Zusammenfassung der Debatte am MMS Symposium 2020

Ein neuer Sozialvertrag für gemeinschaftlich genutzte Gesundheitsdaten

By Martin Leschhorn Strebel

Die Digitalisierung bringt grosse Möglichkeiten schwache Gesundheitssysteme zu stärken und den Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle zu verbessern. Dieses digitale Potential kann aber nur genutzt werden, wenn die internationale Gemeinschaft in einen regulatorischen Rahmen investiert, der Vertrauen schafft. Die Debatte am MMS Symposium hat gezeigt, dass es noch einiges an kritischer Reflexion bedarf.

Reading time 5 min
Ein neuer Sozialvertrag für gemeinschaftlich genutzte Gesundheitsdaten
Governance In The Cloud. Photo: Blue Coat Photos/flickr, CC BY-SA 2.0

Digitale Technologien bieten eine breite Palette an Möglichkeiten, um Gesundheitsprävention zielgruppengerecht zu gestalten und Therapien wirksamer zu machen. Die Nutzung von digitalen Daten helfen Public-Health-Massnahmen angemessen anzuwenden, Krankheitsausbrüche frühzeitig zuerkennen und besser einzugrenzen. Schliesslich erlaubt es die Digitalisierung, Lücken im Gesundheitssystem zu überbrücken und damit das Gesundheitssystem insgesamt zu stärken.


Chancen der Digitalisierung nicht verkennen

Was in der Theorie klar und nachvollziehbar ist, erweist sich in ihrer praktischen Umsetzung als ein Weg voller Stolpersteine. Ein Blick auf die leidvolle Entwicklung der elektronischen Patient*innendossiers in der Schweiz zeigt, welche politischen und rechtlichen Stolpersteine für alle Länder, unabhängig ihres ökonomischen Status bestehen. Gesundheitssysteme brauchen eine Seele und diese Seele ist das Vertrauen, das ihm die Bevölkerung in all seinen Dimensionen entgegenbringt. Dieses Vertrauen gründet letztlich in den sozialen und ökonomischen Verhältnissen und der politischen, rechtlichen und kulturellen Praxis, in welchen das Gesundheitssystem verankert ist.

Als neuer Faktor der Gesundheitsversorgung stellt die Digitalisierung eine Herausforderung für das Vertrauen dar. Je nach länderspezifischem Kontext werden Fragen nach dem Persönlichkeitsschutz oder möglichen Missbrauchs der Gesundheitsdaten laut – sei es durch private Firmen, welche die Daten besitzen, oder durch staatliche Akteure, welche die Daten für repressive Zwecke nutzen wollen. Wem gehören Gesundheitsdaten, wer darf sie in welcher Form nutzen, so dass kein Schaden für die einzelnen Menschen sowie auch für das ganze Gesundheitssystem entsteht?


Foto: Panel am MMS Symposium<br>
Foto: Panel am MMS Symposium


Die Diskussionsrunde am MMS Symposium 2020

Im Zentrum steht die Frage, wie die Vorteile der Digitalisierung für das Gesundheitssystem genutzt werden können, ohne dass die damit verbundenen Herausforderungen und Gefahren, die Chancen wieder zunichte machen. Wie können sich Staaten und die internationale Gemeinschaft einen Rahmen geben, der die Digitalisierung für Gesundheit nachhaltig und sicher gestaltet? Mit der Frage nach einem solchen regulatorischen Rahmen hat sich am MMS Symposium ein Panel von Expert*innen auseinandergesetzt. Diskutiert haben Prof. Dr. Ilona Kickbusch, Co-Vorsitzende der Lancet-Financial Times Commission «Governing Health Futures – growing up in a digital world», Stefan Germann, CEO der Fondation Botnar, Lucy Setjan, Associate Director of HealthTech Innovation der Novartis Foundation und Tatjana von Steiger, stellvertretende Leiterin der globalen Zusammenarbeit der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA).

