Von Helena Zweifel und Sr. Stella Baltazar
Caritas Indien arbeitet in vielen Projekten explizit mit Frauen zusammen. Weshalb dieser Fokus auf Frauen? Was heisst es für eine Organisation, konsequent eine Frauenperspektive einzubeziehen? Im Gespräch mit dem Bulletin von Medicus Mundi Schweiz erzählt Stella Baltazar von frauenspezifischen Strategien, organisatorischen Grenzen und ihrem persönlichen Engagement.
In den Gesundheitsprojekten im indischen Bundesstaat Bihar spielen Frauengruppen eine zentrale Rolle. Wie ist Caritas Indien dabei vorgegangen?
Caritas arbeitet seit Jahren in Dharbanga im nördlichen Bihar, dem Armenhaus Indiens. Die Musahar – übersetzt: die »Rattenesser« – sind Dalits, Kastenlose, die traditionell vom Rattenfang lebten und damit gesellschaftlich und wirtschaftlich am untersten Ende der Skala stehen. Anfänglich war es sehr schwierig, mit den Musahar zu arbeiten. Sie hatten keine Zeit, da sie sich als TaglöhnerInnen verdingen mussten, sie lebten abseits des Dorfes und wurden von den andern Kasten geächtet. Es war eine äusserst schwierige Arbeit, Zugang zum Dorf der Musahar zu gewinnen. Doch nach Jahren der Zusammenarbeit mit Frauengruppen der anderen Kasten und einem Prozess des Dialogs gelang es uns, auch ihre Sympathien zu gewinnen. Nur so konnten wir beginnen, die Musahar-Frauen zu organisieren.
Bei der Organisation der Frauen unterstützen wir sie darin, sich auszudrücken und zu behaupten und ein positives Selbstbildnis aufzubauen. Es ist die Aufgabe der Animatorin von Gruppen, solche Werte zu vermitteln. Wir bilden auch Spargruppen, um Frauen zu zwingen, jede Woche zusammenzukommen. Gleichzeitig gewinnen sie an Selbstvertrauen, wenn sie etwa sagen können: Ich habe jetzt Zugang zu Geld, wenn ich es brauche.
Welches sind die Gründe, weshalb Caritas Indien primär mit Frauen zusammenarbeitet?
Wir glauben, dass wir Veränderungen nur durch Frauen herbeiführen können. Zu lange haben wir die Macht in den Händen der Männer belassen. Wir wissen, wie die patriarchalische Gesellschaft funktioniert, wie sie Menschen isoliert und trennt und die unteren Kasten, Frauen und Kinder ausschliesst. Wir haben zudem erfahren, dass wir die Frauen organisieren müssen, wenn wir eine menschliche Gesellschaft aufbauen wollen, in der alle respektiert werden. Denn wenn sich Frauen einmal organisiert haben, setzen sie sich fürs Gemeinwohl ein und lassen niemanden aussen vor.
Die traditionelle Ausgrenzung der Frauen zeigt sich etwa darin, dass Entscheide allein von Männern getroffen werden. Ein ungeschriebenes Gesetz eines Dorfes besagt, dass Frauen ihre Häuser nicht verlassen dürfen, wenn das Panchayat - der Dorfrat - tagt, nicht einmal, um Wasser zu holen. Ich fragte einen der Männer, weshalb sie den Frauen, die schliesslich ihre Ehefrauen wären, so harte Restriktionen auferlegten. Die Antwort: »Wenn wir den Frauen erlauben würden, an den Dorfversammlungen teilzunehmen, denken Sie nicht, dass sie morgen auf unserem Köpfen herum tanzen würden?« Dies zeugt von grosser Unsicherheit und Furcht, aus der heraus sie versuchen, die andern zu beherrschen.
Das Empowerment der Frauen ruft oft Verunsicherung und Widerstand seitens der Männer hervor. Wie geht Ihr damit um, ohne das Ziel, die Stärkung der Frauen, aus den Augen zu verlieren?
