Von Yvonne Kambale Kavuo und Marianne Herrera
Der Test hat es bewiesen, HIV-positiv! Doch wer kann dieses Urteil aussprechen, wer es ertragen in Situationen, wo eine medizinische Behandlung aus finanziellen oder sonstigen Gründen unmöglich ist? Mit dieser Frage sieht sich auch die Communauté Evangélique au Kwango (CEK) in der DR Kongo und deren Gesundheitsdienst konfrontiert.
Die CEK ist Partnerkirche von mission 21. Sie ist eine der wenigen funktionierenden Institutionen im Kwango-Gebiet, dem Grenzgebiet zu Angola, das ungefähr der Grösse der Schweiz entspricht.
Die Aidsrate in der DR Kongo ist im afrikanischen Vergleich sehr hoch. Die Lebenserwartung liegt bei rund 40 Jahren. Kinder und Jugendliche machen den grösseren Teil der Bevölkerung aus. Zahlen und Statistiken sprechen eine deutliche Sprache. Doch wer und wo sind die VirusträgerInnen? Wo sehen wir sie? Wo hören wir sie? Noch gesunde VirusträgerInnen leben solange normal in der Gesellschaft, bis sie als Aidskranke identifiziert werden. Dann verschwinden viele in der Isolation, in Spitälern, in Zufluchts- und Selbsthilfehäusern für betroffene und ausgestossene Frauen, im verstecktesten Winkel des Hauses. Immer mehr Frauen und Mädchen werden zu Krankenpflegerinnen im eigenen Haus, können sich aber mit niemandem darüber austauschen. Kulturell verankerte Tabus, moralische Schuldzuweisungen und der drohende Ausschluss aus der Gesellschaft verunmöglichen es, der Realität ins Auge zu schauen, weil sie für die Betroffenen nicht zu ertragen wäre.
In dieser Situation versucht die CEK ihre Einflussmöglichkeiten und das Vertrauen in der Bevölkerung zu nutzen, um durch Aufklärungskampagnen und eine Bewusstseinsveränderung die Verbreitung des Virus zu bremsen und gleichzeitig Aidsbetroffene zu begleiten. Dabei ist es ihr wichtig, eine Verbindung herzustellen zwischen den Kenntnissen und der Übertragung ins Alltagsleben – wie die von Yvonne Kambale Kavuo erzählte Geschichte eindrücklich darlegt.
Yvonne Kambale Kavuo ist Beraterin im HIV/Aidsprogramm bei der Eglise du Christ au Congo (ECC). Kürzlich hatte ich bei einem Besuch in Kinshasa die Gelegenheit, Yvonne's persönliche Geschichte zu hören und sie aufzuschreiben. Eigentlich bat ich sie, mir einen Rat zu geben, wie ich eine Person finden könne, die mir aus ihrem persönlichen Leben mit der Krankheit Aids erzählen würde. Hier ihre Antwort:
«Du suchst etwas, was nur sehr schwer zu finden ist. Über Statistiken, Zahlen, medizinische Erkenntnisse und so weiter zu berichten ist sehr viel einfacher, als eine Person zu finden, die ihre persönlichen Erlebnisse mitteilen kann. Wenn Du möchtest, erzähle ich Dir meine Geschichte. Ich möchte aber, dass Du weisst, wie viel es mich noch immer kostet, darüber zu sprechen. Noch heute fühle ich mich so, als würde ich ein Stück meiner Seele hergeben und empfinde eine grosse Leere und Traurigkeit in mir, wenn ich über das berichte, was mein Leben und meine Arbeit so grundlegend verändert hat.
Es war vor rund zehn Jahren, als ich während meines Aufenthalts in Nairobi einen Telefonanruf erhielt. Ich war damals tätig in einem HIV-Aidsprogramm, wo ich täglich Menschen, die mit dem HIV-Virus infiziert waren, medizinisch beriet, um ihnen aufzuzeigen, wie auch ein Leben mit dem Virus bei entsprechender Gesundheitspflege durchaus während zehn Jahren geführt werden kann.
Am Telefon war meine Schwester aus Kinshasa. Sie sagte: «Yvonne, ich bin HIV-positiv...»
Da war ich wie gelähmt. Ich konnte während einer Minute kein Wort hervorbringen, bis mich meine Schwester fragte: «Bist Du noch da, hast Du gehört, was ich Dir gesagt habe?» - Ich beruhigte meine Schwester und sagte ihr: «das ist nicht so schlimm, Du kannst bestimmt noch zehn Jahre gesund weiter leben», und vieles mehr.
Ich versprach ihr, sie so bald als möglich zu besuchen.
Nachdem ich den Telefonhörer aufgelegt hatte, schloss ich mich in mein Zimmer ein und weinte bestimmt eine Nacht und einen Tag lang und fühlte mich während der folgenden Tage sehr elend. Jetzt, als es mich persönlich traf, empfand ich die Situation plötzlich völlig anders. Als ich meine Schwester nach knapp einem Monat in Kinshasa besuchte, erschrak ich sehr. Sie konnte nichts essen, ihr Gesundheitszustand war so schlecht, dass sie nur mit grosser Mühe ihre knapp zweijährige Tochter betreuen konnte. Niemand - ausser ihrem Ehemann und mir - wusste um ihre HIV-Infektion, sie konnte nicht darüber sprechen und hatte sich völlig zurückgezogen.
Nicht nur für meine Schwester war es unmöglich, in unserer Familie und im Freundeskreis darüber zu sprechen. Sogar ich selber konnte es diesmal nicht, obwohl ich in meinem Beruf täglich damit zu tun hatte. Das Tabu war eine undurchdringliche und unumgängliche Mauer. Deshalb entschloss ich mich trotz meiner beschränkten Möglichkeiten, sie - zusammen mit ihrer Tochter Sarah und ihrem Ehemann - in meiner Wohnung in Nairobi aufzunehmen. Während ich tagsüber zur Arbeit ging, konnte ihr Ehemann sein Studium am neuen Ort weiter führen, die kleine Sarah half meiner Schwester zu Hause über die Einsamkeit hinweg. Durch neue Kontakte zu Frauen, die ebenfalls Trägerinnen des HI-Virus waren, konnte sie sich aus ihrer Isolation befreien. Du hättest sehen sollen, wie sie aufblühte! Sie hat zugenommen, sie sah richtig gesund aus und war dicker als ich. Wir schöpften grosse Hoffnung und blickten zuversichtlich in die Zukunft...
Doch es sollte anders kommen. Nach knapp einem Jahr verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand rapide. Sie musste öfters für längere Zeit im Spital bleiben. Neben meinen täglichen Besuchen im Krankenhaus kümmerte ich mich um meine kleine Nichte und meinen Schwager, der unter der Situation psychisch sehr litt. Meine schlaflosen Nächte, die Spitalbesuche und die kleine Sarah nahmen mich zunehmend in Anspruch, so dass ich an meinem Arbeitsplatz oft unkonzentriert und mit meinen Gedanken abwesend war. Ich wurde selber krank und verlor meine Stelle.
Eines Abends, nachdem ich Sarah ins Bett gebracht hatte, sagte meine Schwester zu mir: «Yvonne, ich bin so glücklich und dankbar für die Zeit, die Du mir und uns geschenkt hast. Doch ich habe eine grosse Sorge und möchte Dich noch ein letztes Mal um etwas bitten. Wenn ich sterbe, möchte ich, dass Du Dich an meiner Stelle um Sarah kümmerst.» Ich versprach es ihr. Da bat sie mich, zu singen und zu beten und nicht damit aufzuhören...
Sie lag in meinen Armen, im Nebenzimmer redete Sarah im Schlaf «Mama, Mama» und weinte, als meine Schwester starb.
Nach der Beerdigung fiel ich in eine tiefe Depression. Niemand wusste von der Todesursache. Die kleine Sarah hatte Angst, auch mich zu verlieren und hing deshalb so sehr an mir, dass ich sie überall hin mit nehmen musste, was meinen Alltag und meine Arbeitsfähigkeit sehr einschränkte. Ich habe uns während zwei Jahren mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, bis ich als Koordinatorin und Beraterin in meinem jetzigen Arbeitsfeld – dem HIV-Aidsprogramm in Kinshasa - einsteigen konnte.
Erst vier Jahre nach dem Tod meiner Schwester war ich in der Lage, meine Geschichte jemandem zu erzählen. Es war ein Pfarrer aus Deutschland, auf dessen Verschwiegenheit ich mich verlassen konnte, dem ich meine Geschichte zum ersten Mal anvertraut hatte. Er weinte. Das Erzählen meiner Geschichte hat mich von einer schweren Last befreit. Meine Schwester habe ich verloren; geblieben ist mir meine gesunde, inzwischen zehnjährige Nichte Sarah und eine Erfahrung, die mein Leben und meine Arbeit verändert hat.
Heute komme ich bei meiner Arbeit mit verschiedensten Gruppen ins Gespräch. In Jugendgruppen und Seminaren werden Informationen über Prävention weiter gegeben und medizinische Fragen diskutiert. Wichtig ist mir aber, mit den Jugendlichen auch über soziale Fragen ins Gespräch zu kommen. Was heisst Sexualität für Männer, was für Frauen? Wie sind ihre Geschlechterrollen durch die Gesellschaft definiert? Das offene Gespräch über Treue und Moral, über Mythen, Zauberei, Bestrafung von Sünden etc. trägt bei zu einer Bewusstseinsbildung und Enttabuisierung des Themas Aids.
Wo sich Frauengruppen unter der Voraussetzung der absoluten Diskretion zum Thema Aids treffen, kommen mit erstaunlicher Offenheit ganz private und intime Gründe für ihre Ansteckung zur Sprache. Sie beschreiben gleichzeitig eine allgemeine Situation, die in der Familie und auch in der Öffentlichkeit nicht diskutiert werden kann. Oft lassen finanzielle und soziale Abhängigkeit, sexuelles Verhalten und Praktiken und sehr oft auch physische Gewalt einer Frau keine Wahl, selbst über sexuelle Kontakte zu entscheiden. Bei der Feststellung einer Ansteckung werden viele verstossen oder gemieden. Andere ernähren und pflegen infizierte Familienangehörige. Für all diese Frauen ist es ein grosses Bedürfnis, sich unter einander auszutauschen um aus ihrer Isolation heraus zu finden.
Es gibt eine grosse Kluft zwischen zwei Welten: der Theorie mit Statistiken und medizinischen Erkenntnissen einerseits und der persönlichen Betroffenheit andrerseits. Heute versuche ich in meiner Arbeit, diese beiden Welten zusammen zu bringen und den vermeintlich «Unbetroffenen» verständlich zu machen, dass es um eine im Alltag präsente Realität geht, die jede/n betreffen kann. In meiner Arbeit setze ich mich dafür ein, dass die Menschen befähigt werden, das Tabu zu brechen, damit sie sich der Realität stellen können, die unseren gesamten Kontinent zu verschlingen droht.»
*Das Gespräch mit Yvonne Kambale Kavuo hat Marianne Herrera, Mitarbeiterin in der Stabsstelle Frauen und Gender von mission 21, anlässlich ihres Besuches an der Frauenkonferenz der Afrikanischen Partnerkirchen von mission 21 geführt. Kontakt: marianne.herrera@mission-21.org.