Von Helena Zweifel
Sexuelle Gewalt ist die am meisten verbreitete Verletzung der Menschenrechte und bedroht das Leben von Frauen, Kindern und ganzen Familien und die ge-sellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung. Sexuelle Gewalt kurbelt in vielen Ländern Afrikas zudem die Ausbreitung des HI-Virus und der Aidsepidemie weiter an.
Ohne die Frage der Gewalt gegen Frauen anzugehen können sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte nicht verwirklicht und kann das Ziel, eine Zukunft ohne Aids, nicht erreicht werden. Daher hat aidsfocus.ch das Thema HIV und sexuelle Gewalt im Rahmen des Jahresthemas 2014 des Netzwerks MMS „sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte“ aufgenommen.
Sexuelle Gewalt und HIV sind eng miteinander verknüpft. Zahlreiche Studien und Erfahrungen belegen, dass Gewalt gegen Frauen und Mädchen sowohl Ursache als auch Konsequenz einer HIV-Infektion ist. Weltweit hat eine von drei Frauen physische und/oder sexuelle Gewalt durch ihren Partner oder durch einen Fremden erfahren. Studien aus Ruanda, Tansania und Südafrika zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, sich mit dem HI-Virus anzustecken, bei Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, bis zu dreimal höher ist als bei den Frauen, denen diese Erfahrung erspart blieb. Junge Frauen und Mädchen sind besonders gefährdet, in sub-Sahara Afrika sind ein Viertel aller neu mit HIV-Infizierten Mädchen und Frauen.
„Frauen in Südafrika haben bessere Chancen, vergewaltigt zu werden als lesen zu lernen.“
In vielen Ländern, in denen HIV weit verbreitet ist herrscht auch ein hohes Mass an Gewalt gegen Frauen. Sinikiwe Biyela illustrierte dies am Beispiel Südafrika, wo alle acht Minuten eine Frau und über 20000 Kinder jährlich vergewaltigt werden. „Frauen in Südafrika haben bessere Chancen, vergewaltigt zu werden als lesen zu lernen“, heisst der einprägsame Song einer südafrikanischen Kampagne. Jeder dritte Vergewaltiger ist HIV-positiv, was das Risiko einer HIV-Infektion drastisch erhöht.
Kaum öffentlich wahrgenommen wird die Tatsache, dass Frauen, die mit HIV leben, regelmässig diskriminiert und öfters geschlagen und missbraucht werden – als direkte Folge ihrer HIV-Diagnose. Die Fachfrau und Aktivistin zu Gender, Gewalt und HIV Alice Welbourn führte aus, wie HIV-positive Frauen vermehrt Gewalt erfahren, nicht nur durch (Ehe-)Partner, Familienmitglieder und die Gemeinschaft, sondern auch im institutionellen Rahmen wie Spital, Klinik oder Gefängnis (vgl. Overcoming sexual violence in the context of HIV).
Selbst obligatorische HIV-Tests können eine Form von Gewalt sein. Obwohl die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation WHO zu HIV-Tests festhalten, dass HIV Tests freiwillig und vertraulich sein müssen, ist dies nicht immer der Fall, wenn Frauen im Rahmen der Schwangerschaftskontrolle routinemässig getestet werden. Verschiedene Berichte belegen, dass Gesundheitsfachleute den HIV-Test für schwangere Frauen zur Voraussetzung für die medizinische Versorgung während Schwangerschaft und Geburt machen. So sind es oft die Frauen, die die schlechte Nachricht zu ihrem Status dem Partner und der Familie überbringen müssen und angeklagt werden, „HIV in die Familie zu bringen“, was erneut Schläge und Gewalt hervorrufen kann. Studien in Tansania zeigen, dass Frauen, die mit HIV leben, zehnmal eher häusliche Gewalt erfahren als andere.
Alice Welbourn
Ein eindrückliches Beispiel von Gewalt an HIV-positiven Frauen stammt aus einem Dorf in Malawi, wo die Männer im Rahmen des Stepping Stones-Programms davon erzählten, ihre Frauen zu schlagen. Der Dorfvorsteher erzählte: "Ich habe meine Frau oft misshandelt, wenn sie ins Spital ging um ihre Aidsmedizin zu holen. Sie kam dann spät nachts nach Hause und ich mochte dies nicht.“ Mit diesem Beispiel forderte Alice auf, genauer hinzusehen und aufmerksam zu beobachten, welche Folgen Neuerungen auf die Situation von HIV-positiven Frauen haben können, wie z.B. die WHO-Richtlinie, dass alle HIV-positiven Mütter lebenslänglich behandelt werden sollen (Option B+).
