Von Peter Eppler
Armut und Unterdrückung bilden den Nährboden der Gewalt im indischen Bundesstaat Jharkhand. Während extremistische Untergrundbewegungen ihre Visionen durch Gewalt erreichen wollen, machen Frauen auf anderer Ebene mobil: Sie haben sich in hundert Dörfern bereits in Frauengruppen (Mahila Sabhas) organisiert und realisiert, dass sie nicht länger passiv auf unzuverlässige Unterstützung von aussen angewiesen oder widrigen Umständen hilflos ausgeliefert sind.
Dem im November 2000 neu geschaffenen indischen Bundesstaat Jharkhand ist der Reichtum bereits in die Wiege gelegt worden. Hier befinden sich rund 40 Prozent der Bodenschätze Indiens. Sie beinhalten unter anderem riesige Kohlevorräte, Uran, Kupfer und Pyrit. Durch geologische Untersuchungen sollen weitere Mineralien und Edelmetallvorkommen für die Ausbeutung geortet werden. Die Wirtschaftsauguren sehen im neuen Bundesstaat bereits ein Land der Zukunft und potentiellen Industrialisierung.
Jharkhand hat allerdings noch politische Altlasten zu bewältigen, bevor es in Ruhe zu neuen Ufern aufbrechen kann. Das Gebiet gehörte früher zum Bundesstaat Bihar, welcher nicht zu unrecht vom Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul das «Ende der Welt» genannt wurde. In einem Klima geprägt von politischer Willkür, Feudalverhalten und Unterdrückung von Dalits (niedrigen Kasten und ethnischen Minoritäten) gab es für die sozio-ökonomisch Benachteiligten nur wenig Hoffnung. In dieser Ausweglosigkeit wurde in Bihar 1967 die Naxalitenbewegung aktiv, die aus dem Untergrund heraus operierte und ultra-linke Zielsetzungen verfolgte. Gegenwärtig ist die Bewegung in Jharkhand besonders gewalttätig – vor allem Polizisten sind im Visier der Naxaliten. So katapultierte am 27. Januar 2002 eine Bombe einen Jeep rund zehn Meter in die Luft und hinterliess einen fünf Meter tiefen Krater. Unter den elf Opfern befanden sich neun Polizisten. Rund zwei Drittel von Jharkhand sind mittlerweile von den Naxaliten infiltriert worden, besonders die schlecht erschlossenen Hügel- und Waldgebiete. Aktuelle Statistiken des indischen Innenministeriums zeigen, dass Jharkhand Spitzenreiter bezüglich der Opfer ist, welche die politische Auseinandersetzung in den am schwersten betroffenen Bundesstaaten bereits gefordert hat.
Im Distrikt Dumka des Bundesstaates Jharkhand arbeitet die lokale Entwicklungsorganisation Badlao mit Unterstützung des Schweizerischen Roten Kreuzes bereits seit 1992, vorwiegend mit den indigenen Santals und einer Bengali sprechenden Bevölkerungsgruppe, die zu den niedrigkastigen Dalits zählen. Anfangs gehörten dreissig Dörfer zum Arbeitsgebiet, mittlerweile sind es hundert. Während sich Badlao aus den älteren Dörfern schrittweise zurückzieht, brauchen die im Jahre 2000 neu dazugekommen vierzig Dörfer noch die volle Unterstützung. In jedem Dorf haben sich die Frauen in Gruppen (Mahila Sabhas) organisiert, welche sich mit frauenspezifischen Anliegen und der Dorfentwicklung befassen. Diese Solidarisierung hat sich bereits positiv ausgewirkt. Sohagini Murmu sagt: «Wenn im Wald das Feuer ausbricht, wissen bald alle davon. Wenn jemand Kummer und Sorgen hat, weiss niemand davon – jetzt haben wir begonnen, Kummer und Sorgen miteinander zu teilen.»
