Von Sylvia Valentin
Jugendliche im südlichen Afrika und Jugendliche mit Fluchthintergrund in der Schweiz haben vieles gemeinsam. Projekterfahrungen mit dem lösungsorientierten Ansatz im Süden brachte terre des hommes schweiz auf die Idee, auch in der Schweiz mit dieser Methode zu arbeiten. Damit reagieren wir auf das Bedürfnis nach mehr psychosozialen Unterstützungsangeboten im Flüchtlingsbereich. Während eines viertätigen Pilotworkshops konnten Jugendliche in der Schweiz entdecken, wieviel Mut, welche Durchsetzungskraft und Fähigkeiten sie haben. Wir konnten wiederum von ihnen lernen, mit welchen Herausforderungen sie konfrontiert sind.
Seit 2008 führt terre des hommes schweiz Kurse zum lösungsorientierten Ansatz mit Jugendlichen im südlichen Afrika und später auch in Lateinamerika durch. Der Ansatz setzt die Stärken der Menschen ins Zentrum der Aufmerksamkeit und nicht ihre Probleme und Defizite. Es geht darum herauszufinden, welches die individuellen Fähigkeiten und Ressourcen der Menschen sind, zu fragen, worin jemand gut ist und darauf aufzubauen. Ein wichtiger Grundsatz der lösungsorientierten Arbeit ist, dass jeder Mensch der Experte oder die Expertin für sein oder ihr eigenes Leben ist. Ziel der Projektarbeit im Süden ist die Resilienz ausgegrenzter Jugendlicher zu erhöhen, ihre Kompetenzen zu entdecken, sie zu befähigen, aktiv zu werden und sie darin zu unterstützen, Bewältigungsstrategien zu entwickeln.
Die Jugendlichen, mit denen wir und unsere Partnerorganisationen im südlichen Afrika mit dem lösungsorientierten Ansatz arbeiten, gehören zu den vulnerabelsten in den Regionen, in denen die Projekte angesiedelt sind. Viele von ihnen haben ihre Eltern früh verloren, das Leben der meisten ist von Armut und Hunger geprägt. Einige haben häusliche Gewalt erlebt oder wurden frühverheiratet. Allesamt haben sie traumatische Erlebnisse hinter sich.
Diese Situation der Jugendlichen sowie die positive Evaluation der lösungsorientierten Arbeit mit Jugendlichen im Süden 2017 brachte terre des hommes schweiz auf die Idee, mit derselben Methode in der Schweiz mit Jugendlichen mit Fluchthintergrund zu arbeiten. Die Jugendlichen, vor allem solche ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, leben alle unter schwierigen sozioökonomischen Bedingungen in der Schweiz. Man kann davon ausgehen, dass sie alle, sowohl im Herkunftsland als auch unterwegs traumatischen Erfahrungen ausgesetzt waren.
Laut einer Studie des Bundesamtes für Gesundheit von 2018 leiden in der Schweiz zwischen 50- 60 Prozent der Asylsuchenden unter Traumafolgestörungen. Das Staatssekretariat für Migration stellte 2013 fest, dass 500 Therapieplätze in diesem Bereich fehlen. Gleichzeitig sind sich zahlreiche Experten und Expertinnen darin einig, dass ein psychotherapeutischer Ansatz in diesen Fällen oftmals aus verschiedenen Gründen der falsche ist. Häufig geht es bei diesen Menschen nicht primär um psychische Erkrankungen, sondern zumindest auch um psychosoziale Themen wie Isolation, Orientierungslosigkeit, konkrete organisatorische Herausforderungen in einem neuen Land, Konfrontation mit Vorurteilen, Ausgrenzung oder Frustration aufgrund Limitierungen auf dem Arbeitsmarkt. In vielen Kulturen, aus denen die Geflüchteten stammen, ist mit einer psychotherapeutischen Behandlung zudem Stigmatisierung verbunden, die Personen werden als «krank» abgestempelt. Ein weiterer, realpolitischer Aspekt ist, dass psychotherapeutische Behandlungen in diesem Ausmass teuer wären. Experten und Expertinnen sind sich aber auch darüber einig, dass sich unbehandelte psychische Probleme von Migranten und Migrantinnen negativ auf ihre soziale und berufliche Integration auswirken und dadurch langfristige Kosten entstehen. Es braucht deshalb mehr niederschwellige Angebote im psychosozialen Bereich.
Ausgehend von den Erfahrungen aus dem Süden sowie den Herausforderungen und Bedürfnissen im Migrationsbereich in der Schweiz, hat terre des hommes schweiz im Mai einen viertägigen Pilotworkshop mit sieben Jugendlichen mit Fluchthintergrund mit dem lösungsorientierten Ansatz durchgeführt.
Wir gingen dabei davon aus, dass es zwischen den Jugendlichen in unserer Projektarbeit im südlichen Afrika und den Jugendlichen in der Schweiz vor allem Gemeinsamkeiten gibt bezüglich traumatischer Erlebnisse und sozioökonomischer Einschränkungen. Eine weitere Gemeinsamkeit war jedoch frappant: Die Jugendlichen im südlichen Afrika leiden darunter, dass ihre Handlungsmöglichkeiten beschränkt sind. Der Mangel an Perspektiven verdammt sie zum nichts-tun, gleichzeitig wird ihnen von Eltern und der Gemeinschaft diese Passivität, das «Rumhängen», vorgeworfen. Eine der signifikantesten Veränderungen, die die lösungsorientierte Arbeit mit Jugendlichen gebracht hat, war der Wechsel von «zuhause bleiben», «nichts tun» oder «TV schauen» dazu, aktiv in die Gemeindearbeit eingebunden zu sein.
Auch für die Jugendlichen mit Fluchthintergrund in der Schweiz, vor allem für jene, die sich im Asylverfahren befinden oder deren Gesuch abgelehnt wurde, ist ein absolut zentrales Thema die beschränkten Handlungsmöglichkeiten, die sie aufgrund ihres Aufenthaltsstatus haben. Das jahrelange Warten auf einen Entscheid ist schwierig zu ertragen für die Jugendlichen und da jugendliches Zeitempfinden anders verläuft, werden oft schon Monate der erzwungenen Passivität als zermürbend empfunden.
«Das Leben steht zwei Jahre still», wie einer der Teilnehmenden des Workshops es formulierte.
Alle Jugendlichen, die an diesem Pilotworkshop teilgenommen haben, möchten möglichst schnell unabhängig und selbstbestimmt leben können. Auf die Frage, was sie sich von der Schweizer Bevölkerung wünscht, antwortet so die junge Sanjay (Name geändert) aus Sri Lanka: «Nichts. Niemand muss mir etwas geben oder etwas tun. Ich will einfach, dass man mich machen lässt. Ich will in die Schule, eine Ausbildung machen und einen Job haben.»
Eine zweite wichtige Beobachtung des Workshops ist, dass allein die vier Tage in geschützter, freundlich gesinnter Umgebung von den Jugendlichen als etwas sehr Positives empfunden wurde. Die Jugendlichen beurteilten das gemeinsame Spazieren, Kochen, Spielen, Sport treiben und den Austausch untereinander als wertvoll und Highlights. Der Entscheid, einen solchen Workshop während vier Tagen in einem atmosphärisch ansprechenden Haus im Jura durchzuführen, hat sich zumindest für die Anwesenden somit als richtig erwiesen. Andererseits haben wir festgestellt, dass die Durchführung unter der Woche für jene Teilnehmenden, die schulisch eingebunden sind (primär Deutschkurse), hinderlich ist. So wird dieses Pilotprojekt auch dahingehend evaluiert werden, ob künftige Projekte nicht besser zum Beispiel während den Schulferien stattfinden, in denen die Jugendlichen laut eigener Aussage oftmals in «ein Loch fallen» da die Schule als strukturgebender Faktor ausfällt und auch viele andere Angebote für die Ferienzeit pausieren.
Die Einschränkungen, die die Jugendlichen aus dem Asylbereich erfahren, sind in ihrem Alltag omnipräsent. Mangelnde Beschäftigung sowie existentielle Zukunftsängste bei jenen, die sich noch im Verfahren befinden oder deren Antrag abgelehnt wurde, fördern die Negativspirale der Gedanken. So fiel es bei Übungen zum ressourcenorientierten Denken vielen Jugendlichen denn auch schwer, sich auf die eigenen Stärken zu fokussieren. Es war auch offensichtlich, dass die jungen Migrantinnen und Migranten nicht gewohnt sind, positives Feedback zu erhalten. Die «Komplimentendusche», bei der die Anwesenden eingeladen werden, einer Person zu sagen, welche positiven Eigenschaft sie an ihr wahrnehmen, führte dazu, dass die Jugendlichen sich sehr öffneten und ihre persönlichen Geschichten erzählten.
Für jene Jugendlichen mit ungesichertem Aufenhaltsstatus ist das Erlangen der Aufenthaltsgenehmigung der zentrale Wunsch. Damit sind auch sehr viele Ängste verbunden. So meinte die junge Sanjay, dass alles, woran sie bis jetzt denken konnte, die Anhörungen und das Warten auf die Papiere sei. Alle Gedanken hätten nur darum gekreist. Der lösungsorientierte Workshop habe ihr geholfen nun auch zu sehen, was sie schon alles erreicht habe, wieviel Mut, Durchsetzungskraft und Fähigkeiten sie brauchte, bis in die Schweiz zu kommen. Es habe ihr auch aufgezeigt, wo sie einen Handlungsspielraum habe, um weiter zu kommen. Sie will sich nun auf das Deutschlernen konzentrieren.