Gemeindebasierte Rehabilitation (CBR) als Erfolgsstrategie

Wir haben viel erreicht, aber der Weg ist noch lang!

By Michael Kleutgens

Weltweit werden Millionen von Menschen auf Grund körperlicher oder geistiger Beeinträchtigungen diskriminiert und systematisch von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen. In den Ländern des globalen Südens ist ihre medizinische Versorgung zusätzlich oft prekär und integrale Rehabilitationsangebote sind weitgehend inexistent. Während sich im Norden häufig Fachstellen und Stiftungen für die Belange von Menschen mit Beeinträchtigung einsetzen, sind es in vielen Ländern Lateinamerikas Selbstorganisationen von Betroffenen, die für die Durchsetzung ihrer Rechte kämpfen – so auch „Los Angelitos” in El Salvador zeigt.

Reading time 5 min
Wir haben viel erreicht, aber der Weg ist noch lang!
Eltern mit ihren Kindern auf dem Weg zum Parlament, um die Verabschiedung des Inklusionsgesetzes einzufordern. Foto: © Los Angelitos


Situation der Menschen mit Beeinträchtigung in El Salvado

Am 3. Mai 2008 trat in El Salvador die „Konvention über die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigung” in Kraft. Doch die erreichten Veränderungen in der öffentlichen Behindertenpolitik haben für die grosse Mehrheit der Menschen mit Beeinträchtigung noch nicht zu einer wesentlichen Verbesserung der konkreten Lebensbedingungen geführt.

Laut der im Jahr 2015 durchgeführten landesweiten Erhebung zur Situation von Menschen mit Beeinträchtigung leben in El Salvador über 343’000 Erwachsene mit Beeinträchtigung (7.9% der Bevölkerung von 18 Jahren und mehr), und fast 120'000 Kinder und Jugendliche ab 2 Jahren (6.0% der Bevölkerung von 2 bis 17 Jahren) (UNICEF 2015).

Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen erhalten weiterhin keinerlei staatliche finanzielle Unterstützung. Sozialdienste oder Pflegedienste sind inexistent, staatliche Therapieangebote gibt es praktisch nur in der Hauptstadt und in zwei weiteren Städten des Landes. 63,9 % der Menschen, die Rehabilitationsmassnahmen brauchen, erhalten diese nicht. Es existiert zwar offiziell eine „inklusive Bildungspolitik” aber mindestens 40% der Kinder mit Beeinträchtigung gehen nicht zu Schule (UNICEF 2015).



Einzeltherapie im dörflichen Rehazentrum, wo Rehapromotor*innen und Familienangehörige zusammenarbeiten. Foto: © Los Angelitos <br>
Einzeltherapie im dörflichen Rehazentrum, wo Rehapromotor*innen und Familienangehörige zusammenarbeiten. Foto: © Los Angelitos


Auswirkungen der Pandemie

Die Pandemie hat die Lage verschlimmert. Monatelang wurden die „normalen“ Sprechstunden in Gesundheitszentren und Spitälern ausgesetzt. Der Busverkehr wurde eingestellt. Die staatlichen Reha-Zentren und Schulen wurden geschlossen. Dringend notwendige Medikamente wurden nicht mehr abgegeben, und die Menschen mussten – sofern sie die finanziellen Möglichkeiten dazu hatten – die Medikamente selbst kaufen. Zwischen März und September 2020 fühlte sich auch die Elternorganisation „Los Angelitos“ gezwungen, ihre gesamte Arbeit einzustellen. Die Lage der Menschen mit Beeinträchtigung ist äusserst prekär!

Die Eltern- und Familienorganisation von Kindern mit Beeinträchtigung „Los Angelitos” möchte diese Situation verändern. Sie wird seit ihrer Gründung im Jahr 2004 von medico international schweiz in ihrer Arbeit unterstützt wird.

"Sozialdienste oder Pflegedienste sind inexistent, staatliche Therapieangebote gibt es praktisch nur in der Hauptstadt und in zwei weiteren Städten des Landes. 63,9 % der Menschen, die Rehabilitationsmassnahmen brauchen, erhalten diese nicht."

Das Konzept der “Beeinträchtigung” und die notwendigen Konsequenzen

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen führt aus: „…dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern,” (CRPD, 2006, Prämbel).

