Von Saskia van Wijnkoop
FAIRMED hat im Mai 2015 eine Benefizveranstaltung zugunsten von vernachlässigten Tropenkrankheiten in Kamerun durchgeführt. Im ersten Teil der Veranstaltung diskutierten FAIRMED-Geschäftsführer René Stäheli, Jürg Utzinger, Direktor des Swiss TPH und Alexander Schulze, Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit, ob und wie die vernachlässigten Tropenkrankheiten auszurotten wären.
«Dass die vernachlässigten Tropenkrankheiten in der Öffentlichkeit kaum wahrnehmbar sind, obwohl anderthalb Milliarden Menschen an einer oder mehreren dieser Krankheiten leiden, hat damit zu tun, dass vor allem arme Menschen in Entwicklungsländern an ihnen leiden – sie sind in den Medien unsichtbar», erklärte Jürg Utzinger, angehender Direktor des Schweizerischen Tropen- und Public Health Instituts. Alle drei Diskussionsteilnehmer waren sich einig: Obwohl der Begriff und die Problematik der Neglected Tropical Diseases NTDs im Verlaufe der letzten sieben Jahre und jüngst durch die Ebolakrise an Bekanntheit und öffentlicher Aufmerksamkeit gewonnen haben, besteht ein enormer Handlungsbedarf – sei es im Hinblick auf die Erforschung wirksamer Medikamente oder in der Entwicklung geeigneter Strategien, Massnahmen zur Kontrolle oder auf die Sensibilisierungsarbeit von NTDs.
«Beträfe eine dieser Krankheiten dagegen die erste Welt», gab FAIRMED-Geschäftsführer René Stäheli zu bedenken, «wäre sie sofort nicht mehr vernachlässigt.» Dabei dürfe die Wahrscheinlichkeit einer Ausbreitung von NTDs auf Europa oder die USA nicht unterschätzt werden, so Jürg Utzinger. Besonders beim Denguefieber bestehe heute diese Gefahr. «Als kleines Land mit sehr guter Kommunikation und Koordination ist die Schweiz eines jener Länder, die gut auf eine solche Situation vorbereitet sind», erklärte Alexander Schulze von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA. Übereinstimmend plädierten die Diskussionsteilnehmer dafür, dass das Engagement der Schweiz in der Kontrolle von NTDs und der Unterstützung betroffener Gemeinschaften in jedem Fall aufrechterhalten und vertieft werden müsse. «Die Vernachlässigung der von vernachlässigten Tropenkrankheiten betroffenen Menschen ist ein massiver Verstoss gegen die Menschenrechte», so René Stäheli.
«Im Unterschied zu Ebola oder HIV/AIDS sind die Neglected Tropical Diseases nicht immer tödliche Krankheiten und haben eine sehr lange Inkubationszeit», sagte Jürg Utzinger. Diese Eigenschaft mache die Herausforderungen im Kampf gegen die NTDs vielfältig, kristallisierte sich in der Diskussionsrunde heraus. Zudem seien die betroffenen Gemeinschaften schwer zugänglich und könnten sich kein Gehör verschaffen. Entsprechend gering ist das öffentliche Bewusstsein für diese Problematik. «Deshalb», fügte Alexander Schulze an, «braucht es viel Sensibilisierungsarbeit – sowohl im Westen als auch innerhalb betroffener Bevölkerungsgruppen, wo an NTDs erkrankte Menschen dazu bewegt werden müssten, sich frühzeitig behandeln zu lassen.»
Eine weitere Herausforderung – auch darin waren sich alle Diskussionsteilnehmer einig – liegt im Bereich der Erforschung und Entwicklung neuer, zusätzlicher Strategien und Mittel zur Kontrolle von NTDs. Die heute verfügbaren Ressourcen seien unverzichtbar und zeigten zum Beispiel bei Lepra grosse Fortschritte, erklärte Jürg Utzinger: «Es braucht aber mehr Innovation, um die Kontrolle von NTDs abschliessend vorantreiben zu können, sodass wir für die Zukunft gewappnet sind.» Die Forschungsstrukturen seien dabei zwar um vieles besser als noch vor 15 Jahren, als der Begriff der NTDs noch unbekannt war, jedoch keinesfalls ideal.
Der starke Fokus aktueller Ansätze auf die Krankheiten, die Pathogene selbst, müsse um die Seite der Patienten, der betroffenen Bevölkerung erweitert werden. «Die Frage nach lokalen Lebensumständen und möglichen Lösungswegen muss», so Alexander Schulze, «dem eigentlichen Forschungsprozess vorangehen.» Ähnliches gelte auch im Zusammenhang mit Entwicklungsprojekten, ergänzte René Stäheli: «Der lokale Kontext spielt eine zentrale Rolle bei der Entwicklung und Implementierung von Projekten. Manchmal sind anthropologische Abklärungen notwendig, um die Situation vor Ort richtig einzuschätzen.»
«Es gibt heute eine globale Bewegung im Kampf gegen vernachlässigte Tropenkrankheiten; viele Institutionen sind auf diesem Gebiet aktiv», sagte Jürg Utzinger. Wie Alexander Schulze zu bedenken gab, liegt das Problem jedoch in der mangelnden Koordination und Kommunikation: «Es gibt viel Energie- und Synergie-Verluste dadurch, dass wir nicht immer am gleichen Strang ziehen. Dies vor allem aus Unwissen darüber, wer woran arbeitet.» Auch die Finanzierung von Programmen zur Kontrolle der NTDs sei ein grosses Problem. Während die Bekämpfung von AIDS, Malaria und Tuberkulose gut durch den Global Fund finanziert sei, stünde man im Bereich der Vernachlässigten Tropenkrankheiten noch ganz am Anfang. Erschwerend hinzu trete die sich abzeichnende Tendenz einer Abnahme der globalen Finanzierung von Gesundheit im Allgemeinen.
Die erfolgreiche Bekämpfung von NTDs ist allerdings nicht nur eine technisch-finanzielle Frage, sondern stark vom politischen Willen abhängig, vorhandene Ressourcen effektiv einzusetzen und die relevanten Gesundheitsstrategien in die Praxis umzusetzen. «Das Ausschlaggebende ist der Wille, etwas zu tun. Das Geld und die Energien sind vorhanden, man muss sie nur richtig einsetzen», betonte René Stäheli. In diesem Zusammenhang erinnerte Alexander SchuIze daran, dass sich der politische Effort afrikanischer Regierungen als eines der wichtigsten Elemente im Kampf gegen HIV/AIDS erwiesen hat. Um ähnliche Fortschritte in der Bekämpfung von NTDs erzielen zu können, gelte es, den politischen Willen auch in diesem Bereich zu verbessern. «Die Chancen auf Fortschritte in diesem Kampf stehen gut», sagte Jürg Utzinger. «Zum einen ist es von grossem Vorteil, dass die Behandlungsschemata bei einigen NTDs wie etwa der Gruppe der Wurmkrankheiten im Vergleich zu jenen bei HIV/AIDS viel weniger komplex sind. Deren Implementierung – und sei es in noch so einfachen Settings – erfordert daher einen weitaus geringeren Aufwand.» Für die Zukunft seien zum anderen, wie Jürg Utzinger ohne falschen Optimismus hinzufügte, die sozio-ökonomischen Entwicklungen der letzten zehn bis zwanzig Jahre in Ländern Afrikas wie Asiens entscheidend. «Die Kombination von diesen Entwicklungen mit unserer Mithilfe in Form spezifischer und adaptiver Programme bildet eine grosse Chance, den Kampf gegen NTDs zu beschleunigen.»
«In Indien, das am stärksten von Lepra betroffene Land, verfolgte man die Strategie, jedes Jahr 100 000 Leprafälle weniger zu entdecken, um so die Eliminationsschwelle zu erreichen. Entsprechend sind die offiziellen Zahlen stetig gesunken, während es in Wahrheit noch Millionen unentdeckter Fälle gibt», erklärte René Stäheli. Deshalb seien die offiziellen Zahlen mit Vorsicht zu geniessen. «Auch wenn die weltweite Leprabürde in den letzten Jahren gesenkt werden konnte, schätze ich das Ziel der WHO, die Lepra bis ins Jahr 2020 zu eliminieren, als nicht realistisch ein», ergänzte Stäheli. Diese Tatsache dürfe jedoch nicht dazu führen, den Kampf gegen die Krankheit aufzugeben. Im Gegenteil, so betonten alle drei Diskussionsteilnehmer dezidiert, der Kampf gegen Lepra und die weiteren vernachlässigten Tropenkrankheiten müsse fortgeführt und vertieft werden, so dass das Ziel der Eliminierung, wenn auch nicht in naher Zukunft, so doch zu einem späteren Zeitpunkt erreicht werden könne.
«Mit der Erreichung der Eliminationsschwelle der NTDs ist es nicht getan: Sie stellen in diesem Fall zwar kein öffentliches Gesundheitsproblem mehr dar, womit ein grosser Schritt getan wäre – sie bleiben aber weiterhin ein Problem für die wenigen, die noch immer an diesen Krankheiten leiden», erklärte Alexander Schulze. Es sei deshalb sinnvoll, sich für die letzten NTD-Fälle einzusetzen und die Krankheiten somit gänzlich zu eliminieren. Jürg Utzinger ergänzte: «Dadurch lassen sich enorme finanzielle und soziale Folgekosten verhindern, die eine weitere Vernachlässigung dieser Krankheiten auf Dauer zwangsläufig mit sich bringt.» Die Frage nach Kosten und Aufwand führe in diesem Zusammenhang, so René Stäheli, lediglich zu einer pseudo-ökonomischen Diskussion, weil ökonomische Prinzipien nicht berücksichtigt würden: «Will man eine Krankheit eliminieren, werden die paar letzten verbleibenden Fälle im Verhältnis zu den vielen zuvor natürlich finanziell aufwändiger – aber wenn man die historische Chance hat, eine Krankheit auszurotten, muss man sie packen – egal, wieviel es kostet.»
Das entscheidende Argument für die Investition in die Eliminierung von NTDs – und darin waren sich die Diskutierenden mehr als einig – ergibt sich aus dem menschenrechtlichen Standpunkt heraus, dass all die Menschen, die in Zukunft nicht mehr von diesen Krankheiten befallen werden, wertvoll genug sind, um den Kampf zu Ende zu führen. Die effektive Bekämpfung der NTDs, so das Fazit der Paneldiskussion, muss daher zwingend auf einem menschenrechtlichen Ansatz basieren und erfordert sowohl eine stärkere Sensibilisierung der Öffentlichkeit und betroffener Gemeinschaften als auch Forschungsansätze und Formen der Entwicklungszusammenarbeit, die nebst medizinischen Aspekten besonders auch sozioökonomische Faktoren integrieren.