By Barbara Scheidegger
Im Norden Guatemalas sind die Hebammen und die Gesundheitspromotoren weitherum die einzigen Gesundheitsfachkräfte, die den schwangeren Frauen vor, während und nach der Geburt beistehen. Im Departement Huehuetenango finden 65% aller Geburten zu Hause statt und werden von den traditionellen Comadronas sprich Hebammen betreut. Die schweizerische Nichtregierungsorganisation PRO INDIGENA unterstützt mit finanziellen Beiträgen und Begleitung in Projekten die Arbeit zur Befähigung und Ausrüstung der Hebammen.
Das gebirgige Huehuetenango ist eines von 22 Departementen des Staates Guatemala. Hier leben 1,2 Mio. Einwohner, 77% davon in ländlichen Gebieten. 65% der Einwohner gehören der Ethnie der Maya-Indigena an. Die Statistik des Jahres 2014 zeigt, dass hier 37 000 Kinder geboren worden sind. Die schwangeren Frauen und ihre Geburten werden von mehr als 2000 traditionellen Hebammen betreut. Die ärztliche Versorgung ist sehr defizitär: So stehen beispielsweise für die ganze Bevölkerung nur zwei Spitäler zur Verfügung; statistisch trifft es rund 4600 Einwohner pro Spitalbett.
Seit zehn Jahren arbeitet PRO INDIGENA mit Dr. med. Luis Aquino in Chiapas, Mexiko, zusammen. Er leitet die praktischen Ausbildungskurse und begleitet die empirischen Hebammen und Gesundheitspromotoren bei ihrer wertvollen Arbeit. Seit 2014 gibt er auch Kurse für die Hebammen und Promotoren im grenznahen Guatemala. Heute bestehen in Guatemala sechs regional verteilte Gruppen mit 115 praktisch tätigen Hebammen und 37 Promotoren, die regelmässig an den Ausbildungskursen teilnehmen.
Das bisherige Konzept umfasst vier Aspekte:
Während unserer Supervisionsreise im vergangenen Juli besuchten wir zusammen mit unserem Projektarzt Luís Aquino das guatemaltekische Dorf Yolcultac und die umliegenden Nachbardörfer. An Versammlungen führten wir viele Gespräche mit empirischen Hebammen, Gesundheitspromotoren, den "Autoridades" der Gemeinden und den Frauen der jeweiligen Dörfer. Unser Ziel war, uns ein Bild zu verschaffen über die aktuelle Situation, die Gesundheitsversorgung und die dringendsten Bedürfnisse in den Dörfern.
Das Dorf Yolcultac, das im Bezirk Nentón (Huehuetenango) liegt, wird erst nach einer mehrstündigen gefährlichen Busfahrt auf Schotterstrassen erreicht. Es ist sehr hoch gelegen, sodass die Vegetation eher karg erscheint und nur noch wenige Früchte und Bäume wachsen. Die Bewohner gehören der Ethnie Chuj an, tragen ihre traditionellen Kleider und kommunizieren ausschliesslich auf Chuj. Wir sehen viele unterernährte Kinder und stellen allgemein eine sehr grosse Armut fest. Die politische Situation in Guatemala ist zurzeit schwierig. Alle Gelder, die für Gesundheit und Sozialversicherungen bestimmt gewesen wären, seien von der Regierung entwendet worden. Seit zwei Jahren haben die Gemeinden keinerlei Versorgung vonseiten der Regierung mehr erhalten. Es finden weder Impfkampagnen statt, noch erhalten die Dörfer Medikamente oder Verhütungsmittel. Die empirischen Hebammen und Gesundheitspromotoren sind alleine für die Gesundheitsversorgung ihrer Region zuständig, erhalten aber von der Regierung keinerlei Unterstützung. Sie sind komplett sich selber überlassen und alle NGOs, die früher im Bereich Gesundheit tätig waren, haben sich zurückgezogen.
Viele Bewohner der Dörfer sind immer noch traumatisiert vom Bürgerkrieg und den brutalen Massakern, die Mitte der 80er Jahre in dieser Gegend stattgefunden haben. Verschiedene Familien haben im bewaffneten Widerstand gekämpft, wiederum andere Dorfbewohner wurden vom Militär dazu gezwungen als "Spitzel" gegen die eigene Dorfbevölkerung vorzugehen und Morde zu verüben. Vor diesem Hintergrund wird auch klar, warum gewisse Dörfer nicht sehr organisiert erscheinen. Besser organisiert sind diejenigen Dörfer, in denen alle Dorfbewohner zusammen nach Mexiko geflüchtet und dann wieder gemeinsam zurückgekehrt sind, um ihr Dorf von neuem aufzubauen. Ein grosses Thema ist in etlichen Dörfern die ungenügende Wasserversorgung. Es fehlen Tanks, welche grössere Mengen Wasser für die Trockenzeit speichern könnten und so wird Wasser zu einem sehr teuren Gut, das womöglich gekauft werden muss. Viele Familien können nur existieren, da Familienmitglieder in den USA arbeiten und regelmässig Geld nach Hause schicken.