Trotz der offensichtlichen gegenseitigen Beeinflussung von HIV und sexueller Gewalt wird die Verknüpfung selten öffentlich diskutiert und angegangen. Viele Organisationen, die sich für die Bekämpfung von Aids engagieren, setzen sich für den Zugang aller zu umfassender HIV-Prävention, Behandlung und Pflege ein und „übersehen“ das Thema sexuelle Gewalt. Umgekehrt lassen viele Organisationen und Institutionen, die sich gegen häusliche Gewalt oder sexuelle Gewalt als Kriegswaffe einsetzen, das Thema HIV aussen vor.
Sowohl HIV und sexuelle Gewalt wird tabuisiert, auf individueller, gesellschaftlicher und politischer Ebene. Mädchen und Frauen, Jungs und Männer, die sexuelle Gewalt erfahren mussten, werden oft mit dieser traumatischen Erfahrung allein gelassen. Hinzu kommt Scham und Totschweigen und letztlich das Gefühl, ich bin doch selber schuld. Kompetente und einfühlsame Dienstleistungsangebote fehlen weitgehend, aber auch die medizinische Versorgung, die psychologische und rechtliche Beratung und Unterstützung.
Ein inspirierendes Beispiel zur Verknüpfung von sexueller Gewalt mit HIV stammt aus Südafrika, von LifeLine, einer Partnerorganisation von terre des homme schweiz. Die Direktorin Sinikiwe Biyela setzt sich unermüdlich gegen sexuelle Gewalt ein und dafür, dass „Opfer“ sexueller Gewalt zu „Überlebenden“ werden. Dabei arbeitet LifeLine eng mit den betroffenen Frauen, Mädchen und Jungs zusammen aus der Überzeugung heraus, dass die Betroffenen Unterstützung brauchen, um ihr Leben zurückzugewinnen. „Eine traumatische Erfahrung wie Vergewaltigung ist wie eine infizierte Wunde, die nicht verheilt, es sei denn, sie werde behandelt“, erklärte Sinikiwe.
LifeLine hat 11 Krisenzentren in Spitälern aufgebaut, Anlaufstellen und One-Stop-Dienstleistungen für Betroffene, wo diese neben Beratung und emotionaler Unterstützung medizinischen Ersthilfe erhalten: HIV-Test, HIV-Postexpositionsprophylaxe (HIV-PEP), Pille danach zur Schwangerschaftsverhütung und Sammlung von Beweisen für DNA-Zwecke. Eine besondere und geschätzte Dienstleistung ist das Nothilfe-Paket mit Kleidung, Unterwäsche, Zahnbürste, Seife etc. Oft kommen die verzweifelten Vergewaltigungsopfer blutend, mit zerrissenen Kleidern oder gar nackt in Krisenzentrum. Eine Dusche und frische Kleider kann ihnen ein bisschen Würde zurückgeben.
LifeLine versteht sexuelle Gewalt nicht als individuelles Schicksal, sondern als Angelegenheit der ganzen Gemeinschaft. Daher organisiert die Organisation in den Gemeinden Sensibilisierungs- und Dialogveranstaltungen zu den Ursachen geschlechtsspezifischer Gewalt und möglicher Lösungen und bildet Jugendliche aus. Mit einigem Erfolg: Jugendliche organisierten Kampagnen gegen Gewalt an Frauen und Dorfbewohner unterstützen die Überlebenden sexueller Gewalt in vielfacher Hinsicht, auch in langwierigen rechtlichen Prozessen. Die betroffenen Frauen gewinnen wieder Lebensmut. Das Schönste daran ist, so Sinikiwe, dass die Lösungsvorschläge und Aktionen aus den betroffenen Gemeinschaften selbst kommen.
In vielen Ländern wird Vergewaltigung regelmässig als Kriegswaffe eingesetzt, vor allem gegen Frauen und Mädchen, aber auch gegen Männer und Jungs. Fast alle bewaffneten Gruppen vergewaltigen, militärische wie zivile Gruppen, die oft Träger des HI-Virus sind. Die Situation ist besonders drastisch in Ländern wie Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo, wo viele Frauen und Mädchen durch die Vergewaltigung mit HIV infiziert und schwanger werden und dann das Virus auf ihr Baby übertragen.
