Von Corinna Bisegger
Sans-Papiers sind Migrantinnen und Migranten, die ohne geregelten Aufenthalt in der Schweiz leben. Sie haben unterschiedlichste Gründe für diese Lebenssituation. Gemeinsam ist ihnen, dass sie in der Regel im Verborgenen leben und sich mit Arbeit über Wasser halten, die sonst niemand ausüben will. Ihre finanzielle Situation ist meist prekär. Sans-Papiers haben aber Rechte, ganz besonders das Recht auf Gesundheitsversorgung. In der Deutschschweiz neh-men allerdings nur wenige Kantone ihre Verantwortung in diesem Bereich wahr. Seit 2007 besteht deshalb im Ambulatorium SRK in Bern eine Gesundheitsversorgungsstelle für Patientinnen und Patienten in dieser sehr verletzlichen Lebenslage (Der vorliegende Beitrag basiert zu grossen Teilen auf der Evaluation der Gesundheitsversorgungsstelle für Sans-Papiers anlässlich ihres 10-jährigen Bestehens - SRK 2019).
In der Schweiz leben zwischen 58‘000 und 105‘000 Sans-Papiers, die Zahl 76‘000 wird als wahrscheinlichste Schätzung betrachtet (Morlok et al., 2015). Diese Menschen leben oft unter prekärsten Wohn- und Arbeitsbedingungen. Die Gründe für eine fehlende Aufenthaltsbewilligung sind ganz unterschiedlich, die Angst vor einer Entdeckung ist aber für viele Sans-Papiers gesundheitlich sehr belastend. „Das ist ein Zustand, der alles andere auslöscht.“ So beschreibt eine Fachperson, die sich intensiv mit Sans-Papiers auseinandergesetzt hat, deren Situation. Die Tatsache, keine Aufenthaltspapiere zu haben, prägt das Leben dieser Menschen ganz grundlegend.
Sans-oder Menschen ohne geregelten Aufenthalt, auf Englisch meist als undocumented migrants bezeichnet, verstossen gegen das Ausländergesetz (Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer). Ihnen droht die Ausweisung oder Ausschaffung, je nach Situation mit einer vorbereitenden Haft oder einer Freiheitsstrafe. Erfahrungsgemäss sind Sans-Papiers ansonsten sehr angepasst und den Umständen entsprechend so gesetzestreu wie möglich, um nicht aufzufallen. Das grundlegende Problem ist aber, dass die fehlende Bewilligung die Existenz dieser Menschen in Frage stellt. „Das Schweizer Recht sieht keine Spezialregelungen für Sans-Papiers vor, da diese per Gesetz nicht existieren (sollten).“ (Morlok et al., 2015). Die offizielle Nicht-Existenz führt ironischerweise dazu, dass viele Rechte und Pflichten in der Schweiz auch für Sans-Papiers gelten (Morlok et al., 2015, S. 12 ff). Dies hat unter anderem zur Folge, dass das Krankenkassenobligatorium laut einer Weisung des Bundesamtes für Sozialversicherungen aus dem Jahr 2002 ausdrücklich auch für sie anzuwenden ist (Sozialversicherung für Sans-Papiers). Sans-Papiers dürfen und müssten sogar eine Krankenversicherung abschliessen, hätten allenfalls auch Anrecht auf Prämienverbilligungen. Diese Rechte basieren auf der Bundesverfassung, aber auch auf internationalem Recht (siehe Kasten).
Grundlegendes Recht in der Schweiz – auch für Menschen ohne geregelten Aufenthalt:
Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.
Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UNO-Pakt I)
Art. 12 (1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmass an körperlicher und geistiger Gesundheit an.
(2) Die von den Vertragsstaaten zu unternehmenden Schritte zur vollen Verwirklichung dieses Rechts umfassen die erforderlichen Massnahmen (…)
d) zur Schaffung der Voraussetzungen, die für jedermann im Krankheitsfall den Genuss medizinischer Einrichtungen und ärztlicher Betreuung sicherstellen.