Ilona Kickbusch legt in ihren Ausführungen einen breiteren Rahmen der Herausforderungen dar, die Digitalisierung und Gesundheit bestimmen. Dazu gehört insbesondere die Dynamik, die nicht unterschätzt werden darf. Ilona Kickbusch: «Als wir vor rund fünf Jahren begonnen haben, über die Kommission nachzudenken, hat es noch ein Internet gegeben. Das ist heute vorbei. Wir sehen, wie sich das Internet auseinanderkoppelt.» Sie unterstreicht, dass wir ganz deutlich das Fehlen einer globalen Gouvernanz erleben, die den Umgang mit den Gesundheitsdaten global regelt, die einen Umgang mit der Datensouveränität sicherstellt und gleichzeitig verhindert, dass eine neue Art des Datenkolonialismus’ entsteht. Ilona Kickbusch denkt, dass «alle Länder – inklusive der Schweiz – herausgefordert sind, die richtige Art von Institutionen aufzubauen, um einen Umgang mit diesen Herausforderungen zu finden.» Die Schweiz sei insbesondere gefordert, mit westlichen Demokratien zusammenzuarbeiten, um zu garantieren, dass der Persönlichkeitsschutz und die Menschenrechte im Umgang mit Gesundheitsdaten sichergestellt sind. Aus einer entwicklungspolitischen Perspektive müsse die Schweiz zudem dazu beitragen, dass der Datenabzug aus dem globalen Süden beendet werde.

"Wir erleben ganz deutlich das Fehlen einer globalen Gouvernanz, die den Umgang mit den Gesundheitsdaten global regelt, die einen Umgang mit der Datensouveränität sicherstellt und gleichzeitig verhindert, dass eine neue Art des Datenkolonialismus’ entsteht." Ilona Kickbusch


Auf dem Weg zu einem neuen Sozialvertrag

Die Lancet-Financial Times Commission, der Ilona Kickbusch angehört, glaubt, dass sehr viel über Datensouveränität und den Persönlichkeitsschutz im Umgang mit Gesundheitsdaten gesprochen wird. Doch unsere Reflexion bezüglich Datensolidarität ist noch viel zu schwach. Wir haben Systeme, wie das Sozialversicherungssystem und wir verfügen über Konzepte, wie Universal Health Coverage, um die Gesundheitssolidarität zu erreichen. Uns fehlt es aber an Ideen, wie Gesundheitsdaten gemeinschaftlich für die öffentliche Gesundheit geteilt und genutzt werden können. «Wir brauchen einen neuen Konsens und einen neuen Sozialvertrag zu den Gesundheitsdaten, den wir zur Zeit nicht haben.»

Stefan Germann von der Fondation Botnar sieht die Debatte auch in einem geopolitischen Kontext: Die Kontrolle von Daten und der künstlichen Intelligenz ist eine der globalen Machtfragen zwischen Europa, den USA, Russland und China. Dies hat Auswirkungen auf den Umgang mit digitaler Gesundheit und dem regulatorischen Rahmen, in welchem sich diese bewegen muss.


Innovation und Regulierung müssen nicht in gegenseitigem Widerspruch stehen

Einen interessanten Weg, wie ein regulatorischer Rahmen gesetzt werden kann, ohne Innovation zu stark zu beschränken, sieht Germann im Beispiel des «Digitalen Versorgung-Gesetzes» (Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation), welches durch das deutsche Bundesministerium für Gesundheit 2019 verabschiedet wurde. Es beschreibt einen klaren gesetzlichen Rahmen für Innovation, der dem Grundsatz folgt, dass kein Schaden angerichtet werden dürfe. Das Beispiel zeige deutlich, dass Innovation und Regulierung nicht in Widerspruch stehen müssen.

"Die Kontrolle von Daten und der künstlichen Intelligenz ist eine der globalen Machtfragen zwischen Europa, den USA, Russland und China. Dies hat Auswirkungen auf den Umgang mit digitaler Gesundheit und dem regulatorischen Rahmen, in welchem sich diese bewegen muss." Stefan Germann

Für Lucy Setian von der Novartis Foundation ist klar, dass Regulierungen unerwünschte Verhaltensweisen im Markt verhindern und letztlich die Endkonsument*innen schützen müssen. Die Frage ist, wie Länder mittleren oder niedrigen Einkommens selbst Regulierungen einsetzen können. Die Novartis Foundation hat im Bundesstaat Sao Paolo in Brasilien ein Programm mitentwickelt, das einen Regulierungsrahmen geschaffen hat, um die innovative Nutzung von Daten im Kampf gegen Covid-19 zu nutzen. Es hat sich als bedeutsam erwiesen, dass ein solcher Rahmen sehr zielgerichtet auf eine spezifische Herausforderung ausgerichtet gewesen ist.

