Von Katharina Ley
In der schwarzen und in der farbigen Community in Pretoria, aber auch in einem Flüchtlingsfrauenheim in Johannesburg, spielte die Arbeit an Memory Boxes und Memory Houses eine grosse Rolle. Die Memory Boxes, Memory Houses und Body Maps sind Kraftfelder der Erinnerung; sie beginnen in der Vergangenheit und reichen in die Gegenwart und Zukunft von vom Schicksal der Armut, von Aids und Flucht gezeichneten Menschen.
In meiner dreijährigen psychotherapeutischen Arbeit in Townships und Flüchtlingsheimen in Südafrika habe ich die Erfahrung gemacht, dass Kranke wie Fliegen sterben, massenhaft, namenlos, über Nacht. Es sind vor allem Frauen, die an Aids, an gebrochenen Herzen, an Heimweh und Unterernährung sterben. `Wie Fliegen’ – plötzlich sind sie weg, und die Samstage sind im ganzen Land zu Beerdigungstagen geworden. Die noch Lebenden leiden am Massensterben und fragen sich: bin ich die/der Nächste? Die Furcht davor, einfach ausgelöscht zu werden, ist ernst zu nehmen.
Da stellt sich die wichtige Frage, wie das Leben, manchmal ein Überleben, und wie das Sterben dieser Frauen und Männer Wert und Würde erhalten können, und zwar auf eine Weise, die von den Ressourcen, den Möglichkeiten von Frauen ausgeht, nämlich Beziehungen zu schaffen: zu ihren Kindern, zur Familie, zu anderen Menschen.
Ich wähle zum Einstieg Smangeles Geschichte aus Südafrika: Smangele ist ein achtjähriges Mädchen in Südafrika. Sie ist Vollwaise. Ihre Mutter starb vor zwei Jahren an Aids, und sie lebte danach mit ihren beiden Onkeln, sechzehn und zweiundzwanzig Jahre alt. Diese waren nicht in der Lage, sich um sie zu kümmern, und fingen an, sie zu missbrauchen. Das merkte eine Freundin von Smangeles Mutter, Lindiwe, und sie nahm Smangele zu sich auf. Sie war nun bei ihrer „Tante“, aber sie zog sich zurück, es ging ihr schlecht. Sie sprach kaum in der Schule. Vollwaise zu sein war schon schlimm; noch schlimmer war es, wenn man den Vater nie gekannt hatte und die Mutter an Aids gestorben war. Es war eine Schande, und Smangele fühlte Traurigkeit und Wut. Niemand konnte und wollte ihr richtig Auskunft geben über ihre Familie.
Doch Smangele hatte Glück. Ihre Betreuerin von einer Aids-Organisation hatte in einer Weiterbildung gehört, dass es neue Möglichkeiten gebe, Aids-Waisen bei ihrer Wut und Trauer beizustehen. Die Betreuerin kam zu Lindiwe, der Tante, und Smangele nach Hause und ließ sich von Lindiwe alles erzählen, was diese über ihre verstorbene Freundin wusste. Smangele war glücklich über alles, was sie zu hören bekam. Sie hätte immer mehr über ihre Mutter wissen wollen und auch darüber, wer ihr Vater war. Sie fühlte sich nicht zu jung, um alles von ihrer Mutter zu erfahren. Sie dachte ja die ganze Zeit über ihre verstorbene Mutter nach und litt darunter, wie wenig sie wusste.
Einige Wochen nach diesem Gespräch kam die Betreuerin zurück und brachte eine kleine Kartonschachtel mit. Darin war ein Foto von Smangeles Mutter und deren Lebensgeschichte, die die Betreuerin nach diesem Gespräch aufgezeichnet hatte. Smangele konnte noch nicht lesen, aber sie wusste, dass auf diesen Blättern das Leben ihrer Mutter aufgeschrieben war. Sie wusste nun auch, wer ihr Vater war, und die Tante hatte erfahren, wo er lebte, und dass er Smangele gern kennen lernen würde. Damals nach ihrer Geburt hatte er kein Geld und konnte deshalb nicht für sie aufkommen. Und Smangeles Mutter hatte das akzeptiert und beschlossen, ihr Kind selbst aufziehen.
Smangele hatte nun ihre Memory Box, die sie sorgfältig unter ihrem Bett aufbewahrte. Wenn sie Sehnsucht nach ihrer Mutter hatte, zog sie sie hervor, öffnete sie und fand Trost in den Erinnerungen. Und sie hatte noch ein Kleid von ihrer Mutter, das sie oft anzog. Sie war ohnehin ständig im inneren Gespräch mit ihrer Mutter.
Die Memory Box ist zum einen eine Metapher, ein Sinnbild, das auf die Erinnerung und das Gedächtnis verweist: „Trotz allem“, trotz Krankheit, Unglück und Tod behalten wir Menschen als Menschen in unseren Herzen. Die Memory Box ist zum anderen eine reale Karton- oder Blechschachtel mit Erinnerungsstücken an verstorbene Menschen.
Memory Boxes sind eine Möglichkeit für die Überlebenden, um mithilfe von Erinnerungen den Verlust zu bewältigen und zu erfahren, wer sie sind. Und sie sind eine Möglichkeit für die Kranken, ihrem Leben und ihrem Abschied noch einmal oder vielleicht zum ersten Mal Wert und Würde zu verleihen.
Sterben ist immer schwierig. Noch schwieriger ist es, als Mutter einem Kind zu erzählen, dass man bald sterben wird, erst noch an Aids leidet, und man den Kindern vor allem Pflichten hinterlassen muss: das Älteste hat dann für seine Geschwister zu sorgen, es kann vielleicht nicht mehr zur Schule gehen, die Kinder kommen vielleicht an einen anderen Ort wohnen, es ist kein Geld da, es ist kein Vater da. Dies sind Riesenhypotheken. Die sterbende Mutter fühlt sich dadurch wertlos und hilflos.
In den Townships in Südafrika wohnen die Ärmsten. Die Familienverhältnisse sind oft chaotisch und gewalttätig. Aids zu haben und daran zu sterben ist immer noch eine Schande. Die Aids-Kranken sterben also an Tuberkulose, an Lungenentzündung, an Herzversagen; nicht an Aids, weil das Komplikationen schafft für die Krankenversicherungen und Beerdigungsfonds. Medikamente sind für die Armen häufig immer noch nicht verfügbar. Der Besitz von Verstorbenen reduziert sich auf das Minimum, wenn überhaupt. Kleine alltägliche Erinnerungsstücke sind Glückssache im grossen Verschweigen und in der Armut.
Smangele ist ein typisches Beispiel einer Aidswaise. Es gibt viele andere. Memory Work als Erinnerungs- und Abschiedsarbeit füllt eine Riesenlücke des Verschweigens und des sang- und klanglosen Sterbens. Mündliche Geschichte (oral history) hilft, Erinnerungen überhaupt erst zu ermöglichen. Es geht dabei um „remembering, retelling, recording and sharing“: um erinnern, erzählen, aufzeichnen, mitteilen und miteinander teilen. Frauen gehen dabei von ihren besonderen Ressourcen aus, nämlich erzählen, verbinden und teilen zu können.
In der schwarzen und in der farbigen Community in Pretoria, in Mamelodi und in Eersterus, wo ich arbeitete, aber auch in einem Flüchtlingsfrauenheim in Johannesburg, wo ich eine Unterstützungsgruppe für Frauen und Kinder leitete, spielte die Arbeit an Memory Boxes und Memory Houses eine grosse Rolle.
Wir ermutigten die Frauen, mit ihren Kindern bzw. für ihre Kinder eine Memory Box zu erstellen mit wichtigen Gegenständen und mit ihrer aufgezeichneten und gemalten Lebensgeschichte. So würden sich ihre Kinder dereinst an das gemeinsame Leben erinnern könnten. Bei Frauen, die in Armut leben, sind es ganz wenige Dinge: eine Vogelfeder, eine Haarnadel, eine abgegriffene Photo, ein kleiner Zettel, wo in ungelenker Handschrift einige Lebensdaten und Zeichnungen sowie Gebete und Wünsche für die Kinder draufstehen. Wünsche, dass die Kinder ein gutes Leben führen können und wissen, dass sie ihre Mutter über alles geliebt hat.
Wir verfertigten solche Memory Boxes auch mit Kindern, wenn sie genügend alt waren dafür – für sich, für ihre Eltern, für ihre Geschwister. Wir machten es mit Flüchtlingsfrauen und Flüchtlingskindern, um eine Erinnerung an ihr fernes Heimatland (Angola, Rwanda, Burundi, Uganda, Sudan etc.) zu bewahren. Kinder liebten es, ihr ehemaliges Haus zu bauen – ein Memory House - und brauchten dazu Karton, Klebstoff und Farben. Sie schmückten es aus mit Matratzen, einer Kochstelle, mit allem, was sie erinnern konnten. Sie malten es liebevoll an. Die Memory Houses bildeten die Verbindung zum Land, aus dem sie fliehen mussten, zu den Menschen dort, zum Ort, wo sie wohnten, und zum Leben, das sie dort führten. Und alle hatten die Sehnsucht, wieder einmal dorthin zurückkehren zu können.
Ich erlebte kranke Frauen, die keinen Grund mehr sahen, weiterzuleben. Nichts mehr hielt sie auf dieser Erde. Die Herstellung einer Memory Box gab ihnen, selbst wenn sie schon sehr entkräftet waren, für ein paar Momente einen Sinn. Es verlieh ihnen Wert und Würde für sich selbst und für ihre Kinder. Es erlaubte ihnen manchmal auch, sich mit ihrem schrecklichen Schicksal zu versöhnen. Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, versöhnt sterben zu können. Es gibt auch die Erinnerungsarbeit mit so genannten Body Maps: Frauen zeichnen gegenseitig ihre lebensgrosse Silhouette auf einen grossen Karton und malen je individuell, vielfältig und vielfarbig ihre Körper aus. In den gemalten Körpern finden wir gezeichnete Babies, Herzen, Bilder für ihre Krankheit, Worte und Wünsche. Es sind gemalte Erinnerungen, lebensgross und berührend.
Die Memory Boxes, Memory Houses und Body Maps sind Kraftfelder der Erinnerung; sie beginnen in der Vergangenheit und reichen in die Gegenwart und Zukunft von vom Schicksal der Armut, von Aids und Flucht gezeichneten Menschen. Frauen fühlen sich für Beziehungen verantwortlich und haben meist eine grosse Fähigkeit, Beziehungen zu unterhalten. Wenn Armut und Krankheit vorherrschen, drohen die Beziehungen zugrunde zu gehen. Memory Work hilft, das aufzuzeichnen, was weitergegeben werden muss, damit die Sterbenden in Würde von dieser Welt gehen können. Und sie vermittelt den Überlebenden und noch Lebenden ein Wissen darüber, woher sie kommen. Erst dann werden auch sie in Würde trauern und in Würde weiterleben können.
Die Bewegung dieser Erinnerungs- und Abschiedsarbeit geht weit über die heilsamen Auswirkungen für die unmittelbar Betroffenen hinaus.
Sie ist wichtig für eine Gesellschaft,
Memory Boxes sind wichtige, gesellschaftlich relevante persönliche Dokumente, um die Sterbestatistiken mit Namen und Lebensgeschichten zu versehen. Nelson Mandela benennt seine weltweite Anti-Aids-Kampagne mit seiner früheren Gefangenennummer „46664“, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Aidstoten nicht zu Nummern verkommen dürfen wie damals in der Apartheidszeit die Gefangenen. Alle sollen einen Namen, ein Gesicht, eine Lebensgeschichte erhalten und damit zu Menschen werden.
Frauen sind Trägerinnen des Lebens. Sie haben etwas weiterzugeben. Mädchen haben ein Recht zu erfahren, wie ihre Mutter gelebt hat. Sie brauchen ein ihnen nahes, weibliches Vorbild, am besten eben jenes der Mutter. Und ihre Mutter war eine einzigartige Person, so wie sie selber einzigartige Personen sind.
Aids und Armut, Flucht und Krankheit verändern die Menschen im südlichen Afrika. Diese Menschen haben ein Recht darauf, dass wir ihre Menschenwürde respektieren und feiern und unser Mitgefühl fördern. Ich wünsche mir, dass Memory Work den Teufelskreis von Armut, Ignoranz und Verleugnung aufbricht und den Lebenswillen von allen Betroffenen unterstützt.
Betroffene sind wir alle, die Gesunden und die Kranken, die Menschen in Afrika und die Menschen weltweit. Caroline Myss hat die Symptome von Aids als Merkmale einer globalen Krankheit gesehen: Die Lungenentzündung als Symbol der Zerstörung der Regenwälder, die die Erde grösstenteils mit Sauerstoff versorgen; die kanzerösen Hautläsionen bei manchen Aids-Patientinnen als Zerstörung der natürlichen Erdoberfläche durch Gifte und Umweltverschmutzung; das menschliche Immunsystem als die Ozonschicht der Erde, die heute so fragil geworden ist wie das Immunsystem bei Aids-Kranken.
Wir können diese Beispiele auch auf die Armut und auf die Flucht aus dem kriegsversehrten Heimatland ausweiten. Und dann merken wir: Es geht uns alle an.
Gibt es Präventionsmöglichkeiten für das Massensterben? Im südlichen Afrika sind die Zeichen erkannt worden. Es wird bildhaft über Ansteckungsgefahren unterrichtet und aufgezeigt, wie man sich unter anderem mit Kondomen vor einer Infektion schützen kann. Die schwarze Bevölkerung hat kostenlosen Zugang zu Spitälern, damit die Frühzeichen rechtzeitig erkannt werden können. Immer mehr Spitäler verfügen über Medikamente. Die Memory Work kann mithilfe von Broschüren, Ausstellungen und Fernseh-Dokumentationen in diese Präventionsarbeit eingebaut werden. In Aidsbroschüren in Südafrika wird erläutert, wie eine Memory Box erstellt werden kann. Es gibt zarte Zeichen der Hoffnung, dass die heutige junge Generation informierter und aufgeklärter aufwächst als das bei ihren Eltern der Fall war. Die Dokumente der Erinnerungsarbeit werden sie dabei ermutigend und identitätsstützend begleiten.
*Katharina Ley, Dr. phil., Psychoanalytikerin, Soziologin, Autorin. Eigene psychoanalytische-psychotherapeutische Praxis in Bern. Neueste Veröffentlichung: Versöhnung mit den Eltern und mit sich selbst. Walter bei Patmos, Düsseldorf (erscheint im August 2005). Kontakt: katharina.ley@bluemail.ch
Katharina Ley und Cristina Karrer, Überlebenskünstlerinnen. Frauen in Südafrika. eFeF Verlag, Bern 2004.
Judith Lewis Herman, Trauma and Recovery. Pandora, London 2001.
Herbert Mankell Herbert, Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt. Mit einem Memory Book. Zsolnay, Wien 2004.
Caroline Myss, Anatomy of Spirit. Bantam Books, London 1997