Von Susanne Bachmann
Weibliche Genitalverstümmelung ist auch in Europa ein Thema. Tausende betroffene Migrantinnen, vor allem aus Ostafrika, leben in der Schweiz. Fachleute aus dem Gesundheits- und Sozialbereich sind vielfach unzureichend informiert über die Problematik. Ein Netzwerkprojekt verschiedener Organisationen geht die Präventions- und Informationsarbeit nun koordiniert an. Erstmals liegen für die Schweiz Richtlinien für Medizinerinnen vor sowie Informationsmaterialien, die sich direkt an Migrantinnen richten.
Im Februar 2005 sorgte eine Studie der Uni Bern und Unicef Schweiz für Aufsehen: Eine Umfrage zeigt, dass 61 Prozent der antwortenden Schweizer GynäkologInnen schon einmal eine beschnittene Frau behandelt haben. Diese Zahl macht deutlich, dass weibliche Genitalverstümmelung (engl.: Femal Genital Mutilation – FGM) längst auch ein europäisches Problem ist, auf welches angemessene Hilfestellungen gefunden werden muss. Betroffene Mädchen, Frauen und ihre Familien wiederum haben im Rahmen der Chancengleichheit ein Recht auf Information und kompetente Beratung und Behandlung.
Auch in der Schweiz werden wahrscheinlich Mädchen genital verstümmelt. Der Eingriff wird als schwere Körperverletzung nach Schweizer Strafrecht verfolgt. Es muss davon ausgegangen werden, dass er nur im Verborgenen oder auf Ferienreisen stattfindet. In der Schweiz leben schätzungsweise 6000 bis 7000 betroffene Frauen. Der grösste Teil kommt aus Ostafrika, vor allem Somalia und Äthiopien.
Die betroffenen Migrantinnen stehen in der Schweiz einer Vielzahl von Problemen und Schwierigkeiten gegenüber. Zum einen sind sie oft konfrontiert mit den gesundheitlichen Folgen des Eingriffs. Die Genitalverstümmelung kann unter anderem zu chronischen Infekten, starken Beschwerden bei der Menstruation, sexuellen Störungen und Schwierigkeiten bei Geburten führen. Das schweizerische Gesundheitssystem ist nur unzureichend vorbereitet auf diese spezifische Problematik. In der Ausbildung von Hebammen, GynäkologInnen, KinderärztInnen, Pflegefachkräften und SozialarbeiterInnen kommt FGM bisher nicht vor. Empfehlungen für den Umgang mit genital verstümmelten PatientInnen fehlen. Beschnittene Frauen berichten, dass Ärzte sie überrascht gefragt hätten, ob sie denn einen Unfall oder Verbrennungen erlitten hätten. Für die Betroffenen sind solche Reaktionen wenig vertrauenserweckend und erhöhen die Zugangsbarrieren. Fehlende transkulturelle Kompetenzen der Fachpersonen führen zu weiteren Stigmatisierungen.
Weibliche Genitalverstümmelung ist ein Tabuthema. Migrantinnen sind oft ungenügend über die Rechtssituation in der Schweiz bezüglich FGM informiert. Zudem bringen sie Beschwerden vielfach nicht in Verbindung mit ihrer Beschneidung. Sie sind kaum informiert über mögliche Komplikationen und Fragen, die in Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt auf sie zukommen.
Gleichzeitig gibt es in der Schweiz keine spezialisierten Anlaufstellen, an die sich die Frauen wenden könnten. Auch untereinander sind die Frauen nur in den grossen Städten vernetzt. In Zürich etwa gibt es eine engagierte somalische Frauengruppe und das Zentrum Schwarze Frauen. Dazu kommt eine widersprüchliche Politik der Behörden: einerseits erkennt die Schweiz Genitalverstümmelung als Menschenrechtsverletzung an. Gleichzeitig erhalten Frauen, die für sich oder ihre Töchter Schutz suchen, um der drohenden Genitalverstümmelung im Herkunftsland zu entkommen, in der Schweiz bisher kein Asyl. Es werden höchstens "vorläufige Aufnahmen" ausgesprochen - ein Aufenthaltsstatus, der wenig Rechtssicherheit bietet.
