Von Annette Hug
Die Schweiz preist ein Abkommen mit den Philippinen als ein Element, um dem Mangel an Pflegefachleuten in der Schweiz zu begegnen. Angesichts der hohen Zahl an arbeitslosen KrankenpflegerInnen in den Philippinen ein auf den ersten Blick naheliegender Gedanke. Recherchen vor Ort aber zeigen, dass ein solches Abkommen aus entwicklungs- und migrationspolitischer Sicht fragwürdig ist.
Website von CarePers (Screenshot, November 2012)
CarePers ist eine Personalvermittlungsfirma mit Sitz in Wollerau, Kanton Schwyz. Sie hat sich auf Gesundheitspersonal spezialisiert und führt zurzeit ein Pilotprojekt mit philippinischen Pflegefachleuten durch. In ihrer Projektpräsentation hebt CarePers hervor, dass sie mit dem Bundesamt für Migration und der staatlichen Philippine Overseas Employment Agency (POEA) zusammenarbeite. Möglich wurde das Projekt durch ein bilaterales Stagiaire-Abkommen, das die Schweiz und die Philippinen 2002 geschlossen haben. Seither können jährlich 50 Schweizer/innen in den Philippinen und 50 Filipinos/Filipinas in der Schweiz eine befristete Arbeitsbewilligung von maximal 18 Monaten erhalten. Für diesen Aufenthalt ist die Einhaltung des Schweizer Lohnniveaus vorgeschrieben, jemand muss auf seinem erlernten Beruf arbeiten können und 18 bis 35 Jahre alt sein. Offizielles Ziel ist die Erweiterung von Fachwissen und Erfahrung, eine Art Studienaufenthalt am Arbeitsplatz im Ausland. Nachdem diese Möglichkeit kaum genutzt worden war, ist CarePers in die Lücke gesprungen – auch im Interesse des Bundesamtes für Gesundheit, wie es scheint, das an den Erfahrungen mit diesem Projekt sehr interessiert ist. FDP-Nationalrätin Doris Fiala präsidiert eine nationale Arbeitsgruppe „Migrationspolitik Langzeitstrategie“, die im Januar 2012 u.a. bekannt gab, dass eine intensivere Nutzung des Stagiaire-Abkommens zur Behebung des Fachkräftemangels im Pflegebereich anzustreben sei. Vorgängig war eine Delegation der Bundesämter für Migration und Gesundheit unter Leitung von Eduard Gnesa in die Philippinen gereist, um die Möglichkeiten eines Pilotprojektes abzuklären.
Zurzeit sind 17 philippinische Pflegefachleute durch CarePers in Schweizer Spitäler vermittelt worden: das Universitätsspital Zürich, das Kantonsspital Baden, das Regionalspital Lachen sowie einige Heime sind Projektpartner. Gemessen daran, dass gemäss Gesundheitsdirektorenkonferenz jährlich rund 4‘500 Pflegekräfte mehr ausgebildet werden müssten, um den Bedarf zu decken, ist das ein Klacks. Und gemessen daran, dass die Filipinos am Goethe Institut in Manila sieben Monate lang einen Deutsch-Intensivkurs besuchen und sich einige Monate hier einarbeiten müssen, sind 18 Monate extrem wenig. Für die Spitäler kann das personalpolitisch keine Perspektive sein. Wenn seitens des Bundes trotzdem mit Interesse an solchen Ideen gearbeitet wird, muss eine Verlängerung der Frist im Raum stehen.
Es ist absolut zwingend, dass auch Personalverbände und Gewerkschaften in den Philippinen und in der Schweiz zu diesen Perspektiven Stellung beziehen und das Pilotprojekt kritisch verfolgen. Entwicklungspolitisch, gewerkschaftlich und migrationspolitisch zeigen sich fast schon prototypische Probleme.