Ein anregendes Beispiel zum Umgang mit sexueller Gewalt in einem Krisengebiet stellte Marie Gilbrin vor, stellvertretende Leiterin der Sektion südliches und östliches Afrika der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA). Das Programm der DEZA in der Region der Grossen Seen in Afrika, „femmes et enfants victimes de violences“, bietet Tausenden von vergewaltigten Frauen und Mädchen aus der kriegsgeschüttelten Region medizinische Ersthilfe einschliesslich HIV-Tests und HIV-PEP, psychosoziale Begleitung, wirtschaftliche Unterstützung für die Rehabilitation und rechtliche Hilfe. HIV wird wie sexuell übertragbare Infektionen, unerwünschte Schwangerschaften, Verletzungen etc. als eine von mehreren Gesundheitsproblemen gesehen (vgl. A comprehensive Approach to address Sexual and Gender based Violence in a post-conflict Context).
Für Marie Gilbrin ist es wichtig, dass das Programm auf Gewalt gegen Frauen fokussiert und einen gemeinschaftsorientierten Ansatz verwendet, der über die individuelle Unterstützung hinausgeht. Überzeugt von der Relevanz psychosozialer Ansätze im Kontext sexueller Gewalt unterstützt die DEZA Interventionen zur Verankerung dieses Ansatzes in der nationalen, regionalen und globalen Politik. Gleichzeitig sollen die Ursachen angegangen werden wie sozialen Ungleichheiten, insbesondere Gender-Ungleichheiten. Mainstreaming von Gender und Menschenrechten ist ein wichtiges Instrument, in allen Interventionen der Entwicklungszusammenarbeit.
Ein so umfassendes Angebot für Überlebende sexueller Gewalt wie LifeLine es bietet und welches im Kontext von sexueller Gewalt und HIV lebensnotwendig wäre, ist in Afrika die Ausnahme. In der Schweiz hingegen haben sich solche Dienstleistungen etabliert. In Bern erhalten betroffene Frauen und Mädchen ab 14 Jahren im Rahmen des „Berner Modells“ rund um die Uhr Hilfe und medizinische Betreuung durch eine Ärztin der Frauenklinik. Im „Berner Modell“ arbeiten die Frauenklinik, das Institut für Rechtsmedizin, die Universitätsklinik für Infektiologie des Inselspitals, die Kantonspolizei Bern und die Opferhilfe eng zusammen, um dem Opfer sexueller Gewalt einfühlsam und kompetent beizustehen.
Hansjakob Furrer
Hansjakob Furrer, Professor für Infektiologie am Inselspital Bern, erläuterte die medizinischen Aspekte der Betreuung nach sexueller Gewalt. Zur medizinischen Erstuntersuchung gehören Abklärungen zu möglichen Infektionen mit dem Hepatitis B-Virus oder einer sexuell übertragbaren Krankheit wie HIV, Gonorrhea, Syphilis oder Chlamydia. Zur Dienstleitung gehört die „Pille danach“ um eine ungewollte Schwangerschaft zu verhüten, und weniger bekannt, eine andere Art von „Pille danach“, die HIV-Postexpositionsprophylaxe, kurz HIV-PEP. Diese kurzfristige antiretrovirale Therapie reduziert die Wahrscheinlichkeit einer HIV-Infektion nach einer Exposition. Wenn bei einem ungeschützten Kontakt das Virus den Weg in den Körper gelangt, vermehrt es sich explosionsartig und greift bestimmte Zellen des Immunsystems an, die T-Helferzellen (CD4-T-Lymphozyten). Diese Zellen spielen eine wichtige Rolle bei der Abwehr von Krankheitserregern.
Die erste Dosis soll daher so schnell wie möglich, spätestens aber innerhalb von 48 bis 72 Stunden nach der Exposition angeboten werden. Obgleich das Risiko einer HIV-Infektion durch eine Vergewaltigung ist in der Schweiz mit 0,1% gering ist, gerade im Vergleich zum südlichen Afrika mit einer weitaus höheren HIV-Prävalenz, wird allen vergewaltigten Frauen die HIV-PEP angeboten, gleichgültig der Kosten.
In der Schweiz besteht vor allem in der langfristigen psychosozialen Unterstützung HIV-positiver Überlebender sexueller Gewalt Handlungsbedarf. Die kantonalen Aids-Hilfen werden zunehmend mit Klientinnen aus Afrika konfrontiert, die neben einer HIV-Diagnose in der Heimat oder auf der Flucht sexuell misshandelt wurden. Sowohl HIV wie sexuelle Gewalt sind in den Migrationsgemeinschaften stark tabuisiert, beides kann traumatisierend wirken und erschwert die bereits heikle und unsichere Situation von Asylsuchenden und Sans Papiers.
