Von Solveig Schrickel
Eigentlich wäre das chilenische Gesundheitssystem gut. Doch die wenigsten können sich das private Angebot leisten, das sich zudem auf die grossen Städte konzentriert. Das kirchliche Gesundheitsprogramm SEDEC hilft vor allem Frauen und der Urbevölkerung im Süden Chiles, ihre Gesundheit möglichst in die eigenen Hände zu nehmen. Solveig Schrickel, ehemalige Mitarbeiterin des evangelischen missionswerks basel „mission 21“, berichtet über ein erfolgreiches Projekt zur Herstellung von Heilmitteln auf Kräuterbasis, das immer weitere Kreise zieht – gerade auch nach dem diesjährigen Erdbeben.
Chile hat im Vergleich zu anderen südamerikanischen Ländern ein relativ breit ausgebautes Gesundheitssystem; in den grossen Städten erreicht es nahezu westeuropäisches Niveau. Allerdings herrscht in Chile ein Zweiklassensystem im Gesundheitsbereich: Während man in den privaten Kliniken gegen Bezahlung medizinische Betreuung auf Hightech-Niveau erhält, lassen sich 80 Prozent der Chileninnen und Chilenen in staatlichen Spitälern behandeln. Überfüllte Wartezimmer, Mangel an Fachpersonen, lange Warteschlangen und fehlende Medikamente gehören seit Jahren zum Alltag in diesem System, das sein Hauptgewicht fast ausschliesslich auf die Behandlung, jedoch kaum auf Information und Prävention legt.
Dabei bräuchte es nur ein wenig Aufklärung, Hygiene, sowie gesunde Ernährung und Lebensführung, um die häufigsten Krankheiten wie etwa Erkältung, Magenverstimmung, Rheuma, Bluthochdruck oder nervöse Probleme zu verhindern bzw. mit Heilpflanzen und anderen natürlichen Methoden zu behandeln. Die Ausgangslage ist gut: Schwere Infektionskrankheiten wie Malaria oder Cholera sind in Chile kaum anzutreffen. Hepatitis, Tuberkulose und Typhus sind selten, und auch andere Darm-Infektionskrankeiten sind durch das gut ausgebaute, landesweite Trinkwassernetz rar geworden.
Anfang der achtziger Jahre, zu Zeiten der Militärdiktatur von Augusto Pinochet, lancierte der Entwicklungs- und Ausbildungsdienst SEDEC (Servicio para el Desarrollo y la Educación Comunitaria) der Methodistischen Kirche von Chile ein Gesundheitsprogramm. SEDEC, der seit 1984 von der Basler Mission bzw. heute von mission 21 massgeblich unterstützt wird, arbeitete damals hauptsächlich in abgelegenen Gegenden, wo die Ärzte höchstens dreimal im Monat hinkamen und wo die Selbstbehandlung einen sehr hohen Stellenwert einnahm. In den ersten Jahren ging es darum, praxisorientiertes Basiswissen zu Krankheitsprävention und zur Gesundheitsversorgung zu vermitteln, so beispielsweise zu Erste-Hilfe, Hygiene, AIDS-Verhütung, Familienplanung oder Temperatur- und Blutdruckmessung. Seit 1995 führt SEDEC offiziell ein Heilkräuterprojekt als eigenständiges Projekt. Hauptziel ist es, der Bevölkerung medizinisches Grundwissen zu vermitteln, damit sie sich im Krankheitsfall möglichst unabhängig vom jeweiligen Gesundheitssystem selbst versorgen können.
In den ländlichen Gebieten bei der Mapuche-Urbevölkerung im Süden Chiles, aber auch in den städtischen Armenvierteln war der Gebrauch von Heilkräutern im Krankheitsfall immer noch sehr lebendig. Das SEDEC-Heilkräuterprojekt hat dieses traditionelle Wissen aufgegriffen: Mithilfe von wissenschaftlicher Literatur, die in Europa glücklicherweise reichlich vorhanden ist, wurden jene Arzneipflanzen bestimmt, die bedenkenlos und erfolgreich gegen die häufigsten Krankheiten verwendet werden können. Ausserdem wurden einfache Rezepte ausgearbeitet zur Herstellung von Arzneimitteln wie Tropfen, Sirups oder Salben auf Heilkräuterbasis. Das Thema stiess auf ein grosses Echo bei der Bevölkerung und entwickelte sich bald zu einem eigenständigen Heilpflanzenprojekt.
