By Maja Hess and Sherwan Bery
Seit dem 19. November 2022 fallen erneut türkische Bomben auf die kurdische Region Rojava in Nordostsyrien. Die Zivilbevölkerung und kritische Infrastruktur wie Wasser- und Stromversorgung, Spitäler und Schulen werden gezielt angegriffen. Der Kurdische Rote Halbmond (KRC, für die engl. Initialen) leistet medizinische Erstversorgung an der Front und Nothilfe in den Lagern und Notunterkünften für geflüchtete Menschen. Andere NGOs und internationale Organisationen haben Rojava aus Sicherheitsgründen längst verlassen.
Sherwan Bery (SB): Seit dem 19. November greift die Türkei, mit der Gewährung der USA und Russland, Rojava aus der Luft an. Dörfer werden bombardiert und mit Drohnen werden gezielt Menschen getötet. Wegen der Schäden an der kritischen Infrastruktur gibt es nicht mehr ausreichend Wasser und Strom. Und das mitten im Winter. Es ist sehr kalt und man muss wissen, dass ca. eine Million Menschen in der Region, davon viele Kinder, in Flüchtlingslagern leben!
SH: Wir haben sofort ein Netzwerk mit unseren Ambulanzen aufgebaut, um die medizinische Erstversorgung der Verletzten aus der Zivilbevölkerung und der Selbstverteidigungskräfte, sicherzustellen. Die Ambulanzen mit dem für Notfälle ausgebildeten Gesundheitspersonal sind in die Kriegsgebiete gefahren, um erste Hilfe leisten zu können. Wir richten jeweils sogenannte «trauma stabilization points» ein. Das sind kleine Spitäler oder Zelte mit einem spezialisierten Notfall-Team, wo wir die Erstversorgung und die medizinische Stabilisierung der Verletzten realisieren und wenn nötig die Verletzten ins nächstgelegene Krankenhaus verlegen. Aber wir stellen auch Unterkünfte, Wasser und Nahrung für die Geflüchteten zur Verfügung und sichern damit deren Überleben. Ausserdem haben wir alles unternommen, um unsere Medikamentenvorräte auszubauen, da die Türkei bereits vor einigen Wochen einen Angriff auf Rojava angekündigt hatte.
In Rojava im Nordosten Syriens versucht das kurdische Volk, ein demokratisches konföderales System aufzubauen, mit dem Ziel, dass Menschen unterschiedlicher religiöser und ethnischer Herkunft in Frieden zusammenleben können. In dem autonomen Gebiet von Rojava wird Pluralismus als wichtige Grundlage für den Frieden angesehen, ebenso wie die demokratische Beteiligung aller Gesellschaftsschichten und die Befreiung der Frauen aus dem engen patriarchalen Korsett. Das demokratische Projekt Rojava wird jedoch an mehreren Fronten angegriffen: von der Türkei, von dschihadistischen Milizen und vom Assad-Regime. Außerdem führen geschlossene Grenzen und Sanktionen zu einem De-facto-Embargo gegen Nordsyrien. Unter diesen schwierigen Umständen versuchen die Menschen in Rojava, ihre Revolution zu verteidigen. Im Jahr 2022 feiern sie und viele Solidaritätsbewegungen in aller Welt den 10. Jahrestag der Revolution in Rojava!
Wir sind stark gewachsen und konnten uns professionalisieren. Heute zählen wir ca. 2000 Mitarbeiter*innen, erhalten unter anderem Gelder von der EU und koordinieren mit dem IKRK. Leider sind wir bis heute nicht von der Rotkreuzbewegung akzeptiert.
