Von Maja Hess, Sanja Previsic, Lis Flüglister und Ursula Hauser
In Kriegs- und Nachkriegssituationen kommt der kollektiven Aufarbeitung von Gewalterfahrungen eine ganz besondere Bedeutung zu. Die politische, soziale, psychologische und juristische Bewältigung der traumatischen Ereignisse bildet für die Gewaltopfer und die ganze Gemeinschaft eine wichtige Voraussetzung für eine langfristig erfolgreiche Konfliktbewältigung. medico international schweiz arbeitet seit vielen Jahren in Kriegs- und Nachkriegsregionen.
Straffreiheit bedeutet, dass Mörder, Folterer und andere Kriminelle, die meistens im Auftrag des Staates, des Militärs oder einer Diktatur gehandelt haben, unbehelligt in Freiheit leben und damit rechnen können, für ihre Gräueltaten nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. Für die Hinterbliebenen und für jene, die den Aggressoren direkt ausgeliefert waren, beinhaltet diese Tatsache eine enorme zusätzliche psychische Belastung. Ein Gewaltbetroffener aus El Salvador formuliert es eindrücklich: “Straflosigkeit heisst für uns, dass jene, die uns gestern umbrachten, uns auch heute noch töten.“
Oft wird von politischer Seite her gefordert, man solle endlich einen Schlussstrich unter die Gewaltakte ziehen, die Vergangenheit «ruhen» lassen und in die Zukunft blicken. Von der Psychoanalyse her ist aber bekannt, dass dies heisst, die Konflikte und wahren Begebenheiten zu verdrängen, bis sie in irgendeiner Form wieder auftauchen. Dies gilt im individuellen Leben genauso wie im sozialen Bereich der Gesellschaft. Wer nicht trauern kann und seiner Geschichte beraubt ist, wer die Gründe des «Unbehagens in der Kultur» nicht kennt oder nichts darüber wissen will, ist kein starkes Glied im sozialen und politischen Gefüge einer Gemeinschaft. Doch gerade eine Gesellschaft, deren soziales Netz aufgrund von Krieg und Terror gerissen ist, braucht dringend authentische Persönlichkeiten mit integrierenden Fähigkeiten, die den Mut haben, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, und dadurch eine neue kollektive Identität schaffen und stärken.
Wo Traumatisierungen existieren, ist das Beziehungsnetz zerstört und das Vertrauen in andere zerbrochen. Wenn zudem das Recht auf Wahrheit verwehrt wird, dann krankt die ganze Gesellschaft an Amnesie und Identitätsverlust und kann kaum ein bewusstes menschliches und soziales Leben konstruieren. Im Gegenteil, die latente Gewalt und die Aggressionen mehren sich und es werden Kanäle zu deren Entladung gesucht.
Das Schreckliche kann nur überwunden werden, indem es immer wieder ausgesprochen wird, ans Licht kommt, in Worte, Bilder, Verständliches gefasst wird. Täter müssen mit Namen und Funktion in der Gesellschaft benannt werden. Opfer müssen ihre Geschichte erzählen dürfen und offene Ohren finden. Immer wieder. Es ist nicht mit einmal getan und dann «Schwamm drüber». Es braucht eine Bewältigung der traumatischen Ereignisse, dies ist ein langwieriger und höchst komplizierter Prozess, der in der Verantwortung von PolitikerInnen, wichtigen Persönlichkeiten, Organisationen etc. und natürlich auch der TäterInnen liegt. Es ist eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft, aber es braucht dazu ProtagonistInnen.
Die Geschichte zeigt, dass es oft viele Jahre braucht, bis eine Gesellschaft zu einem solchen Prozess bereit ist. Dem Schrecken in die Augen zu sehen, erzeugt oft neue Schrecken. Manchmal braucht es Distanz in Form von Zeit. Und gleichzeitig ist es ein Wettlauf gegen die Zeit, denn die Opfer von damals sind alt geworden oder früh gestorben, weil sie das Leben nicht mehr ertragen konnten, und sind als ZeugInnen nicht mehr da. Das macht den Prozess schwierig.
Es kann kein Vergessen geben, das ist schlicht unmöglich. Wenn ein Individuum, das schreckliche Gewalt erlebt hat und daran krank geworden oder zerbrochen ist, diese Gewalt bis zum eigenen Tod nicht vergessen kann, wie soll dies in einer Gesellschaft funktionieren, die ein Gewebe aus vielen Individuen mit ihren Beziehungen zueinander ist?
Wirkliches Voranschreiten kann es ohne diese Erinnerungsarbeit nicht geben. Natürlich soll es neben dem Erinnern auch zukunftsgerichtete Perspektiven geben, neue Ideen, Geschichten, Aktionen, Prozesse etc. Es geht ja auch nicht darum, in Trauer und Wehklagen zu verharren. Es geht um Klarheit und Transparenz, um das Benennen einer möglichen Form von Wahrheit, um die Aufdeckung der realen Geschichte, auch um Wiedergutmachung. Die Anerkennung des angetanen Unrechts ist ein erster wichtiger Schritt, die Übernahme der Verantwortung ein weiterer.
Mit dem Ziel, das soziale Netz einer Gesellschaft im und nach Kriegen zu stärken, setzt sich medico international schweiz in