"Regulierungen müssen unerwünschte Verhaltensweisen im Markt verhindern und letztlich die Endkonsument*innen schützen." Lucy Setian


Gut positionierte Schweiz

Tatjana von Steiger der DEZA sieht die Schweiz gut darin positioniert, den politischen Dialog zu Fragen eines ethischen Rahmens digitaler Gesundheitsinnovation auf globaler Ebene zu führen. Die Schweiz kann Brückenbauerin sein, um das Gleichgewicht zwischen Innovation und Regulierung zu finden. Sie kann denjenigen, die keine Ressourcen oder keinen Zugang zu digitalen Gesundheitstechnologien haben, die Plattform bieten, um ihre Stimme einzubringen. Von Steiger hebt aber auch hervor, dass wir keine Gerechtigkeit im Zugang zu digitaler Gesundheit weltweit schaffen, wenn wir nicht in die digitale Kompetenz der Bevölkerungen investieren.

"Wir schaffen keine Gerechtigkeit im Zugang zu digitaler Gesundheit weltweit, wenn wir nicht in die digitale Kompetenz der Bevölkerungen investieren." Tatjana von Steiger


Kein dystopischer Wohlfahrsstaat

In der Tat könne die Schweiz eine positive Rolle auf dem internationalen Parket spielen, um den regulatorischen Rahmen auf internationaler Ebene zu stärken, meint Stefan Germann. Mit der Gesundheitsaussenpolitik (EDA, 2019) hat sich der Bundesrat dazu den notwendigen strategischen Rahmen gegeben. Von Bedeutung ist dabei auch die zivilgesellschaftliche Tradition in der Schweiz, sich für menschenrechtsbasierte Programmzusammenarbeit zu engagieren. Germann: «Und die Menschenrechte sind zentral, wenn wir uns mit digitaler Gesundheit auseinandersetzen und wir nicht im dystopischen, digitalen Wohlfahrtsstaat enden wollen, wo staatliche Überwachung dann vor allem dazu verwendet wird, seine Bürger*innen zu kontrollieren.» Was es insbesondere brauche, sei ein praxisorientiertes Instrumentarium für menschenrechtliche Prüfverfahren zu digitalen Gesundheitstechnologien. Und gerade bei der Entwicklung eines solchen Instrumentariums könne die Zivilgesellschaft einen wichtigen Beitrag leisten.

"Die Kommission spricht auch davon, dass Menschen in den heutigen Gesellschaften über drei Arten von Kompetenzen verfügen müssen: Erstens über Gesundheitskompetenz, zweitens über digitale Kompetenzen und drittens über staatsbürgerliche Kompetenz." Ilona Kickbusch

Ilona Kickbusch weist schiesslich darauf hin, dass die individuellen Rechte mit den öffentlichen Interessen zusammen betrachtet werden müssen. Die Debatte rund um digitale Technologien konzentriere sich sehr stark auf individuelle Persönlichkeitsrechte und auf individuelle Datenrechte. Sie blendet aber die Dimensionen des Gemeingutes völlig aus. «Denken Sie an die Anti-Covid-Debatten, an die Impfdiskussion oder an die Anti-Wissenschaftsdebatte! Diese Debatten führen zu einer Politisierung der Gesundheit und können die öffentliche Gesundheit eines Landes destabilisieren,» hält Ilona Kickbusch fest. Dies führt auch zu einer Politisierung der Debatte rund um die Gesundheitsdatengouvernanz, wie dies noch vor ein paar Jahren undenkbar gewesen sei. Wir seien an einem Punkt, in dem Gesundheitsdebatten auch eine Demokratie an sich destabilisieren kann. Deshalb spricht die Kommission auch davon, dass Menschen in den heutigen Gesellschaften über drei Arten von Kompetenzen verfügen müssen: Erstens über Gesundheitskompetenz, zweitens über digitale Kompetenzen und drittens über staatsbürgerliche Kompetenz.


Referenzen

Martin Leschhorn Strebel
Martin Leschhorn Strebel ist Historiker und Geschäftsführer des Netzwerks Medicus Mundi Schweiz.