Von Irene Bush
Die Stiftung Aids & Kind organisiert seit 2002 regelmässig Treffen für Jugendliche, die in der Schweiz mit HIV/Aids leben, um ihnen einen direkten Austausch über ihre Erfahrungen und ihren Umgang mit der Krankheit zu ermöglichen. Für das Treffen im November 2004 wollten sich die Jugendlichen mit dem Thema Schatzkästchen (Memory Boxes) befassen.
Die schweizerischen Jugendlichen, die für das Wochenende angereist waren, nahmen in ihren Kreis zwei Gäste auf: Alessandro* und Sonja, beides junge HIV-Aktivisten, die aus Italien und Russland angereist waren, um den Film über die 4. Europäische Tagung Jugendlicher, die mit HIV/Aids leben, zu editieren. Andere aus der Gruppe mussten aus so alltäglichen Gründen wie Familienfest, Umzug oder Prüfungsvorbereitung absagen. Lea schlug sich mit einer Grippe herum, liess es sich aber nicht nehmen, die Gruppe wenigstens an einem Nachmittag zu besuchen. Sie lebt im Lighthouse und wurde von einem Pfleger begleitet.
Linus G. Jauslin von Aids & Kind informierte die Gruppe, dass Gaby, die sich so auf dieses Wochenende und das Wiedersehen mit der Gruppe gefreut hatte, ins Spital eingeliefert worden war. Er überbrachte ihre Grüsse und die Nachricht, dass sie in Gedanken dabei sei. Die Jugendlichen vermissten Gaby. Seit gut zwei Jahren mussten sie miterleben, wie es ihrer Freundin gesundheitlich immer schlechter ging.
Worte wie Engagement, Zuneigung und gute Führungsqualitäten klingen vielleicht abgedroschen, treffen aber genau auf das zu, was Linus G. Jauslin und Edith Schuwerk, das bewährte Leitungsteam, bieten. Sie begleiten die Jugendlichen mit grossem Verständnis, finden jeweils die richtige Dosierung von laufen lassen und Grenzen setzen und haben ein Feingespür für die Ängste und Nöte der einzelnen. Die Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten in der Gruppe werden mit grosser Transparenz behandelt und respektiert, was den Jugendlichen einen gesunden Boden für das soziale Lernen bietet.
Linus’ Gabe, die Anliegen der Jugendlichen beherzt und engagiert zu vertreten, hatte uns eine Spende von zwei Riesenkartons voller Holzschachteln in verschiedenen Grössen und Variationen beschert. Ich hatte mir überlegt, dass sich auf den Holzkistchen ausser den Gouache und Acryl-Farben auch Seidenpapier mit den kräftigen Farben gut ausmachen würde und das entsprechende Material mitgenommen. Es zeigte sich, dass den Jugendlichen die Seidenpapiermalerei viel Spass machte: Seidenpapier in Fetzen der gewünschten Grösse reissen, mit einem Pinsel eingetaucht in eine Leim-Wassermischung auf die Oberfläche, anstreichen und es haftet perfekt! Die Anleitung für die inhaltliche Auseinandersetzung begann mit einem Brief, in dem ich die Jugendlichen eine Woche vor unserem Treffen dazu aufforderte, kleine Gegenstände zu sammeln, die sie an wichtige Ereignisse, Personen, Begebenheiten, Gefühle in ihrem Leben erinnern würden.
Ich machte sie darauf aufmerksam, dass diese Kästchen zur Aufbewahrung ihrer eigenen Lebens-Schätze dienen würden, also einen äusserst wertvollen Inhalt, Ausdruck ihrer Einzigartigkeit und der Unverwechselbarkeit ihres Lebensweges. Selbstverständlich würden nur sie allein darüber bestimmen, was in dieses Schatzkästchen reinkommt, was wieder rauskommt, wem sie erlauben, die Gegenstände zu sehen oder mit wem sie gar die Erinnerungen teilen wollten.
„Gopf, so wie ich von einem Ort zum anderen gezogen bin, habe ich natürlich kaum Erinnerungsstücke!“, regt sich Marco auf.
„Dann lass Dein Schatzkästlein leer. Du kannst wirklich die Luft darin als den Schatz betrachten, den Du brauchst, um zu überleben – verstehst Du, was ich meine? Denn ohne Luft kann keiner von uns leben!“, philosophierte Christian.
Mich erstaunte sein tiefgründiges Verständnis, denn Christian hatte sich bis jetzt sehr zurück gehalten. Und Marco verstand, was Christian ausdrücken wollte und machte sich eifrig daran, sein Schatzkästchen zu gestalten. Der Raum – für die Gestaltung der Schatzkästchen hatten wir den hellen Raum in der Jugendherberge gewählt – vibrierte vor kreativer Kraft. Eine spezielle Atmosphäre, die entsteht, wenn mehrere Leute sich auf einen schöpferischen Prozess einlassen, der das Schweigen erträgt, aber auch die Bemerkungen oder gar Erzählungen, die hie und da mit den andern geteilt werden.
Sonja bepflasterte ihr Schatzkästchen mit ganz vielen Billets, Tramkarten, Fahrscheinen und so weiter. Was immer sie damit ausdrücken wollte, es wurde klar: Diese junge Frau ist viel unterwegs. Und so fanden alle ihren unverwechselbaren Stil bei der Gestaltung ihrer Schatzkästchen. Den meisten reichte ein Schatzkästchen nicht aus, fantasievoll wurden gleich mehrere Exemplare gestaltet.
Mit vielen Kerzen, mitgebrachten Knabbereien und Getränken machten wir es uns dann gemütlich für den Austausch. Ein grosses Atelier, das uns ein Künstler zur Verfügung gestellt hatte, war im wörtlichen und übertragenen Sinn der Raum, um Erinnerungen und Befindlichkeiten, Gefühle und Gedanken auszutauschen, die durch die Arbeit an den Schatzkästchen ausgelöst waren.
Daphne erklärte, warum es für sie so wichtig war, zwei Schatzkästchen zu gestalten. Eines sei für ihr Gefühlsleben bestimmt und das andere für Ereignisse in ihrem Leben, die gegen aussen hin sichtbar seien. Manchmal leide sie darunter, dass ihre KlassenkameradInnen nicht über ihren HIV-Status Bescheid wissen. Und bei manchen Diskussionen und Aktionen gleichaltriger KollegInnen rege sie sich über deren Vorurteile und Intoleranz aus. Mutig setzt sich die Sechzehnjährige dann jeweils für die Gerechtigkeit ein.
Rebecca war mit ihren zwölf Jahren das Nesthäkchen der Gruppe. Trotz ihrer Unbekümmertheit und Verspieltheit berichtete sie mit grossem Ernst vom bevorstehenden Schritt, der auf ihren ausdrücklichen Wunsch in die Wege geleitet war. Zusammen mit ihren Eltern, den PsychologInnen und LehrerInnen war alles gut vorbereitet und abgesprochen. Dennoch war sie nervös und gespannt, was am kommenden Donnerstag passieren würde, wenn alle SchülerInnen und Eltern der Schule ihren HIV-Status erfahren würden. Die andern in der Gruppe kannten diese Unsicherheit und die Angst davor, wegen HIV ausgegrenzt zu werden, FreundInnen zu verlieren und alleine da zu stehen. Christian musste mit seinen Eltern sogar umziehen, weil es im Dorf nicht mehr auszuhalten war. Er erinnerte sich, wie sehr es ihn verletzte, als ihn seine ehemaligen Freunde nicht mehr akzeptierten, ja sogar verspotteten, als sie erfuhren, dass er HIV positiv ist. Inzwischen verzichtete er auf solche Freunde.
Wenn sie ihn mit seinem HIV nicht akzeptieren, dann sind sie keine Freundschaft wert! Auch Marco, der verschiedene Pflegefamilien und Heime durchlief, weiss von Ausgrenzungen und Intoleranz zu berichten, die er erleben musste. Vielleicht lag darin mit ein Grund für den Hass auf seine Mutter, der ihn jahrelang begleitete. Als ich ihn vor einem halben Jahr an der europäischen Konferenz kennen gelernt hatte, war „Schlampe“ noch einer der netteren Ausdrücke, die er für sie benützte. Deshalb fiel ich fast vom Stuhl, als er davon sprach, dass viele Frauen in der Situation seiner Mutter abgetrieben hätten. Doch sie hatte ihn trotz ihres Drogenproblems und des HI-Virus das Leben geschenkt. Das wäre sicher nicht einfach für sie gewesen. So wie der Achtzehnjährige seine neuen Überlegungen und Erkenntnisse eröffnete, waren wir alle gerührt, denn wir begriffen, dass Marco daran war, sich mit seiner verstorbenen Mutter zu versöhnen. Nicht zuletzt wegen der Arbeit mit Edith, Linus und der Gruppe.
Yannick, der aufgeweckte, aufrechte fünfzehnjährige Teenager, war an diesem Wochenende etwas ruhiger als gewohnt. Alle wussten, dass er seiner geliebten Mutter nachtrauerte, die vor drei Monaten an Aids verstorben war. Er musste sich wieder mal an eine neue Umgebung, neue SchulkameradInnen und eine neue Schule gewöhnen. Doch der aufgestellte junge Mann mit dem einnehmendem Wesen und den vielen Interessen wird das schon schaffen!
Auch den zwanzigjährigen Alessandro hatten die Vorurteile gegenüber Menschen, die mit dem HI-Virus leben, schwer zu schaffen gemacht. Er wollte sich nicht mehr hilflos und ausgeliefert vorkommen und merkte, dass es ihm am besten ging, wenn er offen auf die Leute zugeht. Wenn er zu seinem HIV-Status steht und sich mit Geduld auf Diskussionen einlässt. So gab mindesten er den andern eine Chance, ihre Vorurteile abzubauen.
Sonja, mit 24 Jahren die älteste der Gruppe, erzählte von ihrer Selbsthilfegruppe in Petersburg, über zwanzig Frauen, die sich regelmässig treffen, austauschen, einander so gut wie möglich beistehen. Und sie erzählt davon, wie sie angesteckt wurde: Weil sie so vorsichtig war und das erste Mal, bevor sie mit einem Mann schlief, zusammen mit ihm den HIV-Test machen liess. Er testete negativ. Sie wurde durch unsauberes Besteck bei der Blutabnahme für den Test angesteckt.
Mit diesen Einblicken in einige der Erinnerungen, die sich in den Lebens-Schatzkästchen der Jugendlichen befinden, kommt vielleicht auch zum Ausdruck, wie intensiv sich diese jungen Menschen bei ihrer Erinnerungsarbeit engagiert hatten, wie sehr sie sich in den Gruppengesprächen zu den unterschiedlichsten Themen zeigten. Aber sie wollten auch Spass haben und die Zusammengehörigkeit in der Gruppe geniessen. So gab es an diesem Treffen auch Schneeballschlachten, einen Stadtrundgang und mindestens ebenso viel Lachen wie Weinen, was dabei half, die Schwere aus den Gesprächsthemen wieder abzubauen. Und wer meint, dass die Gesprächsthemen, die Auseinandersetzung und die Last für die Jugendlichen zu schwer seien, dem kann ich zustimmen, ABER gleichzeitig daran erinnern, dass sie zur Realität ihrer Situation, ihrer Krankheit, ihrer Lebensumstände und ihrer Erfahrungen mit den Mitmenschen gehören. Bleiben diese Erfahrungen unreflektiert und diffus in der Erinnerung haften, können sie nicht zur Stärkung der Persönlichkeit und Empowerment im Umgang mit allen Themen rund um HIV/Aids dienen.
Für Gaby hatte die Gruppe ein Erinnerungsbild angefertigt, das ihr nicht mehr überreicht werden konnte. Gaby verstarb, 20-jährig im Spital ihres Wohnortes. In der darauf folgenden Woche fand für die Jugendlichen eine von Aids & Kind durchgeführte Abschiedsfeier mit einem Ritual statt.
*Irene Bush ist Advocacy Officer von REPSSI (Regional Psychosocial Support Initiative For Children Affected by HIV/Aids) und arbeitet in Basel. Kontakt: irene@repssi.org. Kontakt Aids & Kind: Linus G. Jauslin, www.aidsundkind.ch, info@aidsundkind.ch. Alle Namen der beteiligten Jugendlichen wurden geändert.