Aline Schulthess, Sozialarbeiterin bei Aids-Hilfe Bern, berichtete am Bespiel einer 32 jährigen Frau aus der Elfenbeinküste von den Herausforderungen und vom Beratungsangebot der Aids-Hilfe Bern (HIV positive and sexually traumatized migrants in Switzerland). Nachdem L.B. 2006 Opfer einer Massenvergewaltigung geworden und infiziert worden war, wurde sie auf ihrer Flucht 2012 via Libyen und Italien in die Schweiz nochmals sexuell missbraucht. „Am Anfang hatte ich alle zwei Wochen Beratungsgespräche mit F.G., um das Vertrauen aufzubauen und sie darin zu unterstützen, ihren Alltag in Bern zu organisieren“, erzählte Aline. Dazu gehörte die Klärung ihrer rechtlichen Aufenthaltssituation, Information über das Asylverfahren, Rechte und Pflichten und die Schweizer Gesellschaft im Allgemeinen sowie die Begleitung durch die Institutionen. Lange und intensive Gespräche unterstützten die Klientin darin, ihren HIV-Status zu akzeptieren, neue Perspektiven für die Zukunft aufzubauen und sich auf eine Traumatherapie einzulassen. Vergewaltigung ist, wie Sinikiwe sagte, eine Wunde, die eitert, und behandelt werden muss.
Was können in der internationalen Zusammenarbeit tätige Schweizer Organisationen tun, um die sexuelle Gewalt zu bremsen, sexuelle und reproduktive Rechte zu stärken und die Ansteckung mit HIV zu verhindern? Monika Christofori-Khadka, Health Advisor beim Schweizerischen Roten Kreuz (SRK), ist überzeugt, dass es zur Bekämpfung von sexueller Gewalt und HIV neben einem Problembewusstsein auch die institutionelle Verankerung auf strategischer und politischer Ebene sowie Werkzeuge und Know-how zur Umsetzung braucht. Sie überprüfte in den Dokumenten des Internationalen Zusammenarbeit des SRK, ob und wie das Thema aufgegriffen wird. Das Screening von Projekten der Nothilfe, Rehabilitation und Entwicklungszusammenarbeit zu sexueller Gewalt und HIV ergab eine überraschende Vielfalt von Werkzeugen und Richtlinien. Schwerpunkt des SRK ist die Prävention sexueller Gewalt, z.B. durch Massnahmen für geschützte Standorte, Sicherheit und Licht für Frauen in Vertriebenenlagern oder Programme für Jugendliche zu sexueller und reproduktiver Gesundheit und Trainings für Lebenskompetenzen zur Verhinderung sexueller Gewalt und Teenager-Schwangerschaften. (Are we on track?) Die Relevanz von Gesundheitsdienstleistungen wie sie die LifeLine-Krisenzentren oder das Berner Modell bieten, wird jedoch zu wenig wahrgenommen.
„Einerseits ist es notwendig, Mitarbeitende für diese Dienstleistungen, einschliesslich psychosozialer Unterstützung und Beratung auszubilden“, resümiert Christofori-Khadka, „andererseits müssen SRK-Projekte Allianzen mit erfahrenen Organisationen bilden, an die sie betroffene Frauen und Kinder für die professionelle Behandlung, Beratung und Betreuung verweisen können“. Die Erfahrungen im SRK sind breit, doch buchstückhaft, und Christofori-Khadka plädiert für vermehrten Erfahrungsaustausch und Best Practice Studien, um die Problematik von sexueller Gewalt und Aids vertiefter anzugehen.
Veränderungen sind möglich und notwendig, weg von sexueller Gewalt und HIV, hin zu grösseren Achtung der Menschenrechte und einem Leben in Gesundheit und Würde für Frauen und Mädchen, Männer und Jungs. Handlungsmöglichkeiten gibt es viele, auf politischer, strategischer, institutioneller und praktischer Ebene.
Die TeilnehmerInnen an der Fachtagung beschlossen, das Thema in ihrer Organisation zusammen mit den Partnerorganisationen im Süden oder Osten weiterzuverfolgen. Sehr umsetzungsorientiert soll jede Organisation Leitlinien formulieren, wie sie und ihre Partnerorganisationen mit sexueller Gewalt umgehen können, wenn eine Mitarbeiterin ihrer Organisation oder im Projektgebiet vergewaltigt worden ist. (siehe Guidelines)
Nicht nur in Notsituationen, sondern im ganzen Projektzyklus und in den Politiken und Strategien der Organisation soll sexuelle Gewalt und HIV als Thema verankert sein. Sexuelle Gewalt und deren gesundheitlichen Konsequenzen müssen durch die Bekämpfung von HIV und den Ursachen, durch die Förderung von Gender-Gerechtigkeit und Menschenrechten und dem Mainstreaming von HIV in allen Entwicklungsinterventionen angegangen werden. Nur so kann Bewusstsein zur Relevanz der Problematik geschaffen und die Bereitschaft geweckt werden, das Tabu zu brechen.