By Sybille Roter
Chancenungleichheit und mangelnde soziale Teilhabe sind die Hauptthemen der armutsbetroffenen Stadtführenden auf den 15 verschiedenen Touren der Sozialen Stadtrundgänge in Bern, Basel und Zürich. Diese Sozialtouren wurden 2013 als Pilotprojekt in der Schweiz lanciert und haben seither über 62'000 Besuchende für die strukturellen Hintergründe von Ausgrenzung und Armut in der reichen Schweiz sensibilisiert. Anhand ihrer Biografien erzählen ehemalige obdachlose und armutsbetroffene Männer und Frauen über ihre Lebensbrüche, mangelnde Chancen in ihren Herkunftsfamilien und ihren vorgezeichneten Weg in die Armut. Denn nicht nur Reichtum wird vererbt, auch die erlebte Armut prägt die nächste Generationen: Armut macht stumm, unsichtbar und krank.
Seit 1998 eröffnet Surprise neue Perspektiven für sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Das Unternehmen mit sozialem Zweck ist als Verein organisiert und Mitglied des Dachverbandes INSP – International Network of Street Papers – mit 120 Strassenzeitungen aus 35 Ländern. Über 420 Armutsbetroffene aus 32 Nationen verkaufen das Strassenmagazin (22 000 Exemplare pro Ausgabe) in der Schweiz und erwirtschaften sich ein eigenes Einkommen. Sie alle werden in ihrem oftmals schwierigen Alltag bei Problemen unterstützt. Weitere Angebote sind der Surprise-Strassenchor und der Strassenfussball. Die besten Schweizer Strassenfussballer haben die Chance für eine Teilnahme am internationalen Homeless Worldcup. In den über 60 Café Surprise in der deutschsprachigen Schweiz können armutsbetroffene Personen zudem gratis einen Kaffee trinken. Das gemeinsame Ziel der verschiedenen Angebote sind Erwerbsmöglichkeiten, soziale Teilhabe und gesellschaftliche Sensibilisierung.
Die über 400 Surprise-Verkaufenden auf der Strasse sind die Gesichter der Armut – die Stadtführenden der Sozialen Stadtrundgänge sind die Stimmen der Armut. Diese Sozialtouren gibt es in ca. 30 internationalen Städten wie Wien, Athen oder Manchester. Die Schweizer Stadtführenden erzählen auf ihren Touren über die vielen Wege in die Armut und die bestehende Chancenungleichheit in einem der reichsten Länder weltweit. Anhand ihrer Lebensgeschichten erzählen sie über ihre mangelnden Chancen in ihren Herkunftsfamilien und die Lebensumstände, die sie in die Armut geführt haben sowie über Missbrauch, Gewalt und ihre Befreiung aus der Opferrolle. Sie erzählen über Schulden, die sie nie wieder zurückzahlen können, über Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit sowie über ihre mangelnde Gesundheitsversorgung. Und sie zeigen den Besuchergruppen die Institutionen, die sie in ihrer schwierigen Situation unterstützen – wie Gassenküchen, Notschlafstellen, Beratungsstellen oder verschiedene Ambulatorien. Viele der Verkaufenden und Stadtführenden sind oder waren nicht krankenversichert – sie sind angewiesen auf diese Gratis-Angebote. Seit 2018 berichten die ersten vier Frauen darüber, was es bedeutet, als Frau schutzlos auf der Gasse zu leben. Sie erklären, warum obdachlose Frauen auf der Strasse fast nicht sichtbar sind; warum sie ihre prekäre Lebenssituation lange verstecken oder welche Strategien Frauen entwickeln, um Gewalt und Ausgrenzung zu vermeiden. Wenn man die Lebenswege dieser Frauen und Männer versteht, erkennt man das gesellschaftliche System der Armut. Denn Armut wird vererbt: Die Herkunftsfamilie entscheidet bereits in früher Kindheit über künftige Chancen oder mangelnde Entwicklungsmöglichkeiten.
Dank gemeinsamer Reflexion der Lebensgeschichten und intensiver Prozessbegleitung erhalten die Stadtführenden nach jahrelanger Stellenlosigkeit erstmals wieder eine Arbeits- und dadurch neue Lebensperspektiven. Während ihrer Ausbildung werden sie zu ExpertInnen der vielfältigen Folgeerscheinungen von Armut und Ausgrenzung. Das Konzept der Sozialen Stadtrundgänge ist dem Peer-Ansatz verwandt, der in der Sozialen Arbeit und der Psychiatrie in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat: Betroffene werden zu Peers, die als ExpertInnen ihr Erfahrungswissen weitergeben und eine wichtige Aufklärungsarbeit leisten. Denn eines der Hauptziele dieser Touren ist das Durchbrechen von gesellschaftlichen Schuldzuweisungen und Schuldgefühlen der Betroffenen im Rahmen der vielen persönlichen Begegnungen auf den Touren.
Armut ist selten öffentlich und hat viele Folgen für die Betroffenen, z.B. das Gefühl von Scham sowie mangelnde soziale Teilhabe in der Gesellschaft. Armut macht stumm, unsichtbar und krank – trotz verschiedenster Unterstützungsangeboten. Genau darüber berichten die Stadtführenden auf ihren Touren und möchten die Gesellschaft für die Armutsthematik sensibilisieren. Auf den Touren geben sie einen authentischen Einblick in ihr Leben und berichten über ihren Kampf gegen Ausgrenzung für Würde und Anerkennung. Sie haben den Kreislauf von Schuldgefühlen und Schuldzuweisungen durchbrochen. Die Anforderungen an die künftigen Stadtführerinnen sind hoch. Deshalb ist die monatelange intensive Vorbereitung besonders wichtig und zugleich eine Vorbereitung für ihre neue Rolle: Die Stadtführerinnen gehen während dieser Ausbildung den Weg von Armutsbetroffenen zu Armutsexpertinnen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie hilft, die oftmals verdrängte Vergangenheit fassbarer zu machen. Die bisherigen Erfahrungen mit den Stadtführenden in Basel, Zürich und Bern zeigen, dass viele positive Veränderungen möglich sind. Einige konnten nach vielen Jahren erstmals wieder eine Krankenversicherung abschliessen oder fanden über Surprise ein Zimmer, neues Selbstvertrauen, neue Beziehungen, ein (zusätzliches) Einkommen und schlussendlich: neue Lebensperspektiven. Die positiven Feedbacks zeigen: Die Besuchenden sind dankbar für diesen Perspektivenwechsel. Der direkte Austausch auf den Touren hilft, gesellschaftliche Gräben zu überwinden. Die emotionale Betroffenheit der Besuchenden führt dazu, dass Armutsbetroffene weniger stigmatisiert werden.
Aktuell sind laut Caritas 1'245'000 Personen in der Schweiz von Armut betroffen. In vielen Ländern bedeutet Armut, kein Dach über dem Kopf zu haben. In der Schweiz hingegen ist arm, wessen Lohn nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt zu bewältigen, wer sich beispielsweise weder Krankenkasse noch angemessenen Wohnraum leisten kann und für den ein Zahnarztbesuch unerschwinglich ist. Viele Obdachlose sind gesundheitlich angeschlagen. Besonders psychische Probleme sind sehr weit verbreitet. Zudem werden psychisch Erkrankte schneller aus der Psychiatrie entlassen. Fehlt eine adäquate Betreuung, können die Betroffenen auf der Strasse landen. Armutsgefährdete Menschen haben überdurchschnittlich häufig Schulden, wobei Krankenkassenprämien und Steuern die häufigsten Zahlungsrückstände sind. Armut bedeutet eine verkürzte Lebenserwartung um mehrere Jahre: die sozialen Umstände und die finanzielle Situation sind die wichtigsten Risikofaktoren für die Gesundheit und haben einen entsprechend starken Einfluss auf die Lebenserwartung.
Wer künftig seine Krankenkassenprämien nicht bezahlt, wird in verschiedenen Kantonen nur noch in Notfällen ärztlich behandelt. Chronisch Kranke erhalten nicht mehr ihre Medikamente. Das geänderte Krankenversicherungsgesetz ermöglicht solch harte Methoden. Zwar dürfen die Kassen keine Leistungssperren mehr verhängen, dafür haben Kantone die Möglichkeit, PrämienschuldnerInnen zu disziplinieren: Wer seine Prämien auch nach einer Betreibung der Krankenkasse nicht bezahlt, kann vom Kanton auf eine «schwarze Liste» gesetzt werden und wird dann nur noch in Notfällen behandelt und mit Medikamenten versorgt. Aufgehoben wird der Leistungsstopp erst, wenn der Kanton eingesprungen ist und 85 Prozent der offenen Forderungen bezahlt hat. Das kann bis zu zwei Jahren dauern.
Nicht alle Personen, die Anspruch auf Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, IV oder Prämienverbilligungen haben, beziehen diese Gelder – das betrifft auch viele Surprise-Verkaufende und die Stadtführenden. Wie viele Betroffene auf staatliche Unterstützung verzichten, obwohl sie Anspruch darauf hätten, lässt sich nicht genau beziffern. Schätzungen im Bereich der Sozialhilfe reichen von einem Viertel bis zu 65 Prozent der Betroffenen. Die Folge ist, dass sich diese Personen so stark einschränken, dass sie sich nicht mehr richtig ernähren und zu spät zum Zahnarzt oder zum Arzt gehen.
Bis jetzt ist die Situation in der Schweiz so geregelt, dass Kinder ab dem 18. Lebensjahr die Schulden Ihrer Eltern übernehmen müssen, wenn diese die Krankenkassenprämien ihrer Kinder nicht bezahlen können. Kinder und Jugendliche können von Gesundheitsleistungen ausgeschlossen werden, was eine starke Beeinträchtigung der Startchancen dieser Jugendlichen ins Erwachsenenleben bedeutet. Denn damit ist der Weg der nächsten Generation vorgezeichnet: Denn nicht nur Reichtum wird vererbt, auch die erlebte Armut prägt die nächste Generationen: Armut macht stumm, unsichtbar und krank.