Von Andrea Zellhuber
Täglich fliehen Menschen zu Tausenden aus Zentralamerika vor Armut und Gewalt Richtung USA. Die Vereinigten Staaten senden Aufgegriffene aber systematisch zurück. Unter den Geflüchteten sind immer mehr unbegleitete Kinder und Jugendliche. Sie haben auf der Flucht und davor Schreckliches erlebt. Diese jungen abgeschobenen Menschen sind oft stark traumatisiert. Wie sie bei der Deportation als Kriminelle behandelt werden, versetzt ihnen einen weiteren psychischen Schlag. Sie kehren gebrochen, frustriert und hoffnungslos zurück. Ein Projekt von terre des hommes schweiz zeigt auf, wie dringend die psychosoziale Unterstützung junger Migrierender in Zentralamerika ist. Das Projekt zeigt Wege aus der Hoffnungslosigkeit auf, damit die jungen Menschen in ihrer alten Heimat wieder Fuss fassen können.
Die Situation der migrierenden Kinder und Jugendlichen aus Zentralamerika hat sich in den letzten Monaten dramatisch zugespitzt. Immer mehr junge Menschen fliehen vor Gewalt in ihren Heimatländern und hoffen auf eine bessere Zukunft in den USA. Doch die Null-Toleranz-Politik der Trump-Regierung verurteilt diese Träume zum Scheitern. Die wenigen, die es noch über die hochbewachte Grenze schaffen, werden systematisch deportiert. Und die Reise wird immer gefährlicher: tausende MigrantInnen berichten von Entführungen durch kriminelle Banden, die Lösegeld von ihren Familien erpressen. Wer nicht zahlen kann, wird ermordet. Gerade Mädchen, die alleine migrieren, haben ein besonders hohes Risiko, auf der Flucht sexuell missbraucht und ausgebeutet zu werden. Frauen werden von den Banden zur Prostitution gezwungen.
In den letzten Monaten stiegen die Verhaftungen von MigrantInnen an der Grenze zwischen Mexiko und USA auf ein Rekordhoch. Die US-amerikanischen Behörden haben nur im Monat April dieses Jahres rund 100.000 Migranten an der Grenze zu Mexiko festgenommen. Fast alle Auswanderer stammen aus Zentralamerika. Es sind immer mehr Familien, Frauen, unbegleitete Jugendliche und Kinder unter ihnen. Allein im April kamen 8.800 unbegleitete Minderjährige an. Im Jahr 2014 waren es noch rund 4'000 unbegleitete im Jahr, heute kommen doppelt so viele in nur einem Monat.
Experten führen die rasante Zunahme der Migrationsströme auch auf den drohenden Mauerbau an der Grenze zu Mexiko zurück. Die Abschottungspolitik erzeugt einen «Jetzt-oder-nie-Effekt». Die Schlepper würden die Nachricht verbreiten: Wenn ihr es jetzt nicht schafft, über die Grenze zu kommen, dann ist der Weg danach für immer versperrt.
Die verzweifelten Menschen aus Zentralamerika lassen sich nicht durch die martialische Rhetorik von Präsident Trump abschrecken. Stattdessen schliessen sie sich in Flüchtlingskaravanen zusammen und setzen als Massenbewegung die Behörden unter Druck.
Die psychischen Auswirkungen von Trumps Migrationspolitik der harten Hand sind offensichtlich. Die schweren Kinderrechtsverletzungen durch Migrationsbeamte in den USA erreichten im Juni 2018 ihren traurigen Höhepunkt: tausende Kinder wurden von den US-Grenzbehörden von ihren Eltern getrennt und in Lagern untergebracht. Eine traumatische Erfahrung für tausende junger Menschen. Die anschließende internationale Empörung zwang Trump, diese Anweisung einen Monat später zurückzunehmen. Doch bis heute konnten noch nicht alle Familien wieder zusammengeführt werden.
Und auch wenn diese extreme Vorgehensweise nun wieder rückgängig gemacht wird, die rigorose Abschiebe-Praxis an den Grenzen Mexikos und der USA bedeuten weiterhin eine schwere psychische Belastung gerade für die durch die Gewalterfahrungen bereits traumatisierten jungen Menschen.
Das von terre des hommes schweiz und terre des hommes Deutschland finanzierte Pilotprojekt zur psychosozialen Unterstützung junger MigrantInnen in El Salvador setzt sich gezielt mit den psychischen Folgen der Migration auseinander. Die Partnerorganisation ACISAM schliesst eine entscheidende Lücke in den staatlichen Sozialprogrammen, indem sie junge Migrantinnen und Migranten psychosozial unterstützt. Die Regierungsstellen bieten meist nur Kleider und Essen als kurzfristige Nothilfe. Doch was die Betroffenen wirklich brauchen, um langfristig wieder Fuss fassen zu können, ist psychologische Beratung.
Als Grundlage für die Projektplanung hat ACISAM in einer partizipativen Umfrage die jungen RückkehrerInnen zu ihren Herausforderungen befragt. Die Geschichte von Marina de Jesús (29 Jahre) aus Suchitoto in El Salvador ist exemplarisch für viele der dokumentierten Schicksale. Sie sah als einzigen Ausweg in die USA zu migrieren, um dort Arbeit zu suchen. Denn eine ihrer beiden Töchter leidet unter Asthma und die Medikamente werden immer teurer. Das Geld, das ihr Mann als Landarbeiter verdient, reicht dafür nicht. Marina beschreibt ihre Migrationserfahrungen so: «Ich habe noch nie in meinem Leben so viel Angst gehabt. Ich konnte es nur aushalten, weil ich immer an meine Familie, an meine Kinder gedacht habe. Ich erlebte viel Gewalt, es gab kaum Essen und viel zu wenig Wasser. Als in Arizona der Schlepper plötzlich verschwand, wurde ich von der Polizei aufgegriffen und deportiert». Nach ihrer Rückkehr war ihre Situation noch auswegloser. «Ich habe mich durch die Reise total verschuldet.» klagt Marina de Jesús. Seit der Verschärfung der Grenzschutzmassnahmen haben sich die Preise der Schlepper auf bis zu 12'000 Dollar vervielfacht.