Die Realität sieht allerdings aus verschiedenen Gründen anders aus. Eine Krankenversicherung abzuschliessen liegt oft weit ausserhalb der finanziellen Möglichkeiten der Betroffenen und ist meist mit allzu grossen administrativen Hürden verbunden. Wie Jossen (2018) beschreibt, gewährt nicht einmal der Abschluss und das Bezahlen einer Krankenversicherung einen unproblematischen Zugang zum Gesundheitssystem, insbesondere wenn eine Versicherung die Ausstellung einer Versicherungskarte verweigert. Dies kommt nicht selten vor, wenn Sans-Papiers noch keine AHV-Nummer haben und die Krankenversicherung ihrer Verpflichtung nicht nachkommt, eine solche zu beantragen. Deshalb suchen Sans-Papiers mit einem gesundheitlichen Problem sehr oft erst dann Hilfe, „wenn es nicht mehr anders geht“.
Die Realität ist ausserdem grundlegend verschieden je nach Region und Kanton. Die Kantone Genf und Waadt sind sich ihrer Verpflichtung am deutlichsten bewusst, alle Einwohnerinnen und Einwohner gesundheitlich zu versorgen. Sie führen deshalb an ihren Universitätsspitälern spezialisierte Ambulatorien für verletzliche Zielgruppen, darunter ausdrücklich auch für Sans-Papiers. Der Kanton Tessin andererseits sorgte in den letzten Monaten für Schlagzeilen und Unruhe bei Gesundheitsfachpersonen: Eine kantonale Behörde wies Spitäler dazu an, Personen ohne Aufenthaltspapiere auf eine spezielle Nummer zu melden, zwischen 20 Uhr abends und 6 Uhr morgens war dafür die Notfallnummer der Polizei (117) angegeben.
In der Deutschschweiz werden Sans-Papiers von offizieller Seite her in der Regel ignoriert, in gewissen Kantonen wird ihre Existenz sogar vollständig negiert. Die Lösung ihrer (gesundheitlichen) Probleme wird Hilfswerken und sozial engagierten Privatpersonen überlassen. Die involvierten öffentlichen und privaten Organisationen haben sich zu einer Plattform zusammengeschlossen, welche unter anderem das Ziel hat, sowohl inhaltlich als auch anwaltschaftlich über das Thema zu informieren (Nationale Plattform Gesundheitsversorgung für Sans-Papiers 2014). Zwei dieser Stellen gehören dem SRK an: Meditrina, die Medizinische Anlaufstelle für Sans-Papiers des SRK Zürich und die Gesundheitsversorgung für Sans-Papiers am Ambulatorium SRK in Wabern bei Bern.
„Der Fachbereich Gesundheitsversorgung für Sans-Papiers (GVSP) bietet Personen, die im Raum Bern ohne geregelten Aufenthalt wohnen, medizinische Grundversorgung und Gesundheitsberatung in vertraulichem Rahmen und ohne Gefährdung des Aufenthalts.“ Dieser grundlegende Auftrag der Stelle ist im Laufe ihres Bestehens im Wesentlichen gleich geblieben. Die Rahmenbedingungen und das Angebot haben sich aber verändert.
Bis zur Eröffnung der Stelle mussten mehrere Hürden genommen werden. Unter anderem wurde ein juristisches Gutachten in Auftrag gegeben, um abzuklären, ob sich das SRK mit der Gesundheitsversorgung von Sans-Papiers strafbar machen würde. Nach dem Start im Jahr 2007 mussten die Mitarbeitenden sowohl im SRK als auch bei den relevanten Akteuren ausserhalb noch sehr viel Überzeugungsarbeit leisten.
Im Jahr 2007 wurden 20 Frauen und Männer niederschwellig gesundheitlich versorgt oder weiter verwiesen, im Jahr 2018 waren es 202 Patientinnen und Patienten. Abb. 1 zeigt den Anteil an Neu- und Wiedereintritten über die 12 Jahre. Insgesamt waren von 2007 bis 2018 genau 1000 Neueintritte zu verzeichnen, es wurden in dieser Zeit also 1000 Personen gesundheitlich versorgt.
