Paxion: Psychosoziale Beratung von Geflüchteten für Geflüchtete

Warum wir einen Verein wie Paxion benötigen

Von Esther B. Oester

In der Schweiz leiden 50 bis 60 Prozent der Asylsuchenden und Geflüchteten unter Traumafol-gestörungen. Das schlägt sich auch auf ihre soziale und berufliche Eingliederung nieder. Eine psychologische oder therapeutische Begleitung zu erhalten, ist allerdings oft kompliziert, nicht zuletzt, weil nur eine begrenzte Zahl von Therapieplätzen zur Verfügung steht und die Krankenversicherung die Kosten für die Übersetzung nicht übernimmt. Vor diesem Hintergrund be-schloss eine Gruppe aus Geflüchteten und Fachleuten der psychischen Gesundheit, den Verein Paxion zu gründen. Dieser möchte ein Modell umsetzen, das sich bereits in Deutschland bewährt hat: Menschen mit Migrationshintergrund werden in einer zwölfmonatigen Schulung zu psychosozialen Beraterinnen und Beratern ausgebildet, damit sie Geflüchtete in deren Muttersprache begleiten können.

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Warum wir einen Verein wie Paxion benötigen

Inge Missmahl, Begründerin des Value based Approach zur niederschwelligen psychosozialen Beratung von Geflüchteten in deren Muttersprache. Foto: © Mortaza Shahed

 

Häufige Traumafolgestörungen bei Asylsuchenden

Ein Expertenbericht des Bundesamt für Gesundheit (BAG) zur psychischen Gesundheit von Asylsuchenden zeigt, dass in der Schweiz 50 bis 60 Prozent der Asylsuchenden an Traumafolgestörungen leiden. (Müller, Franziska; et.al., 2018)

Es gibt unterschiedliche Ursachen für Traumafolgestörungen bei Asylsuchenden. Sie haben im Herkunftsland und / oder während der Flucht lebensbedrohliche Situationen, Verfolgung oder extreme Gewalt wie Krieg, Folter, sexuelle Gewalt oder Entführung erfahren. Dazu kommen postmigratorische Stressbelastungen wie Arbeitslosigkeit, Verunsicherung bezüglich des Aufenthaltsrechts, Angst vor Rückführung und soziale Ausgrenzung.

 

Präsidentin Sara Michalik zum Versorgungsnotstand in der psychischen Gesundheit. Foto: © Mortaza Shahed

 

Unterversorgung in der psychischen Gesundheit

Bereits 2013 fehlten 500 Trauma-Therapieplätze und 2016 kam eine Studie des Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) zum Ergebnis (Stocker, D., et.al., 2016), dass bei psychischen Krankheiten insgesamt eine Behandlungslücke besteht.

Der Expertenbericht des BAG von 2018 führt folgende Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung auf:

  • Fehlende Früherkennung und Diagnose von Traumafolgestörungen
  • Unzureichende Anzahl spezialisierter Angebote
  • lange Wartefristen von bis zu 1,5 Jahren bis zu einer Beratung
  • Fehlende niederschwellige psychosoziale Angebote

 
Die Auswirkungen auf Seiten der Betroffenen sind:

  • Eingeschränkte Kommunikationsmöglichkeiten
  • Angst vor Stigmatisierung und Vorurteilen
  • Mangelnde Vertrautheit mit Diagnose- und Behandlungsmethoden
  • Fehlendes Vertrauen und Unsicherheit


Die Folgen dieser psychischen Störungen haben grossen Einfluss auf die Fähigkeiten und Möglichkeiten der sozialen und beruflichen Integration der Geflüchteten. Es drängen sich Massnahmen auf, um die Versorgung zu verbessern und damit einer Chronifizierung vorzubeugen.

 

Neues niederschwelliges Beratungsangebot der psychiatrischen Primärversorgung

In der Schweiz ist die spezialisierte Versorgung für Kriegs- und Folterüberlebende vergleichsweise gut ausgebaut, auch wenn sie nicht alle Bedürfnisse abdecken kann. 1995 wurde das erste Therapiezentrum für Folteropfer in der Schweiz gegründet. In den Folgejahren wurden vier weitere Therapiestellen eröffnet, die sich zum Verbund «Support for Torture Victims» zusammengeschlossen haben: SRK Bern, HUG Genf, Appartenances Lausanne, Gravita St. Gallen, Universitätsspital Zürich. Dazu kommen Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen, die sich auf die Traumatherapie von Geflüchteten spezialisiert haben. In allen Fällen wird mit Dolmetscher*innen gearbeitet. Die Dolmetscherkosten für Therapien werden von den Krankenkassen nicht anerkannt, was sehr unterschiedlichen Realitäten zwischen den Kantonen ergibt: Während z.B. im Kanton Waadt die Dolmetscherkosten automatisch durch den Kanton bezahlt werden, setzen sich Psychotherapeut*innen in einzelnen Kantonen der Deutschschweiz für spendenfinanzierte Lösungen ein. (Joël Frei, 2014)

In der Schweiz gibt es bisher kein anerkanntes, niederschwelliges Beratungsangebot der psychiatrischen Primärversorgung in den Muttersprachen der Geflüchteten. Ebenso gibt es bisher keine entsprechende spezialisierte Aus- oder Weiterbildung für Geflüchtete, die solche Beratungsangebote durchführen könnten. Das will Paxion ändern.

Der Verein Paxion wird getragen von Fachleuten der psychischen Gesundheit und von Geflüchteten. Foto: © Mortaza Shahed

 

Das Programm von Paxion

Der Verein Paxion bezweckt, dass Menschen mit Flucht-, Migrations- und Gewalterfahrungen Selbstwirksamkeit erlangen können und fördert ihre Selbstbestimmung und Partizipation. Paxion ist eine nach Kriterien der Inklusion gestaltete Organisation und wird durch gut vernetzte Geflüchtete und durch Fachpersonen aus den Bereichen psychische Gesundheit, Sozialarbeit und Asylwesen getragen. Der Verein stützt sich bei seinem Angebot auf ein bewährtes Programm aus Deutschland ab und baut zwei eigene Projekte auf.

Value based Counselling –erprobtes psychosoziales Counselling

Ipso (Internationale psychosoziale Support-Organisation) hat 2004 in Afghanistan eine Methode von psychosozialem Counselling entwickelt und mit dem dortigen Gesundheitsministerium umgesetzt. Der Ansatz war erfolgreich und wurde daher in weiteren Ländern eingesetzt; seit 2016 wird er auch in adaptierter Form für die Flüchtlinge in Deutschland angewendet. Ein Ausbildungsprogramm wurde eingeführt, das sich an Geflüchtete mit einer Vorbildung im Gesundheitswesen, Medizin, Psychologie oder Sozialarbeit richtet. Bis heute wurden in Deutschland rund 120 psychosoziale Berater*innen aus 17 Nationen durch Ipso ausgebildet und angestellt. Zusätzlich zur direkten Beratung wurde von Ipso auch eine online Beratung entwickelt. Damit kann auch Betroffenen ausserhalb von Deutschland z.B. in türkischen Flüchtlingslagern geholfen werden. Ipso veröffentlicht regelmässig Publikationen und die Arbeit wird systematisch durch Forschungsprojekte begleitet (Uni Konstanz und Charité Berlin). (Sarah Ayoughi, Inge Missmahl et al, 2012)

ComPaxion, psychosoziale Beratung in der Muttersprache der Geflüchteten

Um die dramatische Behandlungslücke zu verkleinern, welche bei der Begleitung Geflüchteter besteht, soll mit dem Projekt ComPaxion die niederschwellige psychosoziale Beratung für Geflüchtete in deren Muttersprache eingeführt werden. In Zusammenarbeit mit Ipso wird deren erprobtes Programm multipliziert

Das Projekt ComPaxion richtet sich mit der Beratung in der Muttersprache an Geflüchtete und weitere Personen mit Migrationshintergrund, die unter Belastungsreaktionen leiden wie Ängsten, Schlafstörungen, psychosomatischen Reaktionen, Depressionssymptomen usw. Damit können sie ihre Ressourcen mobilisieren, sich besser auf Bildung und Arbeit konzentrieren und unabhängiger werden.

Als Berater*innen werden Personen mit Migrationshintergrund während eines Jahres weitergebildet: Drei Monate Intensivtraining mit Selbsterfahrung und neun Monate begleitete praktische Beratungstätigkeit mit Blockseminaren. Es ist vorgesehen, ab Januar 2020 den ersten Jahrgang von etwa 20 Beraterinnen und Beratern in der Schweiz auszubilden. Ab 2021 sollen diese in mindestens einer Beratungsstelle in Bern und bei Partnerorganisationen tätig sein und der zweite Jahrgang ausgebildet werden.

Das Projekt ComPaxion setzt sich durch die Förderung von Beratungsstellen für die Arbeitsintegration ein und stellt mit einem Netzwerk von Psychotherapeut*innen und Psychiater*innen die fachliche Supervision für die Berater*innen sicher.


Lancierung Verein Paxion im Mai 2019 in Bern www.paxion.ch Foto: © Mortaza Shahed

 

PartiziPaxion, soziale Kontakte und Vertrauen

In einem weiteren Projekt unterstützt Paxion die soziale und politische Partizipation von Geflüchteten. Für Betroffene von Traumafolgestörungen sind soziale Kontakte wichtig, damit sie Selbstwirksamkeit erfahren können.  

Eine besondere Herausforderung bei Angeboten der psychischen Gesundheit ist, dass die Klient*innen die Angebote in Anspruch nehmen, da ihnen Diagnose und Therapiekonzepte wenig bekannt sind und psychische Gesundheit stigmatisiert wird. Das Projekt PartiziPaxion soll dem entgegenwirken.

Die Gruppenprojekte involvieren grundsätzlich Interessierte, die sonst als Freiwillige in Integrationsprojekten wie z.B. Nachbarschaftsprojekten mitarbeiten und sich für eine verstärkte Teilhabe von Geflüchteten einsetzen möchten. Durch die Förderung von selbstorganisierten Aktivitäten entsteht mehr Solidarität und Verständnis für die Lebensrealität von Geflüchteten.

Schrittweise Umsetzung

Die beiden Projekte werden anfänglich in Pilotkantonen der Deutschschweiz eingeführt, im zweiten Jahr auch auf die Romandie und mit der Zeit national ausgeweitet. Für das gesamte Programm sollen breit abgestützte Partnerschaften mit staatlichen und privaten Akteur*innen etabliert werden wie dem SEM, BAG, Kantonen, Vereinen, Kirchgemeinden, Fachschulen, Asylorganisationen, Beratungsstellen usw.


Referencen

 

Esther B. Oester
Esther Oester, Oekonomin, langjährige Führungs- und Managementerfahrung in der Entwicklungszusammenarbeit, Public Health und Friedensförderung in Ländern in Afrika, Lateinamerika, Asien und in der Schweiz. Gründerin von Paxion.