Bei diesem Prozess müssen wir sehr vorsichtig vorgehen. Ein Beispiel aus Tamil Nadu soll dies illustrieren. Hier sind vorerst die Frauen organisiert worden, die dann von der Regierung Geld für die Reparatur des Dorfbrunnens forderten. Die Frauen nahmen die Arbeit auf und hatten Erfolg. Doch die Männer begannen zu murren und sagten, die Frauen würden sich jetzt aufspielen. Die Frauen spürten diesen Unfrieden sehr rasch und sagten sich: Wenn wir zulassen, dass die Männer gegen uns murren, schadet dies uns allen, denn die Männer haben die Macht, uns zu kontrollieren. Die Frauen beantragten nochmals finanzielle Unterstützung, diesmal zum Ausbau der Strasse, die das Dorf mit der Aussenwelt verbindet. Dank des vorherigen Erfolges wurde ihnen die Unterstützung zugesprochen. Die Frauen riefen nun das ganze Dorf zu einer Versammlung ein – ein historisches Ereignis. Sie waren bereit, den Männern die Verantwortung für den Strassenbau samt dem zugesprochenen Geld zu übergeben.
Dies ist eine wichtige Lektion, die ich von den Frauengruppen gelernt habe: Wenn wir zwei Schritte vorwärts machen, folgt ein Schritt rückwärts. Für mich ist auch ein Rückschritt ein Erfolg, denn dann können wir wieder zwei Schritte vorwärts machen. Das Leben ist nicht linear, und so können wir auch nicht linear vorwärts gehen.
Eure Strategie ist es nicht, ausschliesslich mit Frauen zu arbeiten. Ihr versteht dies vielmehr als ersten Schritt in einem Prozess?
Richtig. Wir dürfen bei der Mobilisierung der Dorfgemeinschaft Frauen nicht vernachlässigen unter dem Vorwand, eine integrierte Gesellschaft schaffen zu wollen. Die Annahme, dass bei der gleichzeitigen Organisation von Frauen und Männern Frauen automatisch inbegriffen und gefördert werden, hat sich als falsch erwiesen. Denn die Männer dominieren das Geschehen, wie sie sich seit alters her gewohnt sind. Daher müssen wir einen Fokus auf die Frauen richten und ihnen Raum und Zeit geben, ihr Selbstbewusstsein und ihre Fähigkeiten zu entwickeln.
Dies ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite dürfen wir die Männer nicht vergessen, denn Frauen leben nicht in Isolation, sondern immer im Kontext der Familie und der Gemeinschaft. Sie sind sehr abhängig von der Familie, wie auch die Familie von ihnen abhängig ist, wirtschaftlich und sozial. Wenn die Frauen bereit sind, organisieren wir auch die Männer, und nach und nach bringen wir sie zusammen.
Welche Rolle spielen Gesundheitsfragen bei dieser Arbeit?
Gesundheit ist eine zentrale Eintrittspforte. Die Musahar zum Beispiel leben in desolaten Umständen, in dunklen, schmutzigen Hütten ausserhalb des Dorfes, ohne Toiletten, ohne Wasser, ohne jegliche Form von Hygiene. Jedes Jahr steht die Region drei Monate lang unter Wasser, was sich verheerend auf die Gesundheitssituation auswirkt: Durchfallerkrankungen, Tuberkulose und Erkrankungen der Atemwege, Malaria und Leishmaniosis und zunehmend auch HIV/Aids sind weit verbreitet, oft mit tödlichem Ausgang. Die staatliche Gesundheitsversorgung ist quasi inexistent.
Wir begannen, die Frauen zu organisieren und führten Informationsveranstaltungen und Gesundheitskurse durch. Die Projektkoordinatorin, eine Krankenschwester im Dorfe, initiierte die Schaffung eines Gesundheitsfonds, in welchen jede Frau fünf Rupien pro Monat einzahlte. Die Organisation von Frauen in Gesundheitsgruppen, Informations- und Weiterbildungsveranstaltungen über alternative Kräutermedizin und konkrete Behandlungen trugen dazu bei, dass Frauen nun selbst im Hinterhof Heilpflanzen ziehen. Ein projekteigener Kräutergarten diente als Modell.
Heute produzieren die Frauen Heilpflanzen für 22 Krankheiten. Wenn ich ins Dorf komme, wollen mich die Frauen gleich in ihren Kräutergarten führen und mir die Pflanzen und ihr Wissen zeigen. Ich habe sehr viel von ihnen gelernt. Heute sind sie die ärztinnen. Jedes Dorf hat eine Gesundheitsstelle, wo die Heilpflanzen verarbeitet und aufbewahrt werden. Wenn jetzt die Flut kommt, haben die Frauen ihr eigenes Haus-Set mit homöopathischen Medikamenten und Heilkräutern gegen typische Krankheiten schnell zur Hand. Gesundheit liegt damit in ihren eigenen Händen und im Verantwortungsbereich der Gemeinschaft.