In ihrer Projektpräsentation schreibt CarePers, dass laut nationalem philippinischem Arbeitsamt (DOLE) 275‘000 Krankenpflegekräfte arbeitslos gemeldet seien – von Braindrain könne also nicht gesprochen werden. Bei einem Besuch in Manila konnte ich im Januar 2012 dieser Zahl nachgehen. Dazu sprach ich mit Jillian Roque von der Dachgewerkschaft des öffentlichen Diensts, PS Links, mit Ellene A. Sana vom Centre for Migrant Advocacy und mit Anamaria Nemenzo und Mercedes Fabros von Woman Health Philippines, einer NGO, die sich mit Untersuchungen und Lobbying für eine Verbesserung der Gesundheitsdienste für Frauen einsetzt. Alle bestätigten mir die hohe Zahl von arbeitslosen Pflegekräften. Sie wiesen aber auf groteske Gründe dieses Zustands hin.
Ein Blick auf einige Grunddaten zeigt, dass die Gesundheitsversorgung der beiden Länder nicht zu vergleichen ist. Es seien hier nur drei ausgewählte Vergleichszahlen von UNFPA erwähnt: Während die Lebenserwartung in der Schweiz 84 bzw. 80 Jahre beträgt, sind es in den Philippinen 72 bzw. 65 Jahre. In der Schweiz sind bei 100% der Geburten ausgebildete Fachkräfte dabei oder unmittelbar verfügbar, in den Philippinen sind es nur 63%. Während die Chance, in der Schweiz im Kindbett zu sterben, 1 : 7600 beträgt, ist dieses Risiko in den Philippinen deutlich höher: 1 : 320. Die hohe Müttersterblichkeit ist denn auch ein zentrales Thema der Arbeit von Woman Health. Nemenzo und Fabros sehen ein Hauptproblem in der mangelhaften personellen Ausstattung der Gesundheitszentren auf dem Land. Während nämlich in den grossen Städten Pflegefachpersonen arbeitslos sind, können über 20‘000 Stellen auf dem Land nicht besetzt werden. Dazu kämen all die Dörfer und Kleinstädte, die gar keine Stellen anbieten können, weil das Geld fehlt. Die städtischen Spitäler streben zwar einen westlichen Standard an ¬– insbesondere koreanische Firmen investieren in teure Privatkliniken, die mit diesem Attribut werben, aber sie weisen all jene Leute ab, die Behandlungen nicht im Voraus bar bezahlen können oder eine Krankenkasse abgeschlossen haben. Damit sind Millionen von Leuten, die ihren Lebensunterhalt im informellen Bereich verdienen, ausgeschlossen. Dies ist denn auch der erste Einwand gegen die Arbeitslosenzahlen: Wenn in das öffentliche Gesundheitssystem investiert würde, um allen Einwohner/innen eine Krankenkasse und qualitativ gute und gut erreichbare Gesundheitsdienste zu garantieren, bräuchte es mindestens 200‘000 Fachkräfte mehr im eigenen Land.
Seit dem Fall der Marcos Diktatur 1986 sind die Philippinen unter Ägide des IWF einem rigiden Sparregime unterworfen, während sich in der gleichen Zeit die Bevölkerung praktisch verdoppelt hat. Das hat zwei Konsequenzen, die für das Gesundheitswesen prägend sind: Erstens können die dringend notwendigen Investitionen in den Ausbau des heimischen Gesundheitswesens nicht getätigt werden. Zweitens fördert der philippinische Staat die Emigration. Die offiziellen Geldüberweisungen von Emigranten in aller Welt machen 8% des Bruttosozialprodukts aus, werden die inoffiziellen Transfers einbezogen, gehen die Schätzungen bis zu 25%. Der progressive Ökonom Walden Bello zeigt auf, dass die Philippinen auf die Devisen bauen, die von Emigrantinnen und Emigranten bezahlt werden. Ausserdem entschärft die Auswanderung Probleme, die das Bevölkerungswachstum nach sich zieht. Neben Bauarbeitern, Matrosen und Kinderbetreuerinnen (Nannies), gehören inzwischen auch Pflegefachleute zu den traditionellen Auswandererberufen. Die USA, Saudi Arabien, Kanada und weitere Länder bauen auf die Immigration gut ausgebildeter Filipinas, die Infrastruktur ist bereit: Es gibt zahlreiche Universitäten, die nach amerikanischem oder international anerkanntem Standard ausbilden. Krankenpflege ist ein Beruf geworden, den man wählt, um praktisch sicher emigrieren zu können. Das führt einerseits dazu, dass zweifelhafte Ausbildungsinstitutionen aus dem Boden geschossen sind. Sie versprechen den Studierenden gegen viel Geld einen international gültigen Abschluss, oft scheitern die Absolventinnen dann aber an der standardisierten Berufsprüfung, die den Eintrag ins Berufsregister – und damit die Chance auf internationale Anerkennung – ermöglicht. Im Januar 2012 verkündete die philippinische Regierung, die Anerkennung privater Schulen im Gesundheitsbereich einer Überprüfung zu unterziehen, um diesen Missstand zu beheben.