Die meisten wissenschaftlich beglaubigten Arzneikräuter wie etwa Spitzwegerich, Königskerze, Brennnessel oder Löwenzahn sind durch die europäische Einwanderung nach Chile gelangt. Hier wachsen sie inzwischen wild oder werden häufig in Gärten und Parks angepflanzt (Lavendel, Rosmarin, Ginkgo Ringelblume usw.). Verschiedene Universitäten haben in den letzten Jahren die einheimische chilenische Flora untersucht, sodass nun auch von ihnen wissenschaftliche Daten zur Verfügung stehen, sowohl auf ethnomedizinischer als auch auf chemischer Ebene.
Im SEDEC-Heilkräuterkurs werden zuerst die Anatomie und Physiologie der einzelnen Organsysteme des Menschen (z.B. Luftwege), dann die häufigsten Krankheiten (z.B. Erkältungen) und deren Prävention besprochen. Zuletzt werden die lokal vorhandenen Heilkräuter gezeigt und diskutiert und entsprechende Heilmittel zubereitet. Die Teilnehmenden nehmen die selbstgemachten natürlichen Arzneien (z.B. Hustensirup und Brustsalbe) mit nach Hause und können so deren Wirksamkeit am eigenen Leib erfahren.
Über 3’000 Frauen und einige wenige Männer haben seit 1995 den SEDEC-Heilkräuterkurs absolviert. Das Publikum ist extrem vielfältig und reicht von Bauers- und Mapuchefrauen über Armenviertelbewohner bis zu Pfarrerinnen. In den letzten Jahren fanden sich vermehrt auch medizinisches Fachpersonal, Ärzte, Medizinstudierende und Umweltschützerinnen, Lehrer und Akademikerinnen unter den Kursteilnehmenden.
Der Heilkräuterkurs ist in zehn Kapitel eingeteilt. Sie werden je nach Vorkenntnissen und Bedürfnissen der jeweiligen Gruppe in wenigen Workshops bis hin zu wöchentlichem Unterricht über die Dauer von zwei Jahren behandelt. Grosse zeitliche und inhaltliche Flexibilität ist wichtig: Bei medizinischen Fachleuten wird bei Bedarf auf Inhaltsstoffe, Chemie und Toxikologie eingegangen. Bei Pfarrpersonen und Personen aus dem kirchlichen Bereich geht der Unterricht von Pflanzen in der Bibel aus – Mitglieder der in Chile wichtigen freikirchlichen Pfingstkirchen würden sich kaum für ein rein „weltliches“ Gesundheitsprogramm erwärmen lassen.
Es scheint ein Widerspruch zu sein, Kräuterkurse in Mapuchegemeinden durchzuführen: Gelten doch Urbevölkerungen weltweit als die Hüter der traditionellen Heilweisen. Die Erklärung für das verloren gegangene Wissen liefert eine wüste Geschichte der Unterdrückung: Die Mapuche („Menschen der Erde”) werden seit der Unabhängigkeit Chiles 1810 im Süden des Landes immer wieder auf die unfruchtbarsten und abgelegensten Gebiete abgedrängt. Heute leben fast alle unter der Armutsgrenze. Die dominierenden Holzgesellschaften in der Gegend besitzen rund einen Viertel des Bodens. Die Naturwälder am Pazifik sind schon lange grösstenteils abgeholzt und durch gigantische Fichten- und Eukalyptusmonokulturen ersetzt worden. Die Mapuche der Küstenregion haben in den letzten zweihundert Jahren nicht nur ihr Land, sondern auch ihre Wälder verloren und somit die Hauptquelle für ihre traditionellen Heilkräuter.
Während die Indigenen ihre herkömmlichen Arzneipflanzen in den weitgehend zerstörten Naturwäldern kaum noch finden, haben sie ironischerweise in Europa Einzug in die amtlichen Arzneibücher gehalten – der Boldo (Peumus boldus) und der Seifenbaum (Quillaja saponaria) können sogar in Schweizer Apotheken gekauft werden.
Andererseits gibt es in weiten Teilen Chiles Pflanzen, die von den europäischen Siedlern eingeschleppt wurden und verwilderten: so zum Beispiel Löwenzahn, Johanniskraut, Spitz- und Breitwegerich oder Poleiminze. Viele dieser eingeschleppten Arzneipflanzen sind in Chile zwar allgemein bekannt, doch die Mapuche sind mit ihren Heilwirkungen nicht vertraut. Deshalb bezieht sich der Unterricht von SEDEC in den indigenen Gemeinden auf diese „huinca“-Pflanzen. („Huinca“ bedeutet in der Mapuchesprache „der Fremde“ und bezieht sich auf alle Zugewanderten bzw. auf Nicht-Mapuchen.)
Gleichzeitig lernen sie, wie man Medikamente auf Heilkräuterbasis herstellt: Hustensirup mit Königskerzenblüten, Malvenblätter und -blüten sowie Spitzwegerichblättern; Magentropfen mit Kamilleblüten, Breitwegerich- und (den einheimischen) Matico-Blättern. (Matico, Buddleja globosa, ist ein stark antiseptisch und wundheilender chilenischer Strauch, der derart stark in der Tradition verwurzelt ist, dass er in vielen städtischen Hinterhöfen und Vorgärten angepflanzt wird.)
Die ursprünglich aus Europa stammende Ringelblume ist in Chile weit verbreitet als Zierblume in Gärten und Parks, ihre Heilwirkung hingegen ist weitgehend unbekannt. Nicht nur die Mapuchefrauen sind beeindruckt über die Wirkung der Ringelblumensalbe, die Wunder wirkt auf ihrer von Wind und Sonne gegerbten Haut, bei Wunden, Insektenstichen, Allergien, Verbrennungen, Schuppenflechte, Entzündungen usw. ...
Das Heilkräuterprogramm von SEDEC stösst auf immer grössere Nachfrage. Über 200 Personen nehmen jedes Jahr an den Kursen teil und es gibt Wartelisten von Gruppen, die sich dieses Wissen aneignen wollen. Erfreulicherweise wagen es immer mehr ehemalige Teilnehmende, in Absprache mit SEDEC eigene Workshops auf die Beine zu stellen. Erfreulich ist auch, dass das chilenische Gesundheitsministerium in den letzten Jahren vermehrt Interesse für die Komplementärmedizin signalisiert: Es hat zwei Listen mit über hundert Heilpflanzen veröffentlicht, die offiziell als „traditionelle pflanzliche Heilmittel“ gelten. Dies hat wiederum zu einem vermehrten Interesse für den fundierten Heilkräuterunterricht des SEDEC geführt.
Das katastrophale Erdbeben mit anschliessender Springflut am 27. Februar dieses Jahres, das tausende Chileninnen und Chilenen zu Obdachlosen machte, hat auch das SEDEC-Heilkräuterprojekt zu Anpassungen gezwungen. In Notlagern werden Blitzkurse angeboten, um mit den Lagerbewohnerinnen und -bewohnern die Nerven beruhigende Tropfen, Hustensirup, Ringelblumen- und Rheumasalbe herzustellen – alternative Heilmittel, die im kalten chilenischen Winter dringend benötigt werden und in ihren schulmedizinischen Varianten auf den meisten Gesundheitsposten längst ausgegangen sind.
Die neue Strategie hat sich als sehr erfolgreich erwiesen: Die Teilnehmenden lernen nicht nur, nützliche und erprobte Heilmittel herzustellen. Der SEDEC-Heilkräuterkurs hilft ihnen auch, psychisch über das Trauma hinwegzukommen. Last, but not least: Die Heilkräutermittel sind auch deshalb wichtig, weil das öffentliche chilenische Gesundheitssystem oft keine Medikamente mehr austeilen kann und sich die Leute dies aus der eigenen Tasche kaum leisten können.
*Solveig Schrickel, Agraringenieurin, Biologielaborantin und Heilkräuterspezialistin, war für mission 21 von 1989 bis 2007 in Concepción, Chile, als Projektleiterin des Entwicklungs- und Ausbildungsdienstes SEDEC im Einsatz. SEDEC (Servicio para el Desarrollo y la Educación Comunitaria) ist der Entwicklungs- und Ausbildungsdienst der Methodistischen Kirche von Chile. Heute arbeitet Solveig Schrickel in derselben Funktion und ist direkt vom SEDEC angestellt. Mehr Informationen zum Projekt auf http://www.mission-21.org/ (Projekt-Nr. 426.1010)