Wie Marina de Jesús ergeht es tausenden junger Menschen: Sie kehren als gebrochene, frustrierte und hoffnungslose junge Menschen zurück, ohne Perspektive, wie sie sich ein neues Leben aufbauen können. Bei ihrer Ankunft können sie keine Hilfe erwarten. Im Gegenteil die jungen Rückkehrer werden in ihren Heimatgemeinden oft als Verbrecher und Verlierer abgestempelt. Sie fühlen sich als Fremde in ihrer alten Heimat und von Ängsten und Sorgen gelähmt.
Fehlende Integration von RückkehrerInnen ist ein grosser Risikofaktor für diesen gewaltgeprägten Kontext. Perspektivlose Jugendliche, die nichts mehr zu verlieren haben, geraten leicht in den Teufelskreis der Gewalt. Oder sie versuchen, so bald wie möglich wieder zu migrieren. Nur mit gezielten und integrierten Ansätzen zur sozialen Wiedereingliederung kann verhindert werden, dass diese jungen Menschen als Überlebensstrategie in den Teufelskreis der Gewalt geraten.
ACISAM leistet einen Beitrag zur Entwicklung von Massnahmen auf Gemeinde-Ebene für die soziale Reintegration. Bei Fällen von besonders schwerem Trauma bietet ACISAM individuelle psychotherapeutische Beratung. Der Schwerpunkt des Projektes liegt auf gruppentherapeutischen Ansätzen, durch die sich die jungen Menschen mit ähnlichen Erfahrungen austauschen können. In den Interviews mit den Jugendlichen wurde zudem deutlich: die jugendlichen RückkehrerInnen fühlen sich als Versager, die es nicht geschafft haben, im Leben weiter zu kommen. Sie haben ein schlechtes Gewissen, weil sie ihren Familien nicht helfen können, da ihr Lebensplan "Auswanderung" geplatzt ist.
Im sicheren Raum der Gruppe schaffen es die Betroffenen oft das erste Mal, von ihren Erlebnissen zu erzählen und durchbrechen so das Verhaltensmuster von sozialem Rückzug.
Durch die psychosoziale Gruppenarbeit können traumatisierte jungen Menschen Gefühle von Ohnmacht überwinden und werden wieder handlungsfähig. Sie gewinnen neuen Lebensmut und finden mit kleinen Schritten einen Weg aus der Resignation. Sie erfahren Selbstwirksamkeit, indem sie im Kleinen etwas verändern.
Für Marina de Jesús war die Teilnahme ein entscheidender Schritt, um ihre Hilflosigkeit zu überwinden. «Ich habe viele andere Leute mit ähnlichen oder noch schlimmeren Erfahrungen kennengelernt. Das hat mir sehr geholfen. Eine Psychologin hat mir geholfen, die schrecklichen Erfahrungen zu verarbeiten. ACISAM und Organisationen, die durch die Vermittlung von ACISAM kamen, haben uns Möglichkeiten für Einkommen schaffende Initiativen gezeigt. Es wurden Projekte mit Starthilfe gefördert.»
Der wichtigste Schritt ist, verlorenes Vertrauen wiederherzustellen: Nach den negativen Erfahrungen mit Migrationsbeamten und Polizei misstrauen die jungen RückkehrerInnen allen Behörden. Durch einfühlsame Betreuung erreicht es ACISAM, ihr generelles Misstrauen abbauen. Die Organisation berät auch Behörden, wie sie Dienstleistungen an die schwierige Situation und Bedürfnisse der Jugendlichen anpassen können. Eine zentrale Schlussfolgerung der ersten Phase des Projektes ist, dass die unterschiedlichen zuständigen Regierungsstellen sich besser koordinieren müssen.
Überraschend deutlich kam heraus, wie die reisserische Medienberichterstattung zur Diskriminierung beiträgt. Einer der Jugendlichen berichtete: „Als wir am Flughafen ankamen, sah ich viele Kameras. Ich dachte: ’Wow, wir sind berühmt’. Dann fragten mich die Journalisten, warum ich deportiert wurde und welche Straftaten ich begangen hatte. Eine andere fragte mich, zu welcher Gang ich gehörte. Sie hatten mich von Anfang an verurteilt.“ Diese Stigmatisierungen erschweren zusätzlich den Reintegrationsprozess.
Deshalb plant ACISAM für die nächste Projektphase ein Journalisten-Training, in denen diese, zu den Rechten von jungen MigrantInnen und bezüglich einer ethischen Berichterstattung aufgeklärt werden.
Die von ACISAM geleistete psychosoziale Unterstützung, die Solidarität der Gemeinschaft und die Einkommen generierenden Aktivitäten haben vielen Jugendlichen neuen Lebensmut gegeben. Einer der Teilnehmer formulierte es so: „Jetzt fühle ich mich ernst genommen. Die Workshops gaben mir Hoffnung, weiterzumachen. Ich habe nicht geglaubt, dass es hier Möglichkeiten für Jugendliche gibt. Ich fühlte mich verlassen, aber jetzt ist mir klar, dass es auch hier eine Chance gibt, weiterzukommen.“
Link zum Projekt von tdhs: DU in Zentralamerika