Beeinträchtigung ist kein medizinisches Problem. Das Problem ist die (Be)hinderung an der vollen wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft. „Behindertenarbeit“ muss also konsequenter Weise an zwei Punkten ansetzen: Es braucht konkrete und individuelle Therapiemassnahmen für Menschen mit Beeinträchtigung genauso wie den sozialpolitischen Kampf, um die verschiedenen Hürden, welche Menschen mit Beeinträchtigungen täglich erfahren, abzubauen.


Wegen der Coronapandemie konnte das nationale Sportfest dieses Jahr nur regionalund mit kleinen Gruppen durchgeführt werden. Foto: © Los Angelitos <br>
Wegen der Coronapandemie konnte das nationale Sportfest dieses Jahr nur regionalund mit kleinen Gruppen durchgeführt werden. Foto: © Los Angelitos


Gemeindebasierte Rehabilitation (CBR) als Strategie

Die Elternorganisation „Los Angelitos” stützt sich auf die gemeindebasierte Rehabilitation als Arbeitsstrategie, wobei der Ausdruck „Gemeinde” als „Beziehungsraum” verstanden wird, der sowohl auf lokaler, als auch auf nationaler Ebene geschaffen werden muss. Viele Hindernisse lassen sich auf lokaler Ebene nicht eliminieren, da Entscheidungskompetenzen nicht bei lokalen Akteuren liegen. Die entscheidende Frage ist also:Auf welcher Basis kann die so verstandene “Gemeinde” gestaltet werden?

In Bezug auf staatliche Instanzen – lokal oder national – bilden die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigung die Grundlage zur Konstruktion dieses „Beziehungsraums”. Bezogen auf zivilgesellschaftliche Akteure wird „Gemeinde“ durch gegenseitige Unterstützung und Solidarität aufgebaut. Rehabilitiert werden müssen schliesslich nicht nur die Personen mit einer Beeinträchtigung, sondern vor allem auch das gesamte Umfeld. Inklusion bedeutet letztendlich, eine barrierefreie Gesellschaft zu errichten, in der alle Menschen – unabhängig von ihren individuellen Konditionen – ihre gleichberechtigte Teilhabe verwirklichen können.


Die Arbeitsschwerpunkte von „Los Angelitos“

Ausgehend von diesen Überlegungen haben „Los Angelitos” vier Arbeitsfelder im Rahmen der gemeindebasierten Reha-Arbeit definiert:

  1. Die Förderung der Selbstorganisation der Betroffenen, damit sie ihre eigene Zukunft bestimmen können. Sie sind die Expert*innen und setzen die Prioritäten und die Modalitäten ihres Kampfes;
  2. Die politische Einflussnahme auf der Grundlage von auf konstitutionellen Rechten basierenden Forderungskatalogen, die sowohl auf lokaler als auch nationaler Ebene von den organisierten Familien ausgearbeitet werden;
  3. Konkrete Rehamassnahmen, die für die Gewährleistung der grösstmöglichen Autonomie der Menschen mit Beeinträchtigungen unabdingbar sind. Unterstützung erhalten die Familien dabei von organisationseigenem Fachpersonal und angelernten Rehapromotor*innen; und
  4. Die soziale Inklusion als Oberziel der Arbeit der Elternorganisation. Mit der Durchführung konkreter Aktionen im sportlichen, kulturellen, schulischen und auch im wirtschaftlichen Bereich soll exemplarisch aufgezeigt werden, dass die Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen möglich ist.

Durch die Bereitstellung der notwendigen Finanzmittel für die Organisations- und Schulungsarbeit und durch das enorme Engagement von Basis- und Vorstandsmitglieder ist es gelungen, eine kontinuierlich arbeitende Selbstorganisation von etwa 600 Familien mit Kindern mit Beeinträchtigung aufzubauen, die inzwischen zu einer anerkannten, wenn auch oft unbequemen Ansprechpartnerin für staatliche und nicht staatliche Akteure im Land geworden ist.

"Rehabilitiert werden müssen schliesslich nicht nur die Personen mit einer Beeinträchtigung, sondern vor allem auch das gesamte Umfeld. Inklusion bedeutet letztendlich, eine barrierefreie Gesellschaft zu errichten, in der alle Menschen – unabhängig von ihren individuellen Konditionen – ihre gleichberechtigte Teilhabe verwirklichen können."
Wegen der Coronapandemie konnte das nationale Sportfest dieses Jahr nur regionalund mit kleinen Gruppen durchgeführt werden. Foto: © Los Angelitos <br>
Wegen der Coronapandemie konnte das nationale Sportfest dieses Jahr nur regionalund mit kleinen Gruppen durchgeführt werden. Foto: © Los Angelitos