Badlao konnte in den letzen zehn Jahren durch Gesundheitserziehung und gezielte Aufklärung über den Anspruch auf Regierungsdienstleistungen bereits gute Erfolge im Bereich der Basisgesundheit erzielen. So konnte beispielsweise die Kindersterblichkeit in den hundert Dörfern von 68 auf 12,2 pro tausend Kinder unter fünf Jahren gesenkt werden. Im letzten Jahr ist nicht eine einzige Frau während der Schwangerschaft oder bei der Geburt gestorben. Verhütbare Krankheiten, welche früher als Strafe der Götter oder durch Zauberei verursacht betrachtet wurden, fallen heute in die Eigenverantwortung der Frauen und Mütter - diese sind nicht länger Opfer unkontrollierbarer Mächte, sondern Gestalterinnen des eigenen Schicksals. Die Verbesserung der Gesundheit in der Familie kommt jedoch nicht von selbst, sondern wurde durch folgende gezielte Massnahmen erreicht:
Die Frauen haben realisiert, dass sie nicht länger passiv auf unzuverlässige Unterstützung von aussen angewiesen oder widrigen Umständen hilflos ausgeliefert sind. In einer gemeinsamen Aktion der Mahila Shabas setzten sich die Frauen beispielsweise dafür ein, dass Landrechte im Gebiet der Santals (ethnische Minorität) auch von Frauen erworben werden können, obwohl eine starke Opposition der Männer vorhanden ist. Die Frauenbewegung war in der Landrechtsfrage jedoch so stark engagiert, dass diese von den Politikern aufgenommen wurde. Der Chefminister von Jharkhand sprach sich in einer öffentlichen Veranstaltung dafür aus, dass Landrechte ein elementares Recht der Frauen sein sollten und beglückwünschte Vibha Parthsarthi, die Vertreterin der Mahila Sabhas, dass die Frauenbewegung zu einer öffentlichen Debatte in dieser Sachfrage geführt hatte. Auch betreffend die Vergabe von Kleinkrediten, die Einschulung der Kinder in die Elementarschule und Dienstleistungen in den Bereichen Gesundheitswesen, Landwirtschaft und Wasserirrigation konnten die Mahila Sabhas von Regierungsprogrammen punktuell eine entsprechende Unterstützung beanspruchen. Den Frauenorganisationen in den hundert Dörfern gelang es in den dreieinhalb Jahren von April 2001 bis September 2003 insgesamt Leistungen und Güter im Wert von über 270‘000 Franken von verschiedenen Regierungsstellen zu erhalten. Dies in einem von Behördenwillkür geprägten Umfeld, in welchem staatliche Unterstützung normalerweise vor allem den Einflussreichen und Begüterten zukommt.
Auch soziale Veränderungen resultierten aus dem erstarkten Selbstbewusstsein und der Solidarität der Frauen untereinander. Was früher als privates Problem galt, konnte oft durch eine kollektive Intervention zugunsten der Betroffenen gelöst werden. Dank dem Einfluss der Mahila Shabas reduzierte sich der Alkoholkonsum der Männer und die damit verbundene häusliche Gewalt, die Kinderheirat wurde zur Ausnahme und Konflikte konnten vermehrt gelöst oder Gerechtigkeit eingefordert werden.
Welches Ausmass soziale Unterdrückung annehmen kann, zeigt der Fall von Sajoni Kisku. Sie erlaubte sich, den Acker selber zu pflügen, weil ihr Mann abwesend war. Dies verleitete den Dorfvorsteher (Pradhan) und seine Gefolgsleute dazu, die Frau zu strafen, da bei den Santals den Frauen das Pflügen traditionellerweise nicht erlaubt ist. Sajoni Kisku wurde anstatt der Ochsen vor den Pflug gespannt und musste das Feld fertig pflügen. Sie wurde geschlagen, gezwungen, wie das Vieh Stroh zu essen, und an der brütenden Sonne an einen Pfahl gebunden. Neben dem Erleiden dieser unmenschlichen Tortur, welche auch zur Verletzung eines Auges führte, musste sie eine hohe Busse bezahlen. Die Badlao-Angestellte Bitiya Murmu besuchte darauf unter Drohungen der Peiniger die Familie von Sajoni Kisku. Als einige Tage später weitere Badlao-Angestellte mit einem Journalisten die betroffene Familie nochmals aufsuchten, liess der Dorfvorsteher die Besucher einsperren. Nur durch die alarmierte Polizei konnten sie wieder befreit werden. In der Folge brachten Badlao-Mitarbeiter und Repräsentantinnen der Mahila Shabas den Fall vor den Polizeichef, den Chief Minister des Bundesstaates Jharkhand und selbst vor den Präsidenten und den Premierminister von Indien. Ferner informierten sie die Nationale Kommission für Frauenangelegenheiten (Rashtriya Mahila Ayog). Dem Fall wurde in den Medien viel Platz eingeräumt. Die Täter wurden dabei öffentlich an den Pranger gestellt. Auch Menschenrechtsgruppen ergriffen die Gelegenheit, die Landrechtsfrage aus Genderperspektive aufzugreifen und sich für die Rechte der Frauen einzusetzen. Schliesslich wurde Bitiya Murmu für ihr mutiges Engagement von der Nationalen Kommission für Frauenangelegenheiten geehrt.
«The sun has not changed, the moon has not changed, but our women leaders have changed our lives» singen die Frauen in ihrer Versammlung. Dennoch ist der Weg aus der Unterdrückung noch weit. Die Befreiung der Schwächsten und Benachteiligsten aus den gegenwärtigen Zwängen und der Armut, getragen von der Selbsthilfestrategie der Mahila Sabhas, braucht auch ein positives politisches Umfeld und globale Strategien, welche die Interessen marginalisierter Bevölkerungsschichten aufnehmen und gezielt unterstützen. Eine Vernachlässigung dieser Pflichten bedeutet letztlich mehr Wasser auf die Mühlen von Extremisten, welche wie die Naxaliten Jharkhands den Schwachen und Benachteiligten suggerieren, dass eine gerechtere und menschlichere Zukunft nur durch Gewalt erreicht werden kann.
* Peter Eppler, Ethnologe, lebte und arbeitete über zehn Jahre auf dem indischen Subkontinent. Seit 1999 arbeitet er als Programmverantwortlicher des SRK in Bern. Kontakt: peter.eppler@redcross.ch