Von Thomas Schwarz
Im Juli 1996 kündigte UNAIDS unter dem Stichwort PETRA (Perinatal Transmission) eine Forschungsreihe zur Prävention der Mutter-Kind-Übertragung von HIV in Entwicklungsländern an.(1) Ähnliche klinische Tests wurden in den letzten Jahren an insgesamt 17'000 Frauen in mehreren afrikanischen Ländern, der Dominikanischen Republik und Thailand durchgeführt. Verschiedene einfache und kostengünstige Behandlungsmethoden wurden erprobt; dabei wurde den Kontrollgruppen ein Scheinmedikament (Placebo) verabreicht. Diese Forschungspraxis stösst nun auf harsche Kritik. Denn seit über drei Jahren liegt bereits ein wirksames Medikament gegen die Mutter-Kind-Übertragung von HIV vor.
Über 90% aller HIV/Aids-Infektionen bei Kindern erfolgen aufgrund der Übertragung des Virus von der Mutter auf das Kind. Über 3 Millionen Kinder sind auf diese Weise bereits infiziert worden, 85% von ihnen leben im Afrika südlich der Sahara. Und hier beginnt nun das Problem: Zwar hat sich das antiretrovirale Medikament Zidovudin (AZT) als wirksame Methode erwiesen, die Wahrscheinlichkeit einer Mutter-Kind-Übertragung von HIV zu verringern. In der erfolgreichen Studie (ACTG 076) erfolgte die Behandlung durch intravenöse Injektionen. Sie setzte im zweiten Drittel der Schwangerschaft ein und wurde bis zur Geburt weitergeführt. Auch dem neugeborenenen Kind wurde AZT bis zur 6. Lebenswoche verabreicht.
Aus verschiedenen Gründen ist laut UNAIDS die Behandlung von HIV-infizierten schwangeren Frauen gemäss ACTG 076 in den meisten Ländern der Dritten Welt jedoch nicht möglich(2)
Aus diesem Grund wurde in den letzten Jahren in weltweiten klinischen Tests nach einfacheren und dennoch effektiven Wege der Verringerung der HIV-Übertragung gesucht. Die dabei verwendeten Methoden reichen von der Verabreichung von Vitamin A über Vaginalduschen während der Geburt bis hin zum Forschungsfeld der von UNAIDS finanzierten PETRA-Versuche in Südafrika, Tanzania und Uganda, bei denen antiretrovirale Medikamente in geringerer Dosis und während einer kurzen Zeit vor der Geburt verabreicht wurden.
Das „New England Journal of Medicine“ (NEJM) ging in seiner Ausgabe vom 18. September in einem Editorial der Co-Herausgeberin Marcia Angell und einem längeren Artikel von Peter Lurie und Sidney M. Wolfe auf die Versuche ein(3) und äusserte harsche Kritik an der Tatsache, dass den HIV-infizierten Frauen der Kontrollgruppen statt der bereits bewährten Therapie Placebo verabreicht wurde und dass damit ein hohes Risiko der HIV-Übertragung an ihre Kinder in Kauf genommen wurde. Marcia Angell verglich die HIV-Versuche mit der berüchtigten Tuskegee-Studie über nicht behandelte Syphilis bei US-amerikanischen Schwarzen, was wiederum zu scharfen Reaktionen von Seiten der beteiligten Forscher/innen und Institutionen führte. Die wichtigsten Argumente der NEJM:
In einem längeren „Frage und Antwort“-Dokument(4) geht UNAIDS auf die vom NEJM geäusserten Vorwürfe ein und rechtfertigt die Forschungspraxis mit folgenden Hauptargumenten:
In Zeitungsartikeln ist der Ton der Auseinandersetzung schärfer. Edward Mbidde, Chef des in die Versuche involvierten Aids-Forschungskomitees von Uganda, wirft den Kritiker/innen der Versuche „ethischen Imperialismus“ vor, während der Aids-Forscher David Ho, „Man of the Year 1996“ der Zeitschrift Time, in einem Leitartikel festhält, die Versuche seien von Afrikaner/innen zum Wohl der Menschen in Afrika entwickelt worden, wobei die lokalen Bedürfnisse und Möglichkeiten berücksichtigt worden seien: Im Kampf gegen das tödliche Virus sei es jedenfalls kontraproduktiv, im Namen eines ethischen Purismus auf dem Unmachbaren zu beharren (6).
(1) UNAIDS Pressemitteilung vom 9. Juli 1996: „UNAIDS announces new clinical trials for the prevention of mother-to-child transmission of HIV“. Bereits in dieser Pressemitteilung wird festgehalten, dass den Kontrollgruppen der Versuche Placebo verabreicht wird.
(2) „Question and answers on the UNAIDS sponsored trials for the prevention of Mother-to-Child Transmission. Background brief to assist in responding to issues raised by the public and the media.“ (undatiert, 1997)
(3) New England Journal of Medicine NEJM, Ausgabe 337 vom 18. September 1997: Marcia Angell, The Ethics of Clinical Reserch in the Third World (Editorial), S. 847ff.; Peter Lurie und Sidney M. Wolfe, Unethical Trials of Interventions to Reduce Perinatal Transmission of the Human immunodefienciency Virus in Developing Countries,S. 853ff.
(4) wie Anmerkung 2
(5) Soeben publizierte die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SANW) ihre Richtlinien für Forschungsuntersuchungen an Menschen: Schweizerische Ärztezeitung Heft 43/1997 vom 22. Oktober 1997, S. 1585-1599 (deutsch und französisch). Die darin enthaltenen Ausführungen zu den medizinisch-ethischen Grundlagen sind weitgehend den „International Ethical Guidelines for Biomedical Research Involving Human Subjects“ der CIOMS (1993, Genf) entnommen.
(6) Newsweek vom 19. September 1997
Die Debatte um die Ethik in der HIV/Aids-Forschung ist eröffnet |