Ein Grossteil der Frauen aus den fraglichen Regionen lebt in der Schweiz denn auch mit ungesichertem Aufenthaltsstatus. Sie haben nur eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt. Es ist unklar, wie lange sie bleiben können. Für "vorläufig aufgenommene" Frauen ist es schwierig, sich gegen eine Beschneidung ihrer Töchter auszusprechen. Bei einer Rückkehr ins Herkunftsland fürchten sie den sozialen Ausschluss und den starken Druck der Familien. Ihnen fehlt bei einer Rückkehr die Unterstützung, um notfalls auch ohne Ehemann überleben zu können.
Die Präventions- und Sensibilisierungsarbeit gegen die Genitalverstümmelung muss diesen komplexen Voraussetzungen gerecht werden. Es reicht nicht, den Brauch zu verurteilen. Um das heikle Thema anzugehen, muss der ganze migrationsspezifische und sozial-politische Kontext einbezogen werden. Vereinfachte Darstellungen sind stigmatisierend für Afrikanerinnen in der Schweiz.
Langsam wurden in den vergangenen Jahren auch in der Schweiz Institutionen und engagierte Einzelpersonen auf das Thema FGM aufmerksam. In anderen europäischen Ländern gibt es seit über dreissig Jahren Aufklärungs- und Forschungsarbeit zu FGM, auf die Bezug genommen werden konnte. In der Schweiz fanden sich bisher vorwiegend Einzelarbeiten, zum Beispiel ethnologische Forschungen.
Erstmals bündeln nun verschiedene Organisationen aus dem Gesundheits- und Menschenrechtsbereich ihre Aktivitäten zu FGM: Anfang 2003 initiierte Iamaneh Schweiz ein umfassendes Projekt zum Thema, um die Aufklärungs- und Sensibilisierungsbemühungen gegen Genitalverstümmelung schweizweit zu koordinieren. Ziel ist es, gezielt Präventions- und Informationsarbeit sowohl bei den MigrantInnengemeinschaften der betroffenen Herkunftsländer als auch bei Fachleuten aus Gesundheits- und Sozialwesen zu leisten.
Ins Netzwerk «FGM in der Schweiz» bringen folgende Organisationen ihr Know-how ein: Iamaneh Schweiz, Caritas Schweiz, Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, Schweizerisches Tropeninstitut, PLANeS, Unicef Schweiz, Schweizerischer Hebammenverband und Terre des femmes Schweiz. Durch die breite Zusammensetzung des Netzwerkes können die verschiedenen Dimensionen der Problematik - Gesundheit, Frauenmigration Kindesschutz, Straf- und Asylrecht usw. - kompetent angegangen werden.
In einem ersten Schritt wurden von einer Arbeitsgruppe unter Federführung der Schweizerischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie Richtlinien erarbeitet für Fachpersonen aus dem Gesundheitsbereich, vor allem für GynäkologInnen, Hebammen und Pflegefachleute. Die Richtlinien enthalten Hintergrundinformationen zu FGM sowie konkrete Empfehlungen für gynäkologische Untersuchungen, Schwangerschaft, Geburt und Nachsorge bei beschnittenen Frauen.
Gezielt sollen zukünftig auch Leiterinnen von Kursen zu Geburtsvorbereitung und Säuglingspflege sowie Hebammenschülerinnen erreicht werden. Daher erweiterte der Schweizerische Hebammenverband das Handbuch „Migration und Geburtsvorbereitung, Säuglingspflege und Kleinkinderbetreuung“ mit Informationen zum Thema FGM, medizinischen Hinweisen und Informationen zum Kindesschutz.
Um Mädchen vor Verstümmelungen zu schützen, hat Terre des femmes Schweiz eine Broschüre für MigrantInnen in verschiedenen Sprachen verfasst, die über die Gefahren von FGM informiert. Diese kann auch von ÄrztInnen, Hebammen oder SozialarbeiterInnen in der Präventionsarbeit eingesetzt werden. Für die verbreitete Broschüre zu Verhütung, Schwangerschaft und Aids, die sich an MigrantInnen richtet, erarbeitete PLANeS ein mehrsprachiges Einlageblatt zu FGM. Für interkulturelle ÜbersetzerInnen entwickelte Caritas ein Modul zum Thema FGM.