SH: Im März 2011 begannen in Syrien Proteste und Aufstände. In den darauffolgenden Jahren des Bürgerkrieges stand das Gesundheitssystem vor dem Kollaps. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Regimegegnern und den syrischen Streitkräften forderten viele Verletzte. Dazu kam ab 2012 der Aufstieg des sog. Islamischen Staates (IS), der in brutalster Art und Weise die Zivilbevölkerung in der arabischen Region angriff. Niemand war vor Ort, keine internationalen Organisationen, keine NGOs. Wir taten uns als kleine Gruppe von Leuten mit medizinischem Wissen zusammen und gingen an die Front. Da wir Kurd*innen sind, wussten wir jedoch nicht, wie die arabische Bevölkerung auf uns reagieren wird. Denn für Syrien gab es offiziell nie Kurd*innen! Schliesslich wurden wir sehr gut empfangen und konnten rasch lokale arabische Mitarbeiter*innen gewinnen. Im August 2014 begann der IS die Ezidische Bevölkerung im Shengal anzugreifen und regelrecht zu massakrieren. Niemand war dort: keine UN-Präsenz, kein IKRK. Wir mussten die Leute also unterstützen. Dafür passierten wir illegal die Grenze zum Nordirak. Die militärischen kurdischen Kräfte hatten einen Korridor frei gekämpft. Über 4000 Menschen sassen im Shengalgebirge fest. Dank dieses Korridors konnten sie Richtung Rojava fliehen und wir ihnen aus dem Norden zu Hilfe eilen. Wir sahen schreckliche Dinge… verdurstete Kleinkinder und Säuglinge am Weg, denn im Sommer ist es dort brütend heiss…
SB: Wir hatten eine Menge Energie und einen grossen Willen zu helfen. Wir waren ein Super-Team, alles Freiwillige mit einer hohen Motivation, die Menschen vor dem brutalen Angriff des IS zu retten. Die lokale Bevölkerung aus Rojava hat uns unterstützt. Sie kamen mit Autos den tausenden Ezidischen Menschen auf der Flucht entgegen und nahmen sie mit, versorgten sie mit Wasser und Nahrung. Die ganze Bevölkerung stand hinter uns, das gab uns sehr viel Kraft und Mut! Erst viel später wurde die UN aktiv.
Im August 2014 begann der IS die Ezidische Bevölkerung im Shengal anzugreifen und regelrecht zu massakrieren. Niemand war dort: keine UN-Präsenz, kein IKRK. Wir mussten die Leute also unterstützen.
SH: Das Schlimme heute ist, dass die Grossmächte, die sogenannte Anti-IS-Koalition, über alles entscheiden. Die Türkei holt sich dort die Unterstützung für ihre Angriffe auf das demokratische Projekt Rojava. Es gibt dauernd sogenannte «weiche Angriffe» mit den türkischen Drohnen auf unsere Führungskräfte, insbesondere auf Feministinnen. Bereits 37 Menschen wurden von türkischen Drohnen ermordet. Das ist eine klare Verletzung des internationalen Rechtes – aber die internationale Gemeinschaft schweigt. Ausserdem kontrolliert die Türkei die Wasserzufuhr, sie führen einen regelrechten «Wasserkrieg» gegen Nordostsyrien. Die Ressource Wasser ist überlebenswichtig, zur Bewässerung der Felder aber auch für die Hygiene und Gesundheit der Menschen. Immer öfter gibt es Cholera- und Tuberkulosefälle in der Region.
SB: Wir sind stark gewachsen und konnten uns professionalisieren. Heute zählen wir ca. 2000 Mitarbeiter*innen, erhalten unter anderem Gelder von der EU und koordinieren mit dem IKRK. Leider sind wir bis heute nicht von der Rotkreuzbewegung akzeptiert. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass es in einem Land nur ein Rotes Kreuz oder Roten Halbmond geben kann, und in Syrien ist dies der Syrische Rote Halbmond. In einer zersplitterten und kriegsversehrten Region ist eines unserer grössten Arbeitsgebiete der Gesundheitsschutz in Flüchtlingslagern. Wir arbeiten in 10 Lagern und garantieren dort Trinkwasser und machen Präventionsarbeit. Dabei ersetzen wir nicht die Gesundheitszuständigkeit der Selbstverwaltung von Rojava sondern ergänzen sie. Besonders schwierig ist unsere Arbeit im Al Hol Camp, wo viele Frauen und Kinder von IS-Kämpfern leben. Wir versuchen die meist stark radikalisierten Frauen und Jugendlichen zu «rehabilitieren». Das Hauptproblem ist jedoch, dass die Herkunftsländer dieser IS-Anhänger*innen, Europa eingeschlossen, sie nicht zurückholen und uns mit dem Problem vollkommen alleine lassen. Die türkischen Militärangriffe auf die Region stärken den IS und machen unsere Arbeit – insbesondere im Al Hol Camp – gefährlicher. Immer wieder werden Ambulanzen, Gesundheitsposten und Mitarbeiter*innen von IS-Familien angegriffen, einer unserer Pflegenden wurde sogar umgebracht. Und auch das IKRK wird attackiert. Die Bedrohung für das Gesundheitspersonal aber auch für die ganze Region Rojava ist immens.
