Von Nicole Maron Oscamayta
Themen wie Gender und Gleichstellung sind in Lateinamerika aktueller denn je, und die Corona-Krise hat gezeigt, dass in erster Linie die Frauen unter den Auswirkungen der Pandemie leiden, während sie Familie und Gesellschaft am Laufen halten. Doch Projektarbeit in diesem Bereich kann nur Wirkung erzielen, wenn man lokale Kontexte, Denkweisen und Begrifflichkeiten miteinbezieht, statt unreflektiert von europäisch geprägten Konzepten auszugehen. Nicole Maron Oscamayta arbeitet als Fachperson von Comundo mit indigenen Frauen in Puno, Peru, und plädiert dafür, auf die Dynamik und Energie der lokalen Frauenbewegungen zu setzen, für die Themen wie Diskriminierung und häusliche Gewalt alltäglich sind.
Lateinamerika ist geradezu ein Paradies für «Entwicklungsprojekte» im Genderbereich, herrscht doch ein allgemeiner Konsens darüber, dass die Latinos allesamt Machos sind und sich hier betreffend Gleichstellung der Geschlechter in den letzten 50 Jahren nichts getan hat. Es gibt zwar in verschiedenen Ländern der Region Gleichstellungsgesetze, doch oft verändern diese die Realität nicht massgeblich. In Bolivien ist zum Beispiel gesetzlich vorgeschrieben, dass die Hälfte der Parlamentarier*innen Frauen sein müssen, doch wie Miriam Suarez, die Leiterin des Frauenhauses «Casa de la Mujer» in Santa Cruz de la Sierra erklärt, ist dies nicht mehr als eine Alibiübung: «Die wichtigen politischen Entscheidungen werden weiterhin von den männlichen 50 Prozent getroffen. Die Frauenquote dient vor allem dazu, dass man sagen kann, in der bolivianischen Legislative herrsche Geschlechtergleichheit.»
Männliche Politiker verschiedener lateinamerikanischer Länder dagegen schockieren immer wieder mit ihren Aussagen über Frauen. Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro sagte zum Beispiel im März 2020: «Die Frau wurde geschaffen, um zu gebären, oder etwa nicht? Also geht gebären, geht gebären! Mögen alle Frauen sechs Kinder bekommen, damit unsere Nation wächst!» (Youtube: «Maduro anima a las venezolanas a parir seis hijos»). Sebastián Piñera, Präsident von Chile, verkündete, ebenfalls im März 2020: «Manchmal hängt es nicht nur vom Willen der Männer ab, Frauen zu missbrauchen, sondern auch von der Haltung der Frauen, missbraucht zu werden.»(Youtube: «Piñera: A veces no es sólo la voluntad de los hombres de abusar»). Und der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro liess 2016 verlauten: «Ich würde Männern und Frauen nicht den selben Lohn zahlen, aber es gibt viele kompetente Frauen», während er 2017 scherzte: «Ich habe vier Söhne. Beim fünften Kind habe ich versagt, es wurde ein Mädchen.» (Sánchez, Sandra 2018). Die Tatsache, dass all diese Aussagen bei öffentlichen Auftritten im Fernsehen gemacht wurden, zeigt, wie salonfähig die Abwertung und Diskriminierung von Frauen ist. Dennoch ist die Genderfrage nicht ganz so simpel, wie es auf den ersten Blick scheint, und bei der Projektarbeit in diesem Bereich ist es zentral, nicht auf Stereotypen aufzubauen, sondern sich tiefgehend nicht nur mit nationalen oder regionalen, sondern vor allem auch mit lokalen Realitäten sowie mit den entsprechenden historischen und kulturellen Hintergründen auseinanderzusetzen. Was der Arbeit mit Frauen, aber auch mit Männern in diesem Kontext auf keinen Fall zu Gute kommt, egal wie gut es gemeint ist, ist das unreflektierte Anwenden europäisch geprägter Konzepte.
«Seit den 2000er Jahren ist das Thema Gender in EZA-Projekten allgegenwärtig», sagt die peruanische Anwältin Yanett Medrano, die zurzeit an ihrer Doktorarbeit zur Genderthematik in den Anden schreibt und seit Jahren zu dekolonialem Feminismus forscht, vor allem im Umfeld ihrer Heimatstadt Puno (Südperu). «Im Lauf der Jahre habe ich gemerkt, dass die Arbeit mit Konzepten und Begrifflichkeiten wie Gender und Feminismus im hiesigen Kontext nicht funktioniert – ich kann einer Aymara-Grossmutter nicht mit Ökofeminismus kommen, und ich kann ihr auch nicht sagen, dass sie aufhören soll, zu kochen und sich um ihre Enkel zu kümmern.» Viele indigene Frauenorganisationen in Lateinamerika engagieren sich für Frauenrechte und Gleichstellung, ohne sich auf theoretische oder akademische Konzepte zu beziehen, und Themen wie häusliche Gewalt sind allgegenwärtig – und zwar nicht erst, seit die Genderthematik in den Fokus der Entwicklungszusammenarbeit gerückt ist. «Natürlich stellen sich Frauen auch hier die Frage, warum Männer alle Bereiche des Lebens dominieren, und die Problematik wird aktiv angegangen, nur eben nicht mit kontextfremden Konzepten und Methoden», sagt Yanett Medrano.
Vielleicht besteht das Hauptproblem nicht darin, dass vor allem in den ländlichen Gebieten der Anden auch junge indigene Frauen nach wie vor genau das wollen, was aus feministischer Sicht Ausdruck von Benachteiligung und Unterdrückung ist: kochen, Kinder und Tiere versorgen und die Felder bestellen. Vielleicht liegt das Problem vielmehr im Anspruch der «Entwicklungsprojekte», die Ziele und Evaluations-Indikatoren definieren, ohne die so genannten Zielgruppen miteinzubeziehen. Mit Aussagen wie «Frauen müssen auch arbeiten dürfen», wird schliesslich nichts anderes zum Ausdruck gebracht als die Meinung, dass Haus- und Feldarbeit sowie Kindererziehung keine Arbeit darstellen. Damit wird eine kapitalistische und patriarchale Logik reproduziert, nach der nur bezahlte Arbeit «wirklich Arbeit» ist und Anerkennung verdient – ein Paradigma, an dem durch die Debatte um Care-Arbeit auch in der Schweiz seit Jahren gesägt wird.
In diesem Zusammenhang kann man viel lernen, wenn man sich die Zeit nimmt, den Frauen vor Ort richtig zuzuhören. Rosa Palomino, Kommunikationsfachfrau und Familienmanagerin in einer Aymara-Gemeinde in der Nähe von Puno, spricht nicht von Care-Arbeit, wenn sie sich auf die Aufgaben bezieht, die die Frauen in den indigenen Gemeinden übernehmen. Sie spricht von Arbeit, und zwar von existenzieller: «Die Arbeit, die wir erledigen, ist fundamental für das Funktionieren und den Erhalt der Gemeinschaft, auch wenn das heute kaum mehr anerkannt wird – weder in den indigenen Gemeinden noch vom Staat.» Rosa Palomino ist seit vierzig Jahren in Projekten zur Stärkung von indigenen Frauen engagiert, vor allem im Bereich Kommunikation. Zusammen mit Mitstreiterinnen aus ganz Lateinamerika hat sie Radioprogramme ins Leben gerufen und indigene Frauen in Medienarbeit ausgebildet, um ihnen zu ermöglichen, ihre Realität und ihre Anliegen sichtbar zu machen, und zwar in ihren eigenen Muttersprachen, was in Peru und in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist.
Die ideale Beziehung zwischen Mann und Frau wird in der indigenen Kosmovision der Quechua und Aymara durch das Komplementaritätskonzept «Chacha-Warmi» («Mann-Frau») verkörpert. Durch Chacha-Warmi wird ausgedrückt, dass Mann und Frau zwei Hälften sind, die sich perfekt ergänzen. Ihre Vereinigung zu einem kompletten Ganzen bringt eine klare Aufgabenteilung mit sich, fordert aber auch grossen gegenseitigen Respekt. Aus europäischer Sicht ist die Bedeutung von Chacha-Warmi nicht ganz einfach zu verstehen, und oft wird auf Grund der traditionellen Rollenteilung in indigenen Gemeinden (vor)schnell der Machismus-Vorwurf eingebracht.
Doch Chacha-Warmi bezieht sich auf viel mehr als bloss auf gesellschaftliche Strukturen, sondern hat auch eine philosophisch-spirituelle Dimension. Indigene Schamanen identifizieren flache Steine als weiblich und runde als männlich, weil letztere davonrollen können und erstere an Ort und Stelle bleiben. Damit wird unter anderem visualisiert, dass die Frauen häufig in den Gemeinden bleiben, während die Männer zum Arbeiten in die Städte fahren. Zugleich zeigt das Steinmodell aber auch, dass der Mann immer oberhalb der Frau platziert sein muss, damit die Beziehung stabil ist. Liegt der flache auf dem runden Stein, stürzt er ab. Das bedeutet aber nicht, dass der Mann wichtiger oder wertvoller wäre als die Frau – die Assoziation von «oben» mit «besser» entstammt der europäischen Symbolik. Dass der flache Stein unten liegt, zeigt im Kontext der indigenen Gemeinden vielmehr auf, dass die Frau die Basis für die Beziehung und das gemeinsame Leben bildet: Der Mann stützt sich auf ihr ab, ohne sie hat er keinen Halt und rollt davon.
Doch Rosa Palomino, die betont, dass sie nicht in den Hörsälen, sondern in der Universität des Lebens gelernt hat, gibt zu bedenken, dass diese Art von Beziehung zwischen Mann und Frau langsam verlorengeht. «Immer häufiger kommt es vor, dass Frauen als ignorant betrachtet beziehungsweise ihre Kenntnisse abgewertet werden. Doch dies entspricht nicht unserer Kultur.» Dies bestätigt auch Yanett Medrano, die oft Projekte in indigenen Gemeinden begleitet: «Ich höre in den Gemeinden sehr oft, dass die heute zu beobachtende Vorherrschaft der Männer und die Gewalt gegen Frauen dem Prinzip der Komplementarität vollkommen widersprechen. Da ist etwas zerbrochen. Doch wenn man sich fragt, warum das so ist, muss man bedenken, dass dieses System von Unterdrückung, von der Erhebung einer sozialen Gruppe über eine andere, und auch der patriarchale Mechanismus von Macht und Gewalt eindeutig mit der Kolonialisierung nach Lateinamerika gekommen ist.»
In der aktuellen Krise rund um Covid-19 wurde deutlich, dass es in Peru in erster Linie die Frauen sind, die Familie und Gesellschaft am Laufen halten. Nicht nur dass sie weiterhin praktisch allein für die Hausarbeit zuständig sind, die sich intensiviert hat, seit die ganze Familie ständig zu Hause ist – die Mütter sind auch zu Lehrerinnen geworden, da der Schulunterricht bis Ende Jahr ausschliesslich virtuell abgehalten wird und die Kinder entsprechend mehr Unterstützung bei den Hausaufgaben brauchen. Dazu kommt die finanzielle Krise, die viele Familien in existenzielle Nöte bringt – Wirtschaftsexpert*innen sprechen davon, dass die peruanische Bevölkerung mittelfristig eine Hungersnot erleiden könnte.
Seit Mitte März ist das Land, mit vorübergehenden Lockerungen, in einer obligatorischen Quarantäne blockiert, die vor allem in den ersten drei Monaten Ausgangssperren mit massiver Polizei- und Militärpräsenz, die Einstellung des öffentlichen Verkehrs und die Schliessung aller Geschäfte, die nicht die Grundversorgung sichern, beinhalteten. Dies hatte gravierende Konsequenzen für grosse Teile der Bevölkerung. 70 Prozent der Peruaner*innen sind im so genannten informellen Sektor tätig, verfügen also über keinen festen Monatslohn, sondern leben von den Tageseinnahmen, zum Beispiel Bus- und Taxifahrer*innen, Handwerker*innen, Textilverkäufer*innen, Friseur*innen und Kosmetiker*innen.
Dagegen arbeiteten alle, die im Gesundheitssektor tätig sind, während der Quarantäne mit erhöhter Intensität weiter, während sie sich einem erhöhten Ansteckungsrisiko aussetzten. Drei Viertel von ihnen sind Frauen. Im mehreren Spitälern von Puno kam es Ende Juli und Anfang August 2020 zu heftigen Protesten des Pflegepersonals, das die Unterstützung seitens der Zentral- sowie der Lokalregierung fordert, da es mit dem verfügbaren Personal und der vorhandenen Ausrüstung nicht möglich sei, die vielen Covid-19-Patienten zu betreuen. Zu Personalengpässen kam es unter anderem auf Grund einer Kündigungswelle, da dem Pflegepersonal trotz Überbelastung nur ein reduzierter Lohn ausbezahlt wurde. Genau wie im Rest des Landes sind praktisch keine Sauerstoffvorräte mehr vorhanden, und nicht einmal das Pflegepersonal verfügt über genügend Schutzbekleidung.
Eine weitere Nebenwirkung der Corona-Krise ist der drastische Anstieg von häuslicher Gewalt. «Für viele sind diese Zeiten mit Angst und Sorgen erfüllt», sagt Maritza Mendoza, die sich als Anwältin in der Frauenorganisation «Movimiento Manuela Ramons» in Südperu engagiert und während der Pandemie viele Gewaltopfer betreut hat. Eine Frau aus Azángaro sagte kürzlich zu mir: «Mein Mann arbeitete früher oft anderswo, und jedes Mal wenn er wegging, war ich die glücklichste Frau der Welt. Doch jetzt ist er die ganze Zeit zu Hause, und ich lebe in ständiger Angst, dass er mich schlagen oder mir sonst wehtun könnte.»
Bei der peruanischen Telefon-Hotline «Línea 100», wo Opfer von häuslicher Gewalt Hilfe bekommen, gingen in den ersten drei Quarantäne-Monaten mehr als 39'000 Anrufe ein – 40 Prozent mehr als in der selben Periode im Vorjahr, und zwischen dem 16. März und dem 30. Mai wurden mehr als 7000 Personen wegen Gewalt gegen Frauen oder Familienangehörige festgenommen. Doch man muss davon ausgehen, dass die Dunkelziffer um ein x-faches höher liegt, weil nur ein kleiner Teil der Fälle überhaupt angezeigt wird. Dies hat einerseits damit zu tun, dass während der Quarantäne der öffentliche Verkehr komplett eingestellt wurde und es vor allem in ländlichen Gebieten praktisch unmöglich war, überhaupt zu einer Polizeistation zu gelangen – anderseits aber auch mit den schlechten Erfahrungen, die viele Frauen mit den Behörden gemacht haben. Maritza Mendoza erzählt vom Fall einer Frau aus einer indigenen Gemeinde, die einen stundenlangen Fussmarsch auf sich genommen hat, um ihren Mann anzuzeigen. «Der diensthabende Polizist meinte nur, es handle sich nicht um einen drastischen Fall, und es wäre besser, sie würde sich mit ihrem Mann aussprechen.» Ähnliche Geschichten erzählten auch die Frauen der Aymara-Frauenorganisation OMABASI anlässlich des Internationalen Frauentages im März 2020 in Desaguadero, einem kleinen peruanischen Städtchen an der Grenze zu Bolivien. «Gerade indigene Frauen werden von den Behörden oft diskriminiert», beklagte Vereinspräsidentin Edith Calisaya. «Wenn wir zur Polizei gehen, um eine Anzeige zu machen, werden wir nicht angehört, und man sagt uns, wir sollen besser still sein.»
Das Thema Gender und Gleichstellung ist also in Peru, genauso wie auch in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern, höchst aktuell. Damit EZA-Projekte in diesem Bereich Sinn machen und Wirkung erzeugen, ist es jedoch unerlässlich, sich auf die Dynamik und Energie der lokalen Frauenbewegungen einzulassen, statt mit von aussen aufgesetzten Konzepten und Denkmodellen zu arbeiten.
Ausschnitte dieses Textes sind im Oktober 2019 in der Zeitschrift «Neue Wege», im Mai 2020 auf der Website des Institutes für Studien der andinen Kulturen (IDECA Peru) und im Juni 2020 auf dem Onlineportal «Informationsstelle Peru e.V.» erschienen.