Von Hans Schäppi
Die meisten Ökonomen gehen heute davon aus, dass die kapitalistische Wirtschaft ein Gleichgewichtssystem darstellt, das durch den Markt optimal koordiniert wird. Durch die Nutzenmaximierung der Konsumenten und Investoren entstehe der grösstmögliche gesellschaftliche Nutzen. Ein Blick auf die gesellschaftliche Realität zeigt uns aber, dass dies keineswegs zutrifft.
Bei einer kritischen Betrachtungsweise stellt man bald einmal fest, dass es sich bei der kapitalistischen Wirtschaft zwar um ein sehr dynamisches System handelt, bei dem aber Rentabilität und Produktion, Angebot und Nachfrage, aber auch Produktion und gesellschaftliche Bedürfnisse keineswegs übereinstimmen müssen, ja dass dies eher den Ausnahmefall darstellt, was zu gewaltsamen Anpassungsprozessen wie Krisen führen kann, wie wir sie gerade seit der Mitte der siebziger Jahre wieder verstärkt erleben. In den achtziger und neunziger Jahren hat sich gegenüber der Zeit der Hochkonjunktur ein neues Regime der kapitalistischen Weltwirtschaft herausgebildet, in dem wo ein neues – wenn auch nicht sehr stabiles – Gleichgewicht gefunden worden ist. Die Rentabilität der Produktion konnte seit der Profitkrise der siebziger Jahre wieder massiv gesteigert werden, wenn auch nicht mit Produktivitätssteigerungen so doch mit Hilfe von Lohnrestriktion, Personalabbau und Arbeitsintensivierung, das heisst mit einer Verschärfung der Ausbeutung und all ihren negativen sozialen Folgen. Auch Angebot und Nachfrage wurden wieder verstärkt ins Gleichgewicht gebracht, indem heute die gestiegenen Profite nur zum Teil wieder in den Produktionsprozess investiert werden, sondern in der Form von Gewinneinkommen auch in den Konsum fliessen. Unsere Gesellschaft entwickelt sich damit zu einer Dienergesellschaft, wo die Ober- und Mittelschichten nicht nur dem Luxuskonsum geniessen, sondern sich auch in mannigfaltiger Art von der Putzfrau bis zum Pizzakurier von niedrig entlöhnten Menschen bedienen lassen.
Ein Problem konnte bis anhin allerdings nicht gelöst werden und spitzt sich weiter zu: Die wachsende Schere von kapitalistischer Effizienz- und Rentabilitätssteigerung und gesellschaftlichen Bedürfnissen. Diese Schere ist heute unübersehbar geworden. In einer hochindustrialisierten Gesellschaft wie der Schweiz verlagern sich die gesellschaftlichen Bedürfnisse immer stärker in Richtung qualitativ hochstehender Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit. Da diese aber nicht kapitalistisch rentabilisiert werden können, wird heute im Bildungs- und Gesundheitsbereich gespart, während ohne Rücksicht auf die Umwelt andere Güter forciert produziert und vertrieben werden, für die ein Bedarf erst geschaffen werden muss.
Immer noch idyllisch sind allerdings die Verhältnisse bei uns im Vergleich mit denjenigen in den Ländern des Südens, wo neoliberale Sparprogramme des IWF verheerende Auswirkungen auf des Gesundheits- und Bildungswesen dieser Länder haben.
Die wachsende Diskrepanz zwischen kapitalistischer Rentabilitätssteigerung und gesellschaftlichen Bedürfnissen zeigt sich heute sehr deutlich in der Pharmaindustrie. Im Gegensatz zu anderen Sektoren blieb die Pharmaindustrie auch nach dem Trendbruch der siebziger Jahre ein Bereich mit hohen Wachstumsraten und hoher Profitabilität. Dies deshalb, weil einerseits der Gesundheitsbereich im Gegensatz zu anderen fordistischen Branchen weiterhin stark expandierte. Andererseits können in der Pharmaindustrie dank Patentschutz und hohen Eintrittskosten ausserordentlich hohe Profite erzielt werden. Auf den Pharmabereich konzentrieren sich so bis heute das Interesse der Chemiekonzerne wie auch der Finanzanleger. Andererseits hat gerade in der Pharmaindustrie die Komplexität der wirtschaftlichen Prozesse zugenommen. Während Roche in den sechziger und siebziger Jahren mit wenigen Produkten wie Vitaminen und Valium auf einfache Art riesige Profite machte, sind heute die Fixkosten der Pharmakonzerne massiv angestiegen. Dies nicht nur durch die hohen Forschungs- und Entwicklungskosten und die überrissenen Gewinnerwartungen an den Finanzmärkten, sondern auch durch ein Heer an Beratern, Vermarktern, Prüfern etc. und durch die Verkürzung der Vermarktungszeiten, das heisst der Lebensdauer der Medikamente. Dies führt dazu, dass heute, um die hohen Fixkosten zu senken, in der Pharmaindustrie ständig restrukturiert, ausgelagert und fusioniert wird.