Eine zweite Konsequenz des Auswanderungsbooms hat PS Links im September 2012 zum Thema einer Tagung gemacht: Die Aufnahmeländer philippinischer Migrantinnen und Migranten fordern in der Regel, dass Pflegefachleute mindestens drei Jahre Arbeitserfahrung in einem Grossspital aufweisen können. Das führt zum sogenannten „forced volunteering“: Studienabgänger/innen werden aufgefordert, drei Jahre lang gratis in einem Spital zu arbeiten, um die ersehnte Arbeitsbestätigung zu erhalten, die dann eine Auswanderung ermöglicht. Es gibt auch Stellensuchende, die für eine „Freiwilligenstelle“ bezahlen. Grosse mediale Aufmerksamkeit weckt das – nicht quantifizierte – Phänomen, dass ausgebildete Ärztinnen und Ärzte eine Ausbildung in Krankenpflege anhängen, weil in diesem Status die Auswanderung einfacher ist. Somit verdoppelt sich hier ein „De-Skilling“, das aus dem Bildungsbereich sattsam bekannt ist: Während daheim Schulhäuser im Dreischicht-Betrieb mit enorm grossen Klassen belegt werden, wandern ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer nach Hong Kong, Singapur und China aus, weil sie dort als englisch-sprachige Nannies der Mittel- und Oberschicht gesucht sind.
Die Arbeitslosenzahlen setzen sich demnach aus Leuten zusammen, die daran gehindert sind, das Land zu verlassen, weil sie zu wenig oder nicht die richtige Arbeitserfahrung oder Qualifikation aufweisen. Sie wollen (oder können) nicht im eigenen Land arbeiten.
Während Anamaria Nemenzo und Mercedes Fabros die Emigration als Grundübel anprangern und fordern, dass das heimisch ausgebildete Personal verpflichtet wird, mindestens zwei bis drei Jahre in den Philippinen zu arbeiten, halten Jillian Roque und Ellene Sana nichts von solchem Zwang. Solange es die anständig bezahlten Stellen im Inland nicht gebe, sei mit moralischem oder gesetzlichem Druck nicht viel auszurichten. An erster Stelle müsse eine neue Ausrichtung der Staatsfinanzen stehen. Ihre Rolle sehen beide pragmatisch in der Unterstützung von Migrantinnen und Migranten: Sie nehmen auf bilaterale Abkommen Einfluss (im Gesundheitsbereich neuerdings mit Japan oder Finnland), beteiligen sich an den obligatorischen „Predeparture Trainings“ und machen Druck auf die philippinischen Vertretungen im Ausland, dass sie jene 10% der Bevölkerung, die im Ausland arbeiten, unterstützen.