Es gibt dauernd sogenannte «weiche Angriffe» mit den türkischen Drohnen auf unsere Führungskräfte, insbesondere auf Feministinnen. Bereits 37 Menschen wurden von türkischen Drohnen ermordet. Das ist eine klare Verletzung des internationalen Rechtes – aber die internationale Gemeinschaft schweigt.
SB: Die Menschen sind sehr gestresst. Das Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht ist sehr belastend. In Afrin wollte meine damalige Ko-Direktorin verwundeten Kindern zu Hilfe eilen, eine Drohne hinderte sie daran. Sie musste hilflos zusehen, wie die Kinder schrien, litten und starben. Das war für sie schwer traumatisierend. Dazu kommt das andauernde Gefühl der Unsicherheit. Was bringt die Zukunft? Deshalb wollen so viele Menschen auswandern, Richtung Europa, auch auf gefährlichen Routen wie übers Mittelmeer. Was uns stärkt, ist das Gefühl, an einem gemeinsamen Projekt beteiligt zu sein, für die Demokratie und unsere Zukunft zu kämpfen. Das erhöht unsere psychische Resistenz. Einige von uns mussten sogar IS-Söldner behandeln, das verlangen unsere internen Grundsätze. Aber das war sehr schwer, denn viele habe ihre Familienangehörigen durch die Gewalt des IS verloren.
Was auch hilft, ist, dass wir immer als Ko-Team arbeiten. Eine Frau und ein Mann stehen an der Spitze jeder Organisation. Früher hatten Frauen in unseren patriarchalen Gesellschaftsstrukturen keine Chance zu studieren. Mit der Revolution in Rojava hat sich vieles verändert, vor allem für die Frauen. Die feministische Revolution geht auch während dem Krieg und den Angriffen weiter. Sie ist ein Herzstück der Veränderung in Rojava!
Was auch hilft, ist, dass wir immer als Ko-Team arbeiten. Eine Frau und ein Mann stehen an der Spitze jeder Organisation. Früher hatten Frauen in unseren patriarchalen Gesellschaftsstrukturen keine Chance zu studieren. Mit der Revolution in Rojava hat sich vieles verändert, vor allem für die Frauen.
SB: Aktuell sind alle auf die Ukraine fokussiert. So fühlt sich die Türkei frei, zu machen, was sie will. Sie greift auch die Kurd*innen im Nordirak an und verhaftet hunderte von kurdischen Politiker*innen im eigenen Land. Bereits über 5000 Ärzt*innen haben Rojava verlassen und leben in Deutschland. So soll unser Land intellektuell ausgeblutet werden. Auch die Hilfslieferungen wurden wegen dem Ukrainekrieg teilweise eingestellt. Der Krieg in Syrien dauert nun mehr als 10 Jahre. Wir brauchen eine politische Lösung! Aber Syrien ist aktuell nicht mehr prioritär auf der politischen Agenda. Wir sind als KRC nicht anerkannt. Wir leiden unter dem Embargo. Katalonien hat zum Beispiel die Selbstverwaltung in Rojva anerkannt. Das hat sofort Unterstützung für Rojava ermöglicht. Wir möchten als KRC von der Rotkreuzbewegung anerkannt werden, wir wünschen die Anerkennung der Selbstverwaltung von Rojava und wir suchen eine politische Lösung des Konflikts. Eigentlich ist es ganz einfach: Wir möchten in Frieden und sicher leben!
Der Krieg in Syrien dauert nun mehr als 10 Jahre. Wir brauchen eine politische Lösung! Aber Syrien ist aktuell nicht mehr prioritär auf der politischen Agenda
medico international schweiz unterstützt den Kurdischen Roten Halbmond seit mehreren Jahren. Mehr Information unter https://www.medicointernational.ch/regionen-projek...