Die hohen Fixkosten haben aber noch andere Auswirkungen, um auf unsere Fragestellung zurückzukommen: Die Pharmaindustrie vermag heute immer weniger zur Lösung wichtiger gesellschaftlicher Probleme beizutragen. Die hohen Forschungs- und Registrierungskosten von ca. 300 Millionen Dollar pro Produkt, die extrem überzogenen Gewinnerwartungen in dieser Branche und die damit gegebene Ausrichtung auf die kaufkraftstarken Märkte führen dazu, dass heute notwendige und nützliche Präparate, die nicht mindestens eine halbe Milliarde Umsatz versprechen, nicht mehr in die Forschungsprogramme aufgenommen werden. Tendenziell auf der Strecke bleibt damit die Grundversorgung für ärmere Länder und weniger kaufkräftige Bevölkerungsschichten im Süden und die Bekämpfung von Krankheiten, die relativ selten sind. Mehr und mehr Geld wird hingegen in die Entwicklung von Life-Style-Produkten gesteckt, womit die Fresssucht und die Potenzprobleme der stressgeplagten kaufkraftstarken Schichten kuriert werden können. Hier sind sowohl hoher Umsatz als auch Extraprofite zu erwarten.
Im Gegensatz zu hochindustriealisierten Ländern wie der Schweiz, wo Infektionskrankheiten dank Impfungen, Antibiotika und präventiven Massnahmen stark zurückgegangen sind und die grosse Zahl von Todesfällen auf nichtübertragbare Krankheiten wie Herz- und Kreislaufkrankheiten, Autoimmunkrankheiten und Krebs zurückgehen, spielen in den Ländern des Südens Infektions- und Tropenkrankheiten noch eine zentrale Rolle. Hier raffen Krankheiten wie die Malaria, die Tuberkulose, die Schlafkrankheit, Hirnhautentzündungen oder Aids jedes Jahr Millionen von Menschen dahin, weil wirksame Medikamente fehlen oder weil diese nicht gekauft werden können. Die bewährten Mittel verlieren langsam ihre Wirkung, weil die Erreger resistent geworden sind. Mangels Rentabilisierungsmöglichkeiten zieht sich aber die Pharmaindustrie aus dem Kampf gegen die Infektionskrankheiten in Ländern des Südens immer mehr zurück. Diese Entwicklung wird verschärft durch den wachsenden Einfluss der Börsen auf Entwicklungen in der Pharmabranche. An Pressekonferenzen und Pressegesprächen orientieren die Pharmakonzerne zuerst und ausführlich die Finanzanalysten über ihre neuen Produkte und ihre Vorhaben. Diese beeinflussen dann mit ihrer Berichterstattung wiederum die Produktepolitik und die Forschungsschwerpunkte in der Pharmaindustrie.
Stärker als bisher muss heute die wachsende Diskrepanz zwischen kapitalistischer Effizienzsteigerung und gesellschaftlichen Bedürfnissen zur Diskussion gestellt und entsprechende Antworten entwickelt werden. Wie müssen unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft gestaltet sein, damit in ihr nicht primär Rentabilitätskriterien, sondern die gesellschaftlichen Bedürfnisse zum Tragen kommen? Zweifellos beinhaltet die Entwicklung von Antworten auf diese Frage eine klare Absage an den Marktradikalismus und die Privatisierungen, aber auch an die neoliberalen Strategien im IWF und in der WTO. Unterstützt werden müssen Kampagnen zur Überwindung von Zugangshindernissen zu Medikamenten, die Förderung der Herstellung von qualitativ guten Generika für und in den Ländern des Südens und für Ausnahmeregelungen für Medikamente in internationalen Handelsverträgen für die Länder des Südens. Wenn schon weitere Life-Style-Medikamente, dann nicht Prozak, das vom Managern geschluckt wird, um moralische Hemmschwellen bei Entlassungen und Restrukturierungen herunterzusetzen, sondern für ein mal Produkte gegen Profitgier und moralische Verkommenheit. Es ist an der Zeit, wieder radikal zu werden.
*Hans Schäppi ist Bereichsleiter Chemie der Gewerkschaft GBI. Auszug aus seinem Referat am Weltaidstag in der SP-Bern Süd.