Zugang zu den von PRO INDIGENA finanzierten Ausbildungskursen haben diejenigen empirischen Hebammen, welche ein sogenanntes Carnet (Bewilligung des guatemaltekischen Gesundheitsministeriums) besitzen. Die Hebammen sind unterschiedlich aktiv. Manche betreuen nur wenige schwangere Frauen, andere eine sehr grosse Anzahl. Der Projektarzt Luís händigt ihnen gemäss ihres Berichts individuell Medikamente aus und versorgt sie auch nur mit Materialien, wenn sie mit Regelmässigkeit die Ausbildungskurse besuchen und eine minimale Anzahl von Schwangeren betreuen. Die meisten Geburten finden in den Dörfern statt. Aufgrund des allzu weiten Weges erfolgen praktisch keine Einweisungen ins Spital. Diverse Hebammen bringen zudem ein breites empirisches Wissen von ihren Vorfahren (oft Heiler und Hebammen) mit, bauen selber Heilpflanzen an und setzen bei der Geburt auch überlieferte persönliche Gebete ein. Sie erzählten von alten Maya-Ritualen, die sie immer noch anwenden, beispielsweise trennen sie die Nabelschnur des Neugeborenen auf einem Maiskolben durch, dessen Maiskörner getrocknet und später ausgesät werden.
Anlässlich der verschiedenen Versammlungen, die wir in den Dörfern mit den Frauen durchführten, wurden Unterernährung, Gastritis (Magenschleimhautentzündung), Durchfall sowie eine Art Pickel, die aus dem ganzen Körper ausscheiden, als häufigste Gesundheitsprobleme genannt. Die Frauen berichteten, dass sie während der Schwangerschaft oft grosse Lust verspürten, Erde oder Asche zu essen. Dieses Phänomen ist laut Dr. Luís sehr verbreitet und wird durch Anämie und Mangelernährung verursacht. Ein riesiges Thema waren die fehlenden Verhütungsmittel. In Guatemala bekommen die Frauen deutlich mehr Kinder als in Mexiko. Sie möchten zwar gerne Familienplanung betreiben, haben aber keinen Zugang zu Verhütungsmittel. Zusammen mit Luís wird man sich überlegen, wie sich PRO INDIGENA diesem Thema annehmen kann.
Grundsätzlich herrscht in den indigenen Dörfern Guatemalas ein riesiger Bedarf an Ausbildungskursen für Hebammen. Während unserer Reise erlebten wir mehrfach, wie weitere Gruppen aus anderen Gegenden Dr. Luís anfragten, ob er nicht auch bei ihnen Ausbildungskurse durchführen könnte.
In Yolcultac findet jeden Sonntag ein grosser Markt statt, den viele Menschen aus den umliegenden Dörfern besuchen. An zentraler Lage soll nun ein Sprechzimmer eingerichtet werden, in dem jeweils die fortgeschrittenen Hebammen am Sonntag ihre Dienste anbieten. Das Zimmer ist bereits vorhanden, muss jedoch renoviert und besser eingerichtet werden. PRO INDIGENA unterstützt dieses Projekt, bei welchem die Gruppe der Hebammen sämtliche lokale Baumaterialien zur Verfügung stellen und alle Bauarbeiten in Eigenleistung übernehmen.
Während unserer Reise erkannten wir die mannigfaltigen Probleme in den guatemaltekischen Dörfern. Wo soll unsere Arbeit beginnen, damit sie möglichst erfolgreich und nachhaltig sein kann? Die Mutter-Kind-Gesundheit und die Situation in den Dörfern lassen sich nur mit einem integralen Ansatz verbessern. Es muss gelingen, die Gemeinden zu organisieren. Es braucht Prävention; die hygienischen Bedingungen, Latrinen, Trinkwasserversorgung etc. müssen verbessert werden, was Bewusstseinsarbeit voraussetzt. Diese grosse Arbeit lässt sich nicht allein von Dr. Luís in seinen Ausbildungskursen bewältigen. Inzwischen hat er PRO INDIGENA einen Projektvorschlag unterbreitet. Zusammen mit Dr. Luís soll ein interdisziplinäres Team in Guatemala aktiv werden, bestehend aus zwei professionellen Hebammen, einem Spezialisten für Gesundheitsprävention und einem Zahnmediziner. In diesem Jahr beginnen wir mindestens in einer Region mit einer integralen Projektarbeit, um diese dann nach und nach auszuweiten. Wir hoffen, damit im Kleinen eine Alternative gegenüber der riesigen Misere aufbauen zu können.
Wie arbeitet PRO INDIGENA?
Beim Verein PRO INDIGENA geht das Verständnis von Entwicklungszusammenarbeit (EZA) von den Betroffenen aus. Sie sind für ihre Projekte selbst verantwortlich (ownership). Ihre Vorschläge und ihre eigene Initiative zur Lösung der drängenden Probleme entstehen aus dem Verständnis der eigenen sozialen und wirtschaftlichen Situation. Die partizipative EZA unterstützt die selbstbestimmte Verbesserung der Lebensverhältnisse im Partnerland. Sie erweitert die Möglichkeiten und Fähigkeiten der Zielgruppen, sich für ihre verbesserte Lebensbedingungen selbst einzusetzen (empowerment). PRO INDIGENA plant und realisiert keine eigenen Projekte, sondern bestärkt eine Entwicklung «von unten» und «von innen», damit das Selbstvertrauen in die eigenen Kräfte und Fähigkeiten wächst. Die Arbeit und Überzeugung von PRO INDIGENA kann finanziell unterstützt werden; Details sind auf der Website www.pro-indigena.ch zu finden.