Der nächste Meilenstein des Projektes wird im Jahr 2006 erreicht: Im Verlaufe der Zusammenarbeit wurde bereits ein Netz von Kontakten zu ExpertInnen für FGM-bezogene Fragen aufgebaut. Nun soll künftig ein Mini-Referenzzentrum diese Kontakte pflegen und bei Anfragen als Triagestelle fungieren.
Migrantinnen in den verschiedenen Regionen der Schweiz organisieren sich vermehrt für ihre Anliegen und engagieren sich gegen FGM. Migrantinnen und Schlüsselpersonen aus den betroffenen Gemeinschaften werden unter anderem auch in den verschiedenen Teilprojekten des Netzwerkes «FGM in der Schweiz» einbezogen.
Um die Frauen zu erreichen, müssen sie als Partnerinnen und Expertinnen einbezogen werden. Nur über gemeinsames Handeln können politischer Druck erzeugt und die rechtliche, soziale und gesundheitliche Situation der Frauen verbessert werden. Zentraler Bestandteil des Netzwerkprojektes war daher eine Befragung von somalischen und äthiopischen Migrantinnen. Daraus entstand ein Empfehlungskatalog für die Sensibilisierungsarbeit gegen FGM.
Die afrikanischen Frauen selbst in ihrem Engagement, in ihrer Eigenständigkeit und Selbstbestimmung zu stärken, ist eine langfristig erfolgreiche Strategie gegen Genitalverstümmelung, die zugleich Perspektiven für die Migrantinnen schafft. Das heisst auch: Appelle und Verbote nutzen nichts, wenn nicht zugleich Grundlagen dafür gelegt werden, dass die Frauen Bildung und Sicherheit und damit Lebensperspektiven in Unabhängigkeit erhalten.
*Susanne Bachmann ist Soziologin und Projektleiterin für die Bereiche FGM und Migration bei der Frauenrechtsorganisation Terre des femmes Schweiz. Kontakt: fgm@terre-des-femmes.ch, www.terre-des-femmes.ch. Kontakt zu den am Netzwerk «FGM in der Schweiz» beteiligten Organisationen: Monika Hürlimann, Caritas Schweiz (Koordinatorin), mohuerlimann@caritas.ch
FGM - Weibliche Genitalverstümmelung Bei der weiblichen Genitalverstümmelung (engl.: Femal Genital Mutilation
- FGM) werden die äusseren Geschlechtsorgane der Frau teilweise oder völlig
entfernt. Meist sind die Mädchen dabei zwischen vier und zwölf Jahre alt.
FGM wird hauptsächlich in afrikanischen Ländern durchgeführt. Weitere Rechtfertigungen sind, dass die Beschneidung die Fruchtbarkeit erhöhe, ein unbeschnittenes weibliches Genital hässlich oder schmutzig sei oder dass nur so die Jungfräulichkeit vor der Ehe und sexuelle Treue sichergestellt werden kann. Eine nicht beschnittene Frau gilt als unreiner, zweitklassiger Mensch. Häufig wird von weiblicher Beschneidung gesprochen. Der Eingriff ist jedoch mit der Beschneidung der männlichen Vorhaut nicht zu vergleichen. Meist wird die Klitoris zum Teil oder ganz abgetrennt und oft zusätzlich die kleinen Schamlippen entfernt. Diese Formen sind mit einer teilweisen oder vollständigen Amputation des Penis vergleichbar. Zu einer differenzierten Herangehensweise an die Praxis der genitalen Verstümmelung gehört ein sensibler Umgang mit Begriffen. Um den Eingriff nicht zu verharmlosen, sprechen GegnerInnen von Genitalverstümmelung oder englisch: Femal Genital Mutilation - FGM. Gegenüber betroffenen Frauen kann es angemessener sein, von Beschneidung zu sprechen, da dieser als weniger stigmatisierend empfunden wird. |