Erfolge sind möglich

Der vielleicht wichtigste Erfolg, den die Organisationen von Menschen mit Beeinträchtigung in El Salvador bisher erzielt haben, ist die Verabschiedung des „Gesetzes zur Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigung“ durch das Parlament. Am 1. Januar 2021 trat es in Kraft. Der Gesetzentwurf wurde von den Organisationen selbst ausgearbeitet und 2016 ins Parlament eingebracht. Das Gesetz erkennt u.a. die uneingeschränkte Rechtsfähigkeit aller Menschen mit Beeinträchtigung an, stellt die paritätische Besetzung des „Nationalrates zur Inklusion“ (CONAIPD) zwischen Organisations- und Regierungsvertretern auf eine gesetzliche Grundlage, verpflichtet alle staatlichen Instanzen, spezifische Finanzmittel in ihren jeweiligen Jahresbudgets für die Behindertenarbeit auszuweisen, legt erstmals das grundsätzliche Recht der Menschen mit Beeinträchtigung auf staatliche finanzielle Unterstützung fest und definiert klare Sanktionen im Falle der Zuwiderhandlung.

Das Gesetz durchzusetzen, war keine einfache Aufgabe. Es erforderte unzählige Gespräche mit Abgeordneten, die Durchführung von Grossdemonstrationen, vielfache Medienkampagnen und die Teilnahme an unzähligen parlamentarischen Ausschusssitzungen. Noch ist es zu früh, konkrete Verbesserungen der Situation von Menschen mit Beeinträchtigungen zu konstatieren, zumal die entsprechenden Ausführungsbestimmungen noch nicht verabschiedet wurden, was in diesem Jahr erfolgen muss. Es bleibt also noch viel zu tun!

"Der vielleicht wichtigste Erfolg, den die Organisationen von Menschen mit Beeinträchtigung in El Salvador bisher erzielt haben, ist die Verabschiedung des „Gesetzes zur Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigung“ durch das Parlament. Am 1. Januar 2021 trat es in Kraft. Der Gesetzentwurf wurde von den Organisationen selbst ausgearbeitet und 2016 ins Parlament eingebracht. Das Gesetz erkennt u.a. die uneingeschränkte Rechtsfähigkeit aller Menschen mit Beeinträchtigung an."

Nichts über uns, ohne uns!

Intern besteht die aktuelle und zukünftige Herausforderung von „Los Angelitos” darin, den Kindern und Jugendlichen selbst, mehr Mitspracherechte innerhalb und ausserhalb der Organisation zu verschaffen. Noch sind es hauptsächlich ihre Eltern, die Entscheidungen treffen, aber das soll sich in Zukunft ändern. Die Jugendlichen und inzwischen jungen Erwachsenen sollen zunehmend an den organisationsinternen Entscheidungen beteiligt werden, damit ihre Autonomie sowohl organisationsintern, aber auch innerhalb ihrer eigenen Familien undihrer Gemeinden gestärkt wird. Der 2019 begonnene Prozess mit ersten Treffen der Jugendlichen und ersten von ihnen selbst organisierten Aktivitäten, wurde durch die COVID-19 Pandemie im Jahre 2020 abrupt unterbrochen und kann erst jetzt, im Frühjahr 2021, mit vielen Einschränkungen wieder aufgenommen werden.

Der Weg ist noch lang, aber der Kampf geht weiter!

medico international schweiz ist eine zukunftsorientierte Organisation der Entwicklungszusammenarbeit und setzt sich für eine ganzheitliche, basisorientierte und dem lokalen Kontext angepasste Gesundheitsversorgung in Ländern des globalen Südens ein. Mehr Information: www.medicointernational.ch

Seit 2004 unterstützen wir die Arbeit von „Los Angelitos” in El Salvador. Mehr Information zu Los Angelitos: http://www.asociacionlosangelitos.org/


Referencen:
Michael Kleutgens
Michael Kleutgens, deutscher Arzt, lebt seit 34 Jahren in El Salvador. Er arbeitete nach Ende des Bürgerkrieges (1992) zunächst mit der Organisation der Kriegsbehinderten und war einer der Initiatoren zur Gründung der Elternorganisation von Kindern mit Beeinträchtigung „Los Angelitos“ im Jahr 2004. Bis zu seiner Pensionierung (2019) war er verantwortlich für die Rehaarbeit. Heute ist er für die internationalen Kontakte der Organisation verantwortlich. Email