Was hat sich für die Frauen in diesem Prozess verändert?
Die Organisation der Musahar-Frauen war für sie ein gewaltiger Schritt vorwärts. Bei meinem letzten Besuch in Bihar führten wir eine Versammlung mit über sechzig Frauen aus der Region durch, an der zwei Musahar-Frauen teilnahmen. Sie sassen jedoch ganz hinten. Ich ging zu ihnen und begann mit ihnen zu reden. Als eine von ihnen, eine ältere Frau, aufstand und sprach, war ich sehr gerührt, denn ich spürte ihre Kraft und spürte die Bedeutung, als Mitglied der Frauengruppe anerkannt zu werden – nach Generationen der steten Ausgrenzung und Erniedrigung.
Dies können wir nur durch einen sehr langen Prozess erreichen. Wir können das Stigma, mit dem Dalits behaftet sind, nicht ausradieren. Aber wir können zumindest die Kluft überbrücken, damit sie sich als Frauen identifizieren können, als Schwestern, Lebensspenderinnen, Ernährerinnen. Diese Identifikation ist zentral zur überwindung der Kastenbarrieren.
Welchen Einfluss haben diese Veränderungen auf die Beziehungen zwischen den Geschlechtern auch im privaten Bereich, in Haushalt und Familie?
Darüber wissen wir noch wenig. Während sechs Monaten sind die Männer weg, auf der Suche nach Arbeit in ferne Städte migriert. Seit langem müssen die Frauen die Verantwortung für das Wohlergehen der Familie, insbesondere der Kinder, übernehmen und ums überleben kämpfen. Ich denke, dies hat zu einer gewissen Eigenständigkeit der Frauen beigetragen.
Wie schlägt sich der konsequente Einbezug von Frauen auf Projektebene in der Struktur und Kultur von Caritas Indien nieder, einer doch eher männerdominierten Organisation?
Caritas Indien hat tatsächlich starke patriarchalische Strukturen. Alle Abteilungen haben einen männlichen Chef. Wir führten kürzlich eine interne Weiterbildung zu Gender durch, woran auch der stellvertretende Direktor teilnahm. Wir wollen, dass Genderanliegen in alle Bereiche integriert werden. Wir stehen erst am Anfang eines langen Prozesses.
Glücklicherweise hat die Asienabteilung von Caritas Schweiz eine sehr qualifizierte Frau als Abteilungsleiterin, die mir grosse professionelle und persönliche Unterstützung für meine Arbeit gibt.
Was bewegt Sie persönlich, sich so konsequent für Frauen zu engagieren?
Ich erfahre eine riesige Diskrepanz zwischen der Realität der Frauen und ihren Fähigkeiten, Leben zu schaffen. Der Moment der Befreiung heisst für mich, das Leben in die eigenen Hände nehmen und die eigene Geschichte zu schaffen. Dies ist meine persönliche Philosophie.
Ein Erlebnis vor knapp zwanzig Jahren hat mich diesbezüglich nachhaltig beeinflusst. Ich erinnere mich sehr genau an die Frau mit den zwei kleinen Kindern, die im staubigen, heissen Bus neben mir sass, müde und hungrig von der langen Reise. Der kleine Junge bettelte um eine Banane, und die Mutter kaufte ihm eine. Auch das kleine Mädchen wollte etwas zu essen, doch die Mutter fuhr es an, es solle warten, zu Hause gäbe es Wasser, in dem der Reis gekocht wurde. Was hat denn das kleine Mädchen getan, um so harsch zurechtgewiesen zu werden? Es wird keine Veränderungen geben, ehe Frauen ihre negative Einstellung gegenüber Mädchen und Frauen nicht verändert haben. Daher müssen wir mit Frauen arbeiten, sie bilden und ihrer Stärken bewusst werden lassen.
* Sr. Stella Baltazar ist Inderin und lebt und arbeitet als Konsulentin und Ressourcenperson für Caritas Schweiz in Indien. Sie hat einen Master in Soziologie und Theologie, doch, wie sie selbst sagt, »mein wirkliches Wissen habe ich von den Frauengruppen in den Dörfern Indiens«. Das Gespräch mit ihr führte Helena Zweifel, Co-Geschäftsführerin von Medicus Mundi Schweiz, Netzwerk Gesundheit für alle. Kontakt: bstella@rediffmail.com