Die Patientinnen und Patienten der GVSP kommen aus der ganzen Welt, im Jahr 2018 zu 28 Prozent aus Afrika, 21 Prozent aus Lateinamerika, 18 Prozent aus Asien und 16 Prozent aus Europa (17 Prozent unbekannt). Der Anteil an Männern und Frauen schwankt etwas, ist über die Jahre hinweg aber sehr ausgeglichen mit insgesamt 49 Prozent Männern und 51 Prozent Frauen. Die Eintrittsgründe der Patientinnen und Patienten sind vielfältig, einen grossen Stellenwert nehmen gynäkologische und zahnmedizinische Probleme ein. Als zentral wird immer wieder die Möglichkeit bezeichnet, in der GVSP psychosoziale Unterstützung zu erhalten und über die belastende Lebenssituation reden zu können.
Zu Beginn bestand die GVSP aus einer Pflegefachfrau als Leiterin der Stelle mit einem Beschäftigungsgrad von 80 Prozent, bald konnte zusätzlich eine Fachärztin zu 30 Prozent angestellt werden. Heute ist neben der Leiterin eine weitere Pflegefachperson in der GVSP tätig, beide zu insgesamt 140 Prozent. Ein Facharzt ist zu rund 5 Prozent mandatiert dafür, die freiwilligen Ärztinnen und Ärzte zu koordinieren, welche an drei Halbtagen pro Woche Sprechstunden (Drop-In) gewährleisten. Freiwillige Fachärztinnen und -ärzte stehen für eine gynäkologische Sprechstunde pro Monat zur Verfügung und behandeln zwei bis drei Mal pro Jahr Kinder. Freiwillige bieten ausserdem Physiotherapie, vereinzelt Psychotherapie sowie Podologie an.
Die Gesundheitsversorgungsstelle ist im Raum Bern gut vernetzt mit anderen Stellen, welche Sans-Papiers beraten und unterstützen. Die Partnerorganisationen schätzen die Zusammenarbeit, das zur Verfügung stehende Angebot und den unkomplizierten Zugang zur Gesundheitsversorgungsstelle. Als äusserst wichtig erachten diese externen Fachpersonen insbesondere die Verlässlichkeit der GVSP. So können sie ihren Klientinnen und Klienten gewährleisten, dass sie dort sicher sind und dass die Mitarbeitenden der GVSP ihnen klar mitteilen, was möglich ist und was nicht.
Soweit externe Fachpersonen dies beurteilen können, nehmen sie eine gute Qualität der medizinischen Leistungen der GVSP wahr, sei dies durch Einsicht in Krankenakten oder aufgrund von Erfahrungen mit ihren eigenen Klientinnen und Klienten als Patientinnen und Patienten.
Die Nationale Plattform Gesundheitsversorgung für Sans-Papiers (2014) hat darauf aufmerksam gemacht, wie unterschiedlich die Gesundheitsversorgung von Sans-Papiers in den verschiedenen Regionen und Kantonen der Schweiz geregelt ist. Die damals aufgrund der täglichen praktischen Erfahrungen formulierten Empfehlungen sind leider nach wie vor aktuell und nicht eingelöst:
Solange diese Empfehlungen nicht umgesetzt sind, besteht in der Schweiz Handlungsbedarf zur Erreichung des Ziels 3 „Gesundheit und Wohlergehen“ der Agenda 2030, insbesondere des Unterziels 3.8: „Die allgemeine Gesundheitsversorgung, einschliesslich der Absicherung gegen finanzielle Risiken, den Zugang zu hochwertigen grundlegenden Gesundheitsdiensten und den Zugang zu sicheren, wirksamen, hochwertigen und bezahlbaren unentbehrlichen Arzneimitteln und Impfstoffen für alle erreichen“.
Gesundheit für alle – diese Forderung gilt auch für Sans-Papiers. Und Nachhaltigkeit einer Gesellschaft ist erst dann erreicht, wenn auch ihre verletzlichsten Mitglieder darin eingeschlossen sind.