Die Migration von Gesundheitspersonal ist ein globales Phänomen. Aufgrund des massiven Braindrains hat die WHO einen Kodex erarbeitet, der Regeln für „ethische Rekrutierung“ festlegt. Internationales Anwerben von Gesundheitspersonal soll nur unternommen werden, wenn gleichzeitig alle nötigen und möglichen Massnahmen ergriffen werden, um im Inland genügend Fachleute auszubilden. Migrantinnen und Migranten müssen zu lokalen Ansätzen bezahlt werden. Die Herkunftsländer sollen für ihre Investitionen in die Bildung mit Unterstützungsleistungen entschädigt werden – zum Beispiel durch Hilfe beim Ausbau des eigenen Gesundheitssystems. Gleichzeitig breitet sich in internationalen Gremien ein Begriff aus, der den Wunsch nach Migration und den Auftrag, ärmere Länder zu stärken, vereinen soll: „Zirkuläre Migration“ soll dafür sorgen, dass Leute zwar auswandern, aber dann mit zusätzlichen Kenntnissen bereichert zurückwandern und das heimische Gesundheitswesen stärken. Jillian Roque und Ellene Sana berichten von Konsultationen, welche die ILO und die WHO mit philippinischen Organisationen führen, um ein grossangelegtes Projekt der EU mit südostasiatischen Ländern anzugehen. „Circular migration“ heisst aber migrationspolitisch: „contractual labour“, helvetisch „Saisonnierstatut“. Das Stagiaire-Abkommen passt da genau hinein: Fachleute sollen für eine befristete Zeit migrieren. Dass sie dann zurückkehren, ist laut Jillian Roque illusorisch, weil es vergleichbar bezahlte Stellen schlicht nicht gibt. Ausserdem ist es aus gewerkschaftlicher Sicht fragwürdig, die Wahlfreiheit der Migrantinnen und Migranten von vornherein zu beschneiden. Wenn man schon auf Einwanderung setzt, dann muss man auch die Konsequenzen tragen und den Migrantinnen und Migranten die Freiheit zugestehen, selber zu entscheiden, ob sie bleiben wollen – so wurde jedenfalls in der Schweiz im Zusammenhang mit dem Saisonnierstatut argumentiert, dessen Abschaffung als grosser Fortschritt taxiert wurde. Nichts spricht dafür, diese Haltung zu ändern, weil nun versucht wird „zirkuläre Migration“ entwicklungspolitisch zu legitimieren. Die einzige Art und Weise, wie die Schweiz den WHO-Kodex ernsthaft erfüllen kann, ist ein massives Ausbildungsprogramm im Bereich Gesundheitsberufe. Die Fehler einer verkorksten Ausbildungsreform müssen behoben und die Spitalfinanzierung so reformiert werden, dass 4500 zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen werden. Die Arbeitsbedingungen in der Pflege müssen sich jenen Berufen angleichen, die punkto Ausbildung und Verantwortung ähnlich sind. Erst wenn dann immer noch Lücken bestehen, kann von einem Mangel gesprochen werden, der durch Immigration behoben werden muss.
Zurzeit scheint gewährleistet, dass die 17 philippinischen Pflegefachkräfte, die CarePers in die Schweiz geholt hat, zu ortsüblichen Löhnen bezahlt werden und dass ihre Abschlüsse auf Tertiärstufe (DN II oder Pflege HF) anerkannt werden. Bevor die Schweiz in den 90er Jahren das Dreikreisemodell eingeführt hatte, kamen bereits einmal Fachkräfte in grössere Zahl aus Asien in die Schweiz, in den Spitälern trifft man oft auf philippinische, vietnamesische, koreanische Medizintechniker/innen, Pfleger/innen, usw. Die Immigration aus den östlichen EU-Ländern hat vor allem in Alters- und Pflegeheimen enorm zugenommen. Die Gewerkschaft vpod macht in Einzelberatungen die Erfahrung, dass dabei die Anerkennung von Diplomen die entscheidende Frage ist: Gilt ein deutsches Altenpflegerdiplom als FaGe oder als HF? Wird einer slowakischen Pflegefachperson ihr Universitätsstudium als HF anerkannt oder nur als Berufslehre? Die Entscheidung liegt zuerst bei der Betriebsleitung, sie kann auch eine offizielle Anerkennung durch den Bund verlangen. Der Bund delegiert dieses Verfahren an das Schweizerische Rote Kreuz. Wird die Anerkennung des philippinischen Berufgsregistereintrags nicht in einem bilateralen Abkommen geregelt, werden die Kosten für das Anerkennungsverfahren je nach Arbeitgeber den Migrantinnen aufgebürdet und sie müssen sich einzeln, zum Teil gegen die finanziellen Interessen der Arbeitgeber, für eine entsprechende Anerkennung einsetzen.
Weil seit dem 1.1.2012 ein neues Gesetz über die Pflegefinanzierung dafür sorgt, dass auch private Spitexunternehmen ihre Dienstleistungen über die Krankenkassen und die Gemeinden abrechnen können, wächst dieser Markt stark. International tätige Firmen und Agenturen unterbieten die Preise der gemeinwirtschaftlichen Spitex-Vereine massiv, dies tun sie in erster Linie über massiv verschlechterte Arbeitsbedingungen. International sind viele Filipinas als sogenannte „Care Givers“ in diesem Graubereich zwischen Hauswirtschaft und Gesundheitspflege tätig. Es ist zu beobachten, wie und ob sich eine Ausweitung des Stagiaire-Abkommens für diesen Wachstumsbereich abzeichnet. Die Frage der gleichen Entlöhnung ist dann nicht mehr so einfach zu beantworten: Innerhalb derselben Betriebe werden dieselben Löhne bezahlt, es entsteht jedoch eine Aufteilung des Arbeitsmarktes in einen gut geregelten Bereich, einen neuen Bereich von Dumpingfirmen und einen dritten Bereich, in dem Migrantinnen ohne gültige Aufenthaltspapiere 24-Stunden-Hauspflege leisten.
Das Schweizer Manifest „Gesundheitspersonalmangel nicht auf Kosten der Ärmsten beheben“ zählt auf, was die Schweiz konkret tun muss, um dem WHO-Kodex nachzuleben. Die Schweiz soll darauf verzichten, aktiv aus Ländern zu rekrutieren, die unter kritischem Personalmangel leiden. Die Situation auf den Philippinen zeigt, dass der Interpretationsspielraum gross ist. Eine offizielle Arbeitslosenzahl darf nicht unabhängig vom Ausbau des Gesundheitswesens verstanden werden: Woran wird der Mangel gemessen? An den aktuell verfügbaren Stellen oder an den Stellen, die es geben müsste?
Zweitens „soll die Schweiz dafür besorgt sein, dass sie nur dann aus Entwicklungs- und Schwellenländern Gesundheitspersonal rekrutiert, wenn mit diesen Ländern Abkommen bestehen, die (…) Transferleistungen zugunsten der betroffenen Gesundheitssystemen vorsehen“. Das Stagiaire-Abkommen reicht dafür nicht aus. Es bräuchte wenn schon ein ausgebautes Abkommen, das insbesondere die Anerkennung der Abschlüsse, die nötigen Weiterbildungs- oder Umschulungsmassnahmen (inkl. Sprachkurse) und den Transfer von Sozialversicherungsleistungen regelt. In ihrer Ausschreibung sucht CarePers für das aktuelle Projekt Leute, die mindestens ein Jahr Berufserfahrung und wenn möglich bereits Auslanderfahrung mitbringen. Dem dringenden Bedürfnis der Arbeitslosen in Manila kommt dies nicht entgegen: Wenn schon wäre ein Berufseinstieg gefragt, der ohne „forced volunteering“ möglich ist.
Die Frage ist auch, wie „Transferleistungen“ aussehen könnten. Ellen Sana und Jillian Roque nennen folgende Modelle: Die Schweiz könnte in die Ausbildung von Gesundheitspersonal auf den Philippinen investieren. Es gibt dort nur eine nationale, öffentliche Universität, die auch den unteren Mittelschichten und Unterschichten ein international konkurrenzfähiges Studium ermöglicht – die University of the Philippines. Auch sie leidet unter dem Spardruck und ihr Wachstum kann in keiner Weise mit dem Bevölkerungswachstum mithalten. Es wäre deshalb falsch zu sagen, dass der Staat hauptsächlich die Ausbildungskosten der Pflegefachkräfte trägt. Es sind die Familien, die in der Hoffnung auf Auslandüberweisungen einzelnen Kindern die teure Ausbildung an einer Privathochschule finanzieren. Eine Transferleistung könnte also sinnvollerweise in Form von Stipendienprogrammen ausgerichtet werden. Eine zweite Möglichkeit ist die Finanzierung besserer Arbeitsbedingungen im staatlichen Gesundheitssektor. Dazu bieten sich ländliche Gesundheitszentren und -spitäler an. Drittens wäre der flächendeckende Ausbau der existierenden, für den Mittelstand nicht schlecht funktionierenden staatlichen Krankenkasse ein interessantes Projekt. Viertens existiert das Modell, dass ein Aufnahmeland die Quellensteuererträge des eingewanderten Gesundheitspersonals tel quel an das Herkunftsland zurückzahlt. Auf alle Fälle müssten die Transferleistungen so ausgestaltet sein, dass die Schweiz durch die Rekrutierung nicht spart.
Die Forderung, dass branchenübliche Arbeitsbedingungen und Löhne auch für temporär arbeitende Migrantinnen und Migranten gelten, ist innerhalb von Betrieben einfacher umzusetzen, als wenn man die beschriebene Aufteilung der Branche ins Auge fasst. Dieses Problem kann jedoch nicht über ein bilaterales Abkommen gelöst werden, es muss in Anstrengungen für einen Branchen-GAV in der Spitex und schärfere Regeln für den Bezug öffentlicher Leistungsverträge an Heime, Privatspitäler und Spitexorganisationen angegangen werden.
Wenn ein Rekrutierungsprogramm den WHO-Richtlinien entsprechen soll, darf es nicht allein von einer Privatfirma unternommen werden, die irgendwie mit einer nationalrätlichen Kommission, irgendwie mit dem BAG und dem BFM zusammenarbeitet. Die Bedingungen der Migration müssen in einem bilateralen Abkommen – wie das in den Philippinen üblich geworden ist – unter Einbzug von NGOs und Gewerkschaften beider Länder festgelegt werden. Daran müssen sich dann die privaten Vermittlerfirmen halten.
Das Manifest fordert verstärkte Gesundheitszusammenarbeit in der Entwicklungshilfe. Die Philippinen sind kein Schwerpunktland der Schweizer Entwicklungshilfe und gelten trotz enormem Reichtumsgefälle und hoher Armutsquote als Schwellenland. Der alte Slogan, dass es wichtiger ist, weniger zu nehmen, als mehr zu geben, gilt hier mehr denn je. Die Philippinen waren eines der ersten Länder, mit denen eine geordnete Rückgabe von Potentatengelder (Marcos-Gelder) aus der Schweiz möglich gemacht wurde. (Dass diese Gelder z.T. noch immer auf einem Sperrkonto in Manila festliegen, ist nicht der Schweiz anzulasten.) Nach wie vor braucht das Land jedoch eine Entschuldung, um den zögerlich beginnenden Aufschwung durch öffentliche Investitionen in die Infrastruktur, in die öffentliche Bildung und ins Gesundheitswesen kräftigen zu können. Die philippinische Freedom from Debt Coalition stellt folgenden Vergleich an: Während 2011 von der nationalen Regierung für den Schuldendienst 18.5 Milliarden Franken ausgegeben wurden, betrugen die Ausgaben für Gesundheit 1.2 Milliarden. Eine breite Koalition von NGOs (Social Watch Philippines) sieht einen Beitrag zur Lösung der Probleme in einer Steuerreform, welche die Schlupflöcher für Grossfirmen – u.a. ausländische Firmen wie Nestlé – endlich stopft.
Soweit meine Überlegungen, die in verschiedene und widersprüchliche Richtungen gehen. Eine aktive Rekrutierung von philippinischem Gesundheitspersonal für die Schweiz unterstützt in den Philippinen eine fatale Wirtschaftspolitik, die nationale Entwicklung durch Remissen von Emigranten ersetzt. In der Schweiz erlaubt sie Sparmassnahmen und damit Steuergeschenke, die unnötig und ungerecht sind. Im Prinzip ist die ganze Sache abzulehnen. Unter geltendem Ausländerrecht, dessen Aufweichung nicht in Aussicht steht, ist eine permanente, geregelte Migration gar nicht möglich. Realistisch ist also ein Abkommen über befristete Arbeitsbewilligungen – auch das ist grundsätzlich abzulehnen. Und trotzdem wäre der WHO-Kodex noch anzuwenden, um pragmatisch einige Details im Interesse der Migrantinnen und Migranten zu regeln.
*Annette Hug, geb. 1970, hat Women and Development Studies an der University of the Philippines in Quezon City (Metro Manila) studiert. Sie ist Zentralsekretärin der Gewerkschaft vpod. Im rotpunktverlag Zürich sind zwei Romane von ihr erschienen. Kontakt: Annette.Hug@vpod-ssp.ch
Quellen