häufig auftretenden Infektionskrankheiten wie HIV- und Aids oder Tuberkulose daher in sehr viel schwerwiegenderen Krankheitsbildern, die rasch zum Tode führen (Clemens, 2006).
Nach Einschätzung der World Health Organization (WHO) benötigten 2005 nahezu 9.67 Millionen Afrikaner palliativ-medizinische Versorgung (Harding and Higginson, 2005). Obwohl im Jahre 2005 das Entscheidungsgremium der WHO, die Weltgesundheitsversammlung, die Palliativversorgung als einen wichtigen Baustein des Gesundheitssystems definiert hatte, konnten bis heute nur 4 der 53 afrikanischen Länder, nämlich Südafrika, Tansania, Uganda und Kenia, die Palliativversorgung in ihr Gesundheitssystem integrieren (Grant et al., 2011, Mwangi-Powell and Dix, 2011). Vor allem der Mangel an speziell ausgebildetem Personal, limitierte Zugänge zu Schmerzmedikation und fehlende Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten stellen Barrieren in der Ausweitung der palliativen Versorgung Südafrikas dar (APCA, 2015, Mwangi-Powell and Dix, 2011).
Im Hospiz "Rivoningo Care Centre" fehlt es gelegentlich sogar an Hygieneartikeln wie Handschuhen, Desinfektionsmitteln und Verbandsmaterialien. Professionelle psychosoziale Unterstützung oder physiotherapeutische Behandlungen sind aufgrund der finanziellen Knappheit undenkbar. So ist es nicht überraschend, dass schon 2001 mehr als 2'100 Pflegende das Land verlassen haben, um beispielsweise im Vereinigten Königreich zu arbeiten. Südafrika war und ist wie andere Länder gefordert, der Knappheit von Pflegekräften und defizitärer Grundpflege im Land entgegenzuwirken (Meeus and Sanders, 2003).
Und dennoch: Durch kreatives Denken und Handeln, langjährige Berufserfahrung und einer professionellen Ausbildung meisterten die südafrikanischen Kolleginnen jede noch so erdenklich schwierige Situation. In der akuten Sterbephase werden die PatientInnen würdevoll und empathisch aufgefangen: Familienzentrierte Gespräche finden statt, speziell für den Sterbenden wird gemeinschaftlich gesungen und gebetet.
Tagtäglich spürt man die südafrikanische Kultur, in der Tanz und Musik fest verankert sind: Eingeleitet wird der Tag durch gemeinsame Gebetsstunden und Gesänge. Es wird gemeinsam gekocht, gegessen und gespielt. Gerade dieses Gemeinschaftsgefühl unterstützt die Patienten in der Krankheitsbewältigung und Sterbephase. Es wird die Möglichkeit geboten, über Ängste und Emotionen zu sprechen. Jedoch, selbst unter größten Schmerzen und Qualen, bekamen Pflegende auf die Frage nach dem Befinden des Patienten immer die Antwort: „Thanks Mam, I am fine“. Würdevoll werden die PatientInnen in der Sterbephase durch individuelle, afrikanisch-kulturelle Maßnahmen betreut: Die Gemeinschaft singt und betet für den Sterbenden, schafft auf Wunsch Ruhe und Rückzugsmöglichkeiten für den Patienten, unterstützt und integriert die Angehörigen in Bezug auf den Sterbeprozess.
Trotz vieler positiver Erfahrungen gab es Geschichten der PatientInnen und einheimischen MitarbeiterInnen, die nachdenklich stimmten: Denn noch heute ist die Erkrankung an HIV/Aids mit großen Stigmata besetzt (Singh et al., 2011): Direkte Vorurteile und Diskriminierung in Form von verbaler und psychischer Gewalt oder direkter Ablehnung führen bei den Erkrankten zu Gefühlen von Schuld, Schande, sozialem Rückzug und Minderwertigkeit (Herek, 2002, Drewes, 2013). Auch die Patienten des Hospizes "Rivoningo Care Centre" sprachen von direkter Ablehnung im Familien- und Verwandtenkreis. Dies empfanden die Patienten, zusätzlich zu den Symptomen und dem Leiden der Erkrankung, als eine sehr schmerzvolle Erfahrung. Die Angst vor Stigmatisierung führt somit häufig dazu, dass viele Menschen mit HIV und Aids ihre Erkrankung vor dem sozialen Umfeld, ÄrztInnen sowie KollegInnen geheim halten (Stürmer and Salewski, 2009).
Auch pflegende Angehörige und das Gesundheitspersonal sind dieser Diskriminierung ausgesetzt: Obwohl sie selbst nicht mit HIV infiziert sind, erleben südafrikanische Pflegefachpersonen, die HIV- und Aids-PatientInnen betreuen, diskriminierendes Verhalten in Form von Ablehnung und Unverständnis (Singh et al., 2011). Bedingt durch das Leid der Patienten, die hohe Sterberate und der bestehenden Diskriminierung empfinden südafrikanische Pflegefachpersonen die Arbeit als hohe emotionale Belastung: Hoffnungslosigkeit, emotionaler Stress, Frustration und das Gefühl des „ausgebrannt seins“ werden in einer qualitativ durchgeführten Studie zur Wahrnehmung von Pflegenden mit HIV- und Aids-PatientInnen im Gesundheitssektor Südafrikas beschrieben (Smit, 2004).
Auch in der Schweiz wissen wir aus unserem klinischen Alltag, wie anspruchsvoll die Palliativbegleitung sein kann. Sich diesen Herausforderungen zu stellen, wenn es sogar an Schmerzmitteln und Verbandsmaterial mangelt, scheint für uns nur schwer vorstellbar, wo wir doch mit materiellen Ressourcen gut abgedeckt sind. Dass PatientInnen selbst unter offensichtlichen Qualen Zufriedenheit signalisieren, dafür finden wir kaum Worte. Mit der Begleitung von HIV und Aids-PatientInnen am Ende des Lebens sind wir hier nicht im selben Masse konfrontiert, wie unsere Berufskolleginnen und Kollegen in Südafrika. Auch unter erschwerten Bedingungen leisten die Pflegenden und vor allem die Patienten Herausragendes. Wir danken dem "Rivonigo Care Centre" für diesen Einblick. Sie sind „die kleinen Leute an kleinen Orten, die viele kleine Dinge tun und das Gesicht der Welt verändern können".