Von Martin Leschhorn Strebel
Das Netzwerk Medicus Mundi Schweiz setzt sich seit bald zwei Jahren mit dem Thema der Dekolonisierung auseinander. Je deutlicher dabei geworden ist, was im Rahmen der anstehenden Transformation der internationalen Zusammenarbeit angestrebt werden soll, umso mehr droht die notwendige Veränderung am Verlust der politischen Bedeutung ihrer Terminologie zu verwischen.
Als das Netzwerk Medicus Mundi Schweiz vor bald zwei Jahren verstärkt das Thema der Dekolonisierung der internationalen (Gesundheits-)zusammenarbeit in Angriff genommen hat, konnte es sich auf die bereits begonnene Arbeit einzelner Mitgliedsorganisationen sowie die recht umfangreiche Arbeit unseres internationalen Netzwerks Medicus Mundi International (MMI) stützen. Dieses hatte seit 2015 eine Debatte rund um den in der internationalen Zusammenarbeit nach wie vor wirkungsmächtige Begriff der «Hilfe» begonnen.
Die Kritik, dass Organisationen der internationalen Zusammenarbeit mit ihrem Hilfe-Paradigma bestehende Machtstrukturen sowohl zwischen Nord und Süd wie auch innerhalb ihrer Organisationen selbst zementierten und perpetuierten, wurde in der jüngsten Geschichte gleich zweimal bestätigt.
Das erste Mal 2017 als im Zuge der #MeToo-Bewegung, die aufgrund des Weinsteins-Skandals in Hollywood ihren Anfang genommen hatte, sexuelle Übergriffe in Organisationen der internationalen Zusammenarbeit bekannt geworden sind.
Das zweite Mal 2020, als ein US-Amerikaner durch Polizisten getötet wurde und damit die schon länger bestehende Black Lives Matter-Bewegung richtig Fahrt aufgenommen hatte. Struktureller Rassismus wurde nun breit diskutiert. Und auch aus verschiedenen, vermeintlich progressiven Organisationen traten Mitarbeiter:innen an die Öffentlichkeit, die aufzeigten, wie sie innerhalb ihrem Arbeitsumfeld Rassismus ausgesetzt sind.
Gerade letzteres Beispiel löste innerhalb des Sektors der internationalen Zusammenarbeit einen breiteren Reflexionsprozess über die eigene Herrschaftsgeschichte aus. Und richtigerweise wurden die eigenen kolonialen Wurzeln ursächlich dafür verantwortlich gemacht (vgl. Dekolonisierung: Die internationale Gesundheitszusammenarbeit und die globale Gesundheit werden von ihrer eigenen Geschichte eingeholt, MMS Bulletin #164). Die innerhalb von MMI geführten Diskussionen und Arbeitsgruppen rund um das Hilfe-Paradigma fand mit der Verknüpfung von Debatten zur Überwindung kolonialer Machtstrukturen des Sektors eine wichtige Vertiefung. Zum Ausdruck kam diese neue Dimension mit der Gründung der Kampala Initiative.
Die Kritik, dass Organisationen der internationalen Zusammenarbeit mit ihrem Hilfe-Paradigma bestehende Machtstrukturen sowohl zwischen Nord und Süd wie auch innerhalb ihrer Organisationen selbst zementierten und perpetuierten, wurde in der jüngsten Geschichte gleich zweimal bestätigt.
Die hier dargelegte Entwicklung der Dekolonisierung der internationalen Gesundheitszusammenarbeit ist wichtig, weil sie aufzeigt, dass der Dekolonisierungsbegriff natürlicherweise ein politischer Begriff ist. Die Bewusstwerdung und die Überwindung von kolonialen Strukturen in der Praxis der internationalen Zusammenarbeit lässt sich nur vor dem Hintergrund der europäischen imperialistischen Geschichte, deren Teil auch die Schweiz wirtschaftlich und kulturell gewesen ist, wie auch aus den sozialen und politischen Kämpfen von Menschen verstehen, die von dieser Geschichte bis heute geprägt sind.
Es geht hier um die notwendige Transformation des Sektors der internationalen Zusammenarbeit hin zu einer Praxis, welche die bestehenden Machtstrukturen zwischen den Organisationen im globalen Norden und ihren Partner:innen im globalen Süden überwindet. Dabei müssen auch organisationelle Strukturen überarbeitet, Zusammenarbeitsformen verändert und die Rollenverständnisse neu definiert werden. Am MMS-Symposium 2023 wurde dargelegt, welche Wege beschritten werden müssen und welche Herausforderungen sich dabei stellen.
Die Bewusstwerdung und die Überwindung von kolonialen Strukturen in der Praxis der internationalen Zusammenarbeit lässt sich nur vor dem Hintergrund der europäischen imperialistischen Geschichte, deren Teil auch die Schweiz wirtschaftlich und kulturell gewesen ist, wie auch aus den sozialen und politischen Kämpfen von Menschen verstehen, die von dieser Geschichte bis heute geprägt sind.
Damit die Dekolonisierung des eigenen Sektors gelingt, könnte es eigentlich gleichgültig sein, wie dieser Veränderungsprozess genannt wird: Dekolonisierung, Partnerschaften auf Augenhöhe, Power-Shift oder – ein sehr oft in der Schweiz verwendeter Begriff – Lokalisierung der internationalen Zusammenarbeit. In der von MMS initiierten Studie heisst es denn auch: „Nenn es, wie immer du auch möchtest“, Hauptsache der Sektor packt die Veränderungen an. (Swiss NGOs engaged in international health cooperation: How to respond to the call for decolonization?, p. 23).
Gleichwohl meine ich, sollten wir uns nicht leichtfertig vom historisch-politischen Gehalt der Dekolonisierungs-Terminologie abwenden. Sie erfasst am besten die Dringlichkeit und die Notwendigkeit eines tiefgreifenden Wandels. Nehmen wir etwa als Alternative den Begriff der Lokalisierung. Er meint, dass Programme und Projekte gut im lokalen Kontext verankert werden sollen. Er impliziert weniger die Notwendigkeit eines strukturellen Wandels auf der Seite der programmführenden Organisationen im globalen Norden. Dies wird besonders deutlich, wenn wir uns die Herkunft des Begriffes aus dem Marketing vergegenwärtigen. Dort meint Lokalisierung die Ausrichtung einer Marke auf die Zielgruppe in einem lokalen Kontext. Letztlich geht es darum, wie meine Coca-Cola-Büchse auch in Sambia seine Käufer:innen findet, oder wie mein Projektansatz im lokalen Kontext Wirkung entfalten kann. Das ist als Ansatz wichtig, geht aber viel weniger weit als die mit der Dekolonisierung gemeinten strukturellen Veränderungen in der institutionalisierten Praxis unserer Organisationen.
Nehmen wir etwa als Alternative den Begriff der Lokalisierung. Er meint, dass Programme und Projekte gut im lokalen Kontext verankert werden sollen. Er impliziert weniger die Notwendigkeit eines strukturellen Wandels auf der Seite der programmführenden Organisationen im globalen Norden.
Wie aufgezeigt, hat der Begriff der Dekolonisierung mit seiner historischen und politischen Grundierung einer Emanzipationsbewegung sehr wohl seine Berechtigung. Gleichzeit droht dem Begriff zurzeit auch seine Delegitimierung. Dies geschieht dann, wenn der Begriff inflationär in politischen Kämpfen eingesetzt wird, in welchen der Begriff falsch angewendet ist. Wer die pogromartigen Attacken der Hamas vom 7. Oktober 2023 in den Kontext der Dekolonisierungsbewegung setzt, legitimiert nicht nur eine abscheuliche Gewalttat, sondern setzt Israel mit einer Kolonialmacht gleich. Bei aller sehr berechtigten Kritik an Israels Politik und Herrschaftsausübung der letzten 25 Jahre und der Verhinderung eines politischen Prozesses zu einer Zweistaatenlösung, machen die falschen Zuschreibungen von ganz links, den kritischen Umgang mit der imperialen Geschichte Europas und seinen Folgen für die internationalen Zusammenarbeit schwierig. Das gleiche gilt auch, wenn selbst imperiale Mächte wie China und Russland, aus geostrategischen Gründen mit dem Dekolonisierungsappell im globalen Süden ihre Interessen verfolgen.
Für uns Promotor:innen der Dekolonisierung in der internationalen Zusammenarbeit bleibt damit nichts anderes übrig als konsistent und transparent, ehrlich und selbstkritisch die Arbeit zur Transformation des Sektors fortzuführen.
Wenn der Begriff der Dekolonisierung der Praxis der internationalen Zusammenarbeit missbraucht wird, droht mit seiner Delegitimierung auch der Transformationsprozess seine Grundlage zu verlieren. Dies könnte insbesondere auch den wichtigen entwicklungspolitischen Dialog mit staatlichen und privaten Geldgeber:innen schwieriger machen. Dabei ist die strukturelle Veränderung auf deren Seite unverzichtbar, um nachhaltig den ganzen Sektor neu aufzustellen.
Für uns Promotor:innen der Dekolonisierung in der internationalen Zusammenarbeit bleibt damit nichts anderes übrig als konsistent und transparent, ehrlich und selbstkritisch die Arbeit zur Transformation des Sektors fortzuführen. Hin zu einer internationalen Zusammenarbeit zwischen Akteur:innen im Süden wie im Norden, die sich als Alliierte darin verstehen, eine für die Nachkommenden gerechtere Welt mit gleichen Lebensperspektiven für alle zu hinterlassen.