By Alice Froidevaux
Wo staatliche Infrastruktur und Dienstleistungen fehlen, übernehmen oft lokale Basisorganisationen überlebenswichtige Aufgaben für die Gemeinden – auch in der Gesundheitsversorgung. Gleichzeitig ist die Basisgesundheitsversorgung ein wichtiges Element in politischen Autonomiebewegungen und selbstverwalteten Regionen. medico international schweiz verbindet das Engagement für das Recht auf Gesundheit für alle mit dem Kampf für soziale Gerechtigkeit hier und im Globalen Süden und unterstützt Initiativen für eine ganzheitliche, basisorientierte und dem lokalen Kontext angepasste Gesundheitsversorgung.
Die zapatistischen Gemeinden im Süden Mexikos sind zu einem Erfolgsbeispiel der gelebten Autonomie als lokale Basis für globale Veränderung geworden. Zahlreiche Mobilisierungs- und Vernetzungskampagnen innerhalb Mexikos und auf internationaler Ebene machen die Bedeutung der Zapatistas für die antineoliberale und postkoloniale Bewegung bis heute deutlich. Zuletzt tourte eine zapatistische Delegation im Rahmen der historischen Gira por la Vida 2021 durch Europa und die Schweiz – 500 Jahre nachdem die europäischen Kolonialmächte den Anfang setzten für eine Geschichte der Ausbeutung, des Rassismus und des Patriarchats.
«Die Basisgesundheitsversorgung ist ein wichtiges Element in den selbstverwalteten zapatistischen Gemeinden», erklärt uns ein Mitglied der Delegation im Gespräch.(1) «Ohne eigenes Basisgesundheitssystem könnten wir nicht unabhängig funktionieren.» So gibt es in jeder Gemeinde eine Klinik oder einen Gesundheitsposten. Das Gesundheitswesen der Zapatistas basiert auf indigenem Wissen und baut auf drei Säulen auf:
Die Fähigkeiten dieser Personen werden als Gabe angesehen, die in der Familie über Generationen weitergegeben wird. Verantwortlich für die Koordination der Gesundheitsarbeit sind sogenannte Gesundheitspromotor*innen. Sie werden von der regionalen Junta de Buen Gobierno (Rat der guten Regierung) eingesetzt und verpflichten sich dazu, sich laufend weiterzubilden.
«Die Basisgesundheitsversorgung ist ein wichtiges Element in den selbstverwalteten zapatistischen Gemeinden», erklärt uns ein Mitglied der Delegation im Gespräch. «Ohne eigenes Basisgesundheitssystem könnten wir nicht unabhängig funktionieren.»
Während die zapatistischen Gemeinden eine starke Primärgesundheitsversorgung bereitstellen, sind sie für die sekundäre und tertiäre Versorgung – also für Behandlungen durch Fachärzt*innen und in Spezialkliniken – auf externe Unterstützung angewiesen. Die Sprecherin der Delegation erklärt: «Wir kennen die Grenzen unseres Gesundheitswesens und fördern bewusst eine Synthese von traditionellen und ‘westlichen’ Ansätzen.» Die medico-Partnerorganisation Salud y Desarrollo Comunitario (SADEC) mit Sitz in Palenque arbeitet seit vielen Jahren mit der zapatistischen Bewegung zusammen und vermittelt für die zapatistischen Gesundheitspromotor*innen, wenn jemand in ein Krankenhaus verlegt werden muss oder zum Beispiel für den Zugang zu Covid-19-Impfstoff.
Wie wichtig in vielen Gebieten der Welt traditionelle Hebammen für die Basisgesundheitsversorgung sind, hat sich in den vergangenen zwei Jahren im Kontext der Corona-Pandemie noch einmal bestätigt. «In den ländlichen Gemeinden werden im Moment mehr als 90% der Geburten von traditionellen Hebammen betreut. Ohne sie wäre die Lage katastrophal und die Zahl der Mütter- und Säuglingssterblichkeit würde in die Höhe schnellen,» berichtet die kubanische Ärztin Tania María Perez, die in Guatemala arbeitet, im Februar 2021. Während der Pandemie hätten die Hebammen auch die primäre Gesundheitsversorgung in den Gemeinden übernommen. Aufgrund der eingeschränkten Bewegungsfreiheit oder aus Angst vor einer Ansteckung hätten es viele Menschen unterlassen, bei Krankheitssymptomen das nächste Gesundheitszentrum aufzusuchen. Viel lieber suchten sie Hilfe bei der im Dorf bekannten Hebamme.
Die traditionellen Hebammen sind in Guatemala heute zwar vom Gesundheitsministerium anerkannt und dürfen offiziell Geburten begleiten. Eine feste Entlöhnung oder Unterstützung, zum Beispiel in Form von Schutzmaterial während der Pandemie, erhalten sie jedoch weiterhin keine. In verschiedenen Regionen des Landes unterstützt die Selbsthilfevereinigung für Kriegsversehrte und medico-Partnerorganisation Asociación Guatemalteca de Personas con Discapacidad (AGPD) Hebammen mit Aus- und Weiterbildungskursen und bescheidenen Ausrüstungskits. Bezahlt werden sie für ihre Dienste von den Familien oft in Naturalien.
Die traditionellen Hebammen sind in Guatemala heute zwar vom Gesundheitsministerium anerkannt und dürfen offiziell Geburten begleiten. Eine feste Entlöhnung oder Unterstützung, zum Beispiel in Form von Schutzmaterial während der Pandemie, erhalten sie jedoch weiterhin keine.
Ausserdem bietet die AGPD Ausbildungskurse in Pflanzenheilkunde an. Die Arbeit mit Heilpflanzen verleiht den Mitgliedern der Vereinigung neuen Tatendrang. Sie steht im Kontext der historischen Erinnerung und der Wiederbelebung des indigenen Wissens der Maya-Bevölkerung und trägt somit auch zur seelischen Heilung der Traumata aus dem internen bewaffneten Konflikt bei. Neben Kenntnissen zur Wirkung von Heilpflanzen und der Herstellung von Naturheilmitteln legen die Kurse einen Schwerpunkt auf eine ausgewogene Ernährung als Basis für eine gute Gesundheit.
Guatemala hat eine der höchsten Raten an chronischer Mangelernährung weltweit. Die Fehlernährung führt zu einer erhöhten Inzidenz an chronischen Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Problemen oder Diabetes. Unter dem Leitsatz «Kochen für eine gute Gesundheit» lernen die Kursteilnehmenden, wie sie ihre Essensgewohnheiten mit einfachen Rezepten verändern können und welche Nährstoffe und therapeutische Wirkungen lokale Früchte, Gemüse und Kräuter besitzen. «In einer Gesellschaft mit einer hohen Armutsrate müssen wir wieder lernen, zu essen, um uns zu ernähren und nicht nur, um zu überleben,» so die AGPD zu den Kursen der Pflanzenheilkunde.
Infolge der Geschehnisse des Syrischen Bürgerkrieges entstand 2012 die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien, auch bekannt unter dem kurdischen Namen Rojava. In der selbstverwalteten Region im Nordosten Syriens setzen sich Kurd*innen, assyrische Christ*innen und Araber*innen für ethnische Inklusion, soziale Ökologie und eine anti-patriarchale Gesellschaft ein und bauen eine basisdemokratische Föderation auf. Unter ständigen Kriegsdrohungen der Türkei versuchen die Menschen in Rojava die Errungenschaften ihrer Revolution zu verteidigen.
Frauen haben im Nordosten Syriens verwirklicht, was vielerorts auf heftigen Widerstand stossen würde: Ein Dorf von Frauen für Frauen – Jinwar auf Kurdisch. Gemeinsam schaffen die Bewohnerinnen eine neue Wirklichkeit für Frauen und nennen das Dorf das «feministische Herz von Rojava». Seit 2020 unterstützt medico international schweiz das dazugehörige Gesundheitszentrum Sifajin. Die Frauen von Sifajin wollen eine nicht von patriarchalen Denkmustern dominierte Sichtweise, eine feministische Perspektive auf die Gesundheit schaffen, die sich auch in der Beziehung zwischen den Gesundheitsarbeiterinnen und den Patientinnen widerspiegeln soll. Mit einer Kombination aus westlichem und vernetztem traditionellen Wissen streben die Gesundheitsarbeiterinnen eine Humanisierung der Medizin an. Ein wichtiger Teil des Zentrums ist das neu eingerichtete Labor zur Herstellung von Pflanzenmedizin. Die meisten Heilpflanzen werden im eigenen Garten angebaut und zu Tee, Salben und Sirup verarbeitet.
Der Kampf der medico-Partnerorganisationen für das Recht auf Gesundheit für alle ist auch ein Kampf um Leben und Würde. Mit anderen Worten: Basisgesundheit ist Teil des Widerstands gegen koloniale, kapitalistische und patriarchale Systeme – gegen Ungerechtigkeit und Diskriminierung. Wir sind immer wieder beeindruckt vom Mut und den ausserordentlichen Leistungen, die unsere Partnerorganisationen unter schwierigen Voraussetzungen und in Extremsituationen erbringen.
Wir wissen aber auch, dass unsere Projekt-Partner*innen in der aktuellen Welt- und Gesellschaftsordnung die Rolle des Staates nicht ersetzen können. Langfristig ist ein wirtschaftlicher, politischer und sozialer Strukturwandel nötig. Wir alle stehen vor der grossen Herausforderung, die im Kontext der Corona-Pandemie neu entflammten Debatten um Solidarität und Versorgung (Care) konkret zu führen – mit Blick über die eigenen Landesgrenzen hinaus und ohne Angst davor, über Verteilungsgerechtigkeit zu sprechen.
Im Sinne des Kollektivgedankens, fordert die zapatistische Delegation, dass darauf verzichtet wird, Zitate einzelnen Personennamen zuzuordnen. Als gewählte Delegierte vertreten sie die zapatistische Bewegung und sprechen deshalb auch nur über Themen, die sie im Vorfeld gemeinsam festgelegt und besprochen haben.