By Joris Fricker
Vom 12. - 14. Februar 2021 fand die von medico international Deutschland organisierte virtuelle Konferenz «Rekonstruktion der Welt» mit über 4000 Teilnehmer*innen statt. Dabei kamen viele verschiedene gesellschaftspolitische Problemzonen zur Sprache, die dem Umdenken zur Rekonstruktion dieser Welt dienen sollten. Auch das Flüchtlingslager Moria war Teil der Konferenzdebatte. Die Expert*innen Maximilian Pichl, Shirin Tinnesand und Jean Ziegler sprachen über die Rolle der Europäischen Union (EU), die Möglichkeiten der Justiz, aber auch über gewisse NGOs, die immer mehr ein Problem darstellen, als dass sie zur Lösung beitragen.
Das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel in der nördlichen Ägäis ist ein Ort des Schreckens. Schon seit Jahren leben dort etwa 12'000 bis 20'000 Menschen, obwohl das Camp lediglich eine Kapazität von 2'800 Menschen aufweist. Neben dem Umstand, dass die hygienischen Bedingungen nie ansatzmässig menschenwürdig waren, kam im letzten Jahr noch Covid-19 dazu. Während im Rest Europas alles dicht machte, die Menschen grösstenteils in der warmen Stube sassen und auf sinkende Fallzahlen hofften, blieben die Geflüchteten auf Moria dem Virus ausgesetzt. Schutzmassnahmen und verbesserte Hygiene? Fehlanzeige!
Spätestens die Corona Pandemie hätte ein Zeichen sein sollen, dieses Lager unverzüglich zu räumen und diese Menschen in Europa gerecht und sicher zu verteilen. Dem war nicht so. Man liess es so weit kommen, bis auch im Camp erste Corona Fälle auftraten und stellte dieses unter Quarantäne. Als dann im Oktober ein Feuer ausbrach und das ganze Lager niederbrannte, verschwendete offenbar weder die EU noch die Schweiz auch nur einen Gedanken an eine allfällige Auflösung dieser unhaltbaren Zustände. Lieber baute man ein neues Lager, heute bekannt unter dem Namen Moria 2.0.
Kurz gesagt: Das Flüchtlingslager ist eine Schande. Oder um den Titel von Jean Zieglers Buch zu zitieren, es ist «die Schande Europas». Dass dort Menschen in unhaltbaren Verhältnissen leben, stellte an dieser medico Konferenz und speziell in dieser Runde niemand in Frage. Dass dieses Lager unbedingt evakuiert werden muss oder besser gesagt, schon längst hätte evakuiert werden müssen, ist auch klar. Ebenso offensichtlich ist leider auch, dass dieses Unterfangen schwierig ist, da der politische Wille zur schnellstmöglichen Entfernung dieses Schandfleckens in Europa schlicht nicht existiert.
Spätestens die Corona Pandemie hätte ein Zeichen sein sollen, dieses Lager unverzüglich zu räumen und diese Menschen in Europa gerecht und sicher zu verteilen. Joris Fricker
Aus diesem Grund war dieses Panel, am frühen Freitagabend, so notwendig und spannend. Die verschiedenen Blickwinkel dieser Debatte regten zum Nachdenken an. Maximilian Pichl legte seine Sicht als Jurist auf den Tisch. Wie und ob man gegen diese prekäre Situation in Moria rechtlich vorgehen kann, dieser Aspekt wurde bisher medial noch nie richtig aufgearbeitet. Shirin Tinnesand referierte ihrerseits als Vertreterin der NGO «Stand by me Lesvos», die vor Ort Hilfe leistet. Sie sprach kritisch über die Rolle von Nichtregierungsorganisationen. Als dritter Gast war der renommierte Soziologe und Autor Jean Ziegler mit an Bord. Er legte seine sehr erfahrene Sichtweise dar und sprach, stets in Anlehnung an sein Buch, ebenfalls von der Schuldfrage.
Selten war ein Ort in Europa so abhängig von internationaler Hilfe. Die Regierungen schauen krampfhaft weg und die internationale Solidarität, die während der Flüchtlingskrise 2015 noch teilweise vorhanden war, sucht man vergebens. Das heisst, die Menschen vor Ort sind auf Hilfe angewiesen. Ohne das Engagement von Freiwilligen oder der wichtigen Arbeit gut vernetzter, professioneller NGOs sähe die Situation nochmals ganz anders aus. Die kritische Frage nach der Hilfe wird im Eingangstext von medico international folgendermassen beschrieben: «Wie kann es sein, dass NGOs europaweit mit dem Stichwort „Moria“ Spendengelder einwerben, ohne dass sich die Situation der wenigen tausend Menschen vor Ort merklich verbessert?» Die Antwort lautet: Nicht jede Hilfe ist auch wirklich hilfreich. Wenn plötzlich massenhaft NGOs wie Pilze aus dem Boden schiessen und glauben, ohne jegliche Expertise helfen zu können, ist am Ende niemandem geholfen. Einige dieser Organisationen stellen am Ende eher ein Problem dar, weil sie das System Moria stützen und davon profitieren.
Shirin
Tinnesand ging dieser Frage nach. So meinte sie, wenn das Camp von heute auf
morgen evakuiert werden würde, dann stünden Abertausende ohne Einkommen da. Es
klingt banal und verkehrt, aber die Hilfeleistenden profitieren von der Lage
vor Ort. Tinnesand formuliert es sogar so: «Moria hat sich in eine
kalifornische Goldmine verwandelt!» Das ist tatsächlich ein Aspekt, der sehr
vielen Aussenstehenden gar nicht bewusst ist. Hilfe ist profitabel. Dies führt
dazu, dass viele unqualifizierte Menschen ihre Hilfe anbieten wollen. Dies hat
fatale Folgen für die Lage auf Lesbos, wie Tinnesand in einem weiteren Beispiel
festhält. Während in den Jahren 2015 noch Bauunternehmen für den Bau und den
Unterhalt der Lager zuständig waren, sind heute oft NGOs am Werk, die der
Aufgabe nicht gewachsen sind. Diese erscheinen dann mit unzureichenden
Werkzeugen, wenn sie sich beispielsweise um das Abwasser kümmern.
Zusammengefasst ein weiteres anschauliches Beispiel von Tinnesand: «Wenn jedes Mal, nach dem der Klempner gekommen ist, mein Haus bei Regen trotzdem beschädigt ist, dann würde ich den Klempner auch wegschicken und dann wegen Sachbeschädigung verklagen.» Diese Möglichkeit haben die Geflüchteten leider nicht und auch sonst trägt niemand die Konsequenzen solch fahrlässiger Hilfe. Die Kosten dieser ganzen Rechnung tragen schliesslich die Hilfesuchenden. Denn diese wollen, wie im Falle von Moria, so schnell wie möglich weg von diesem Schandfleck. Sie brauchen dafür keine Pseudo-Hilfsorganisationen, welche die Zustände vor Ort weiter zementieren.
«Wenn jedes Mal, nach dem der Klempner gekommen ist, mein Haus bei Regen trotzdem beschädigt ist, dann würde ich den Klempner auch zuerst wegschicken und dann wegen Sachbeschädigung verklagen.» Shirin Tinnesand
Die Hilfe auf Moria zusammengefasst: Zu viele unqualifizierte Köche verderben den Brei. Nichtsdestotrotz meint Tinnesand am Schluss, gelte die Kritik auch der griechischen Regierung. Denn NGOs könnten schlicht nicht alle Aufgaben und nicht alle Verantwortung übernehmen, diese hiessen nicht umsonst Nichtregierungsorganisationen.
Nach dem über die Frage nach der Hilfe eindrücklich referiert worden war, kamen Maximilian Pichl und Jean Ziegler an die Reihe. Auch sie fanden sehr deutliche Worte für die Situation auf der griechischen Insel. Pichl betont, wie menschenrechtswidrig die Lage seit Jahren ist und dass das Camp Moria ein Ort der kompletten Entrechtung geworden sei. Er nennt zudem die Gründe, wieso ein rechtliches, mit Sanktionen verbundenes Vorgehen derart schwierig ist: «Einerseits hat das Narrativ der humanitären Katastrophe verhindert, dass die Rechte der Geflüchteten ins Zentrum der Debatte gerückt wurden. Auf der anderen Seite gibt es hohe faktische Hürden im europäischen Rechtsschutzsystem, die einen juristischen Angriff auf den Moria-Komplex vor den Gerichten unmöglich machen.»
So beantwortet Pichl eine Frage, die wohl vielen kritisch denkenden Menschen schon lange unter den Nägeln brannte. Eine solch offensichtliche, menschenrechtsverletzende Situation sollte doch vor Gericht angreifbar sein, zumal sich die europäische Union oder auch die Schweiz doch immer mit Menschlichkeit zu brüsten versucht. Die Geflüchteten haben ausserdem eine Vielzahl an faktischen Rechten, die sie einklagen könnten. Menschenrechte sind universell, dennoch ist der Weg zu einem gültigen Gerichtsurteil lange und steinig. Nur selten wird vom juristischem Weg Gebrauch gemacht und wenn, dann meistens erfolglos. Dass ein derartiges Verbrechen an der Menschheit kaum Konsequenzen mit sich bringt, ist schlichtweg skandalös.
Auch Jean Ziegler schlägt in eine ähnliche Kerbe. Er benennt in seinen Ausführungen vor allem den Hauptschuldigen dieser Katastrophe. «Verantwortlich ist die Europäische Union», so nennt Ziegler das Kind beim Namen. Die EU mit all ihren wichtigen Organen schafft den Rahmen für eine gehässige Stimmung gegenüber geflüchteten Menschen. Sie betreibt eine menschenverachtende Grenzpolitik, die dafür sorgt, dass täglich im Schnitt drei Personen im Mittelmeer ertrinken (Geschätzte Anzahl der im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingen zwischen 2014 bis 2021, statista). Ziegler beschreibt derweil auch, was diese Politik für Auswirkungen in den Lagern hat: «Menschen bringen sich um und Kinder verstümmeln sich.» Dies sind direkte Folgen der menschenverachtenden Politik der Europäischen Union, die weiterhin dafür sorgt, dass das universelle Recht auf Asyl missachtet wird. Auch die Grenzschutzagentur Frontex bekommt in Zieglers Ausführungen – zu Recht – ihr Fett weg. Zusammengefasst heisst das, die EU setzt alles daran, mit Abschreckung und dauerhafter Missachtung von fundamentalen Menschenrechten Migrationsströme aktiv zu unterbinden.
Es war von Anfang an klar, in welche Richtung die Diskussionsrunde jener medico Konferenz zum Thema Moria gehen würde: Moria als der inhumanste Ort Europas und als politisches Totalversagen der Europäischen Union. Doch es war nicht nur der Moment, um mit dem Zeigefinger auf die Verursacher dieser Katastrophe zu zeigen. Die Diskussion bot auch die Möglichkeit, das eigene Handeln, Denken und Helfen zu reflektieren und zu hinterfragen. Damit ist nicht gemeint, ob man mit der Forderung nach einer Evakuierung Morias einverstanden ist oder nicht. Vielmehr sollte dieses Panel Anlass geben, den eigenen Hilferuf kritisch einzuordnen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen.
Für alle Interessierten: Die medico Konferenz, insbesondere das Panel zu Moria, gibt es auf YouTube und kann in voller Länge nachgeschaut werden: