By Susanne Rohner
Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung ist universell gültig. Alle Länder sind verpflichtet, sie umzusetzen, und zwar sowohl im internationalen als auch im nationalen Kontext. Wo steht die Schweiz bezogen auf die sexuelle und reproduktive Gesundheit und die dazugehörenden Rechte? Ein Blick auf die vorläufige Bestandesaufnahme des Bundes im Sommer 2017 zeigt, dass gerade in diesem Bereich griffige Zielsetzungen fehlen. „Leaving no one behind“ bedeutet zudem, dass die Schweiz auch auf nationaler und kantonaler Ebene aktiv werden muss. Gefordert ist mehr Kohärenz zwischen internationalen und nationalen Strategien.
Für das Thema sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte sind verschiedene Zielsetzungen und Targets wichtig, allen voran Ziel 3 zu Gesundheit und Wohlergehen (1) sowie Ziel 5 zu Geschlechtergleichheit (2). Aber auch Ziel 1 zu Armut, Ziel 4 zu Bildung insbesondere im Bereich Menschenrechte, Geschlechtergleichstellung und Gewaltlosigkeit sowie Ziel 10 zur Reduzierung von Ungleichheit und Ziel 16 zu Frieden, Gerechtigkeit und starken Institutionen sind von Bedeutung. Denn Gesundheit insbesondere mit Bezug auf Sexualität und Reproduktion steht im Zusammenhang mit den anderen Zielsetzungen und ist abhängig davon, ob die Menschenrechte respektiert, geschützt und gewährleistet werden. Für die Realisierung der sexuellen Rechte - das sind auf den Bereich der Sexualität bezogene Menschenrechte - ist der Leitsatz „Leaving no one behind“ unerlässlich.
Von all den Targets respektive Unterzielen, die für das Thema der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und der sexuellen Rechte relevant sind, stechen vor allem zwei hervor: Erstens 3.7 „bis 2030 den allgemeinen Zugang zu sexual- und reproduktionsmedizinischer Versorgung, einschliesslich Familienplanung, Information und Aufklärung, und die Einbeziehung der reproduktiven Gesundheit in nationale Strategien und Programme gewährleisten“ sowie 5.6: „den allgemeinen Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheit und reproduktiven Rechten gewährleisten, wie im Einklang mit dem Aktionsprogramm der Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung, der Aktionsplattform von Beijing und den Ergebnisdokumenten ihrer Überprüfungskonferenzen vereinbart“.
Ein Blick auf die vorläufigen Ergebnisse des Bundes zur Bestandesaufnahme betreffend Umsetzung der Agenda 2030 zeigt, dass sich die Schweiz ausgerechnet zu diesen zwei Targets keine Ziele gesetzt hat. „La Suisse n’a pas d’objectif au niveau fédéral (objectif de politique intérieure)“ steht lapidar in der vorläufigen Erhebung. Dies erstaunt umso mehr, weil es die grosse Ausnahme ist, dass bei einem der 169 Targets eine Zielsetzung des Bundes fehlt. SEXUELLE GESUNDHEIT Schweiz hat im Sommer an der Konsultation zur Bestandesaufnahme teilgenommen, zu der die Behörden die Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft eingeladen hatte, und dabei diese Lücken kritisiert. SEXUELLE GESUNDHEIT Schweiz fordert, dass die Schweiz auch für die Targets 3.7 und 5.6 griffige Zielsetzungen und dazugehörige Indikatoren definiert.
Im Kontext der internationalen Zusammenarbeit ist das Thema der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte bereits gut verankert. Die Förderung der Mutter-Kind-Gesundheit und der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte gehören zu den Zielen der Schweizerischen Gesundheitsaussenpolitik (3) und ist auch für die Deza (4) ein prioritäres Thema (5). Auch im Themenfeld Geschlechtergleichstellung wird in einem soeben erschienenen Strategiepapier des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) die Bedeutung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte hervorgestrichen: Die erste EDA-Strategie zu Geschlechtergleichstellung und Frauenrechten, welche Anfang September veröffentlicht wurde, nennt die Förderung der Rechte im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit als eines der fünf strategischen Ziele (6). Auf der Basis des Aktionsprogramms der UNO-Weltbevölkerungskonferenz in Kairo will sich die Schweiz im politischen Dialog für die Rechte im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit engagieren und auch im Rahmen der Entwicklungsprogramme den Zugang zu qualitativ hochstehender Versorgung unterstützen. Die entsprechenden Leistungen sollen auf die Bedürfnisse der Frauen, einschliesslich junger Frauen, abgestimmt sein und zur Prävention von frühen und ungewollten Schwangerschaften oder sexuell übertragbaren Infektionen wie HIV beitragen. Auch eine umfassende Sexualaufklärung soll gefördert werden.
Angesichts dieser bestehenden aktuellen strategischen Dokumente zu Gesundheit und Geschlechtergleichstellung mit klaren Positionen betreffend der Förderung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte ist es nur ein kleiner Schritt, diese auch mit Bezug auf die nachhaltigen Entwicklungsziele umzusetzen. Das heisst, die Schweiz muss ihre Hausaufgaben machen und griffige Zielsetzungen und zu Target 3.7 und 5.6 definieren.
Ein weiterer Handlungsbedarf bei der Umsetzung der Agenda 2030 besteht in der Herstellung von Kohärenz zwischen der internationalen und nationalen Ebene. Die Agenda 2030 ist universell gültig, das bedeutet, die Schweiz muss die nachhaltigen Entwicklungsziele im Gegensatz zu den Millennium-Entwicklungszielen auch auf nationaler Ebene umsetzen. Sie ist damit beispielsweise dazu verpflichtet, dass auch in der Schweiz der Zugang zu Informationen und Dienstleistungen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit gewährleistet ist. Wendet man als Massstab den Leitsatz „Leaving no one behind“ an, dann gibt es auch in der Schweiz noch einiges zu tun, denn für bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Asylsuchende, Migrant_innen, Jugendliche, LGBTI-Personen und Menschen mit Behinderung ist der Zugang zu SRHR-Dienstleistungen inklusive Verhütungsmitteln nach wie vor erschwert. Auch in der Frage der Sexualaufklärung besteht in der Schweiz grosses Verbesserungspotenzial, sind doch einige Kantone noch weit von einer umfassenden Sexualaufklärung basierend auf WHO-Standards entfernt, welche alle Kinder und Jugendlichen erreicht. Die Schweiz wurde im Rahmen von UNO-Monitoring-Prozessen zu CEDAW oder dem Universal Periodic Review bereits wiederholt auf solche Lücken hingewiesen und aufgefordert, korrigierende Massnahmen zu ergreifen. Die konsequente Umsetzung der Agenda 2030 auch in der Schweiz könnte diese Lücken schliessen. Dazu braucht es allerdings einen umfassenden Ansatz, der die sexuelle und reproduktive Gesundheit in nationale Strategien und Programme einschliesst, auf den Menschenrechten basiert und auch weitere Themen wie gender based violence einbezieht.
„Die Förderung der Mutter-Kind-Gesundheit und der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte gehören zu den Zielen der Schweizerischen Gesundheitsaussenpolitik“. EDA-Strategie zu Geschlechtergleichstellung.
Im Deza-Dokument Gesundheit – eine Priorität der Deza ist „die Gesundheit von Müttern, Neugeborenen und Kindern sowie die sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte stärken als eines der drei thematischen Schwerpunkte für eine bessere Gesundheit aufgeführt.
Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit: Gesundheit – eine Priorität der Deza (pdf)
Eidgenössisches Department für auswärtige Angelegenheiten: EDA-Strategie zu Geschlechtergleichstellung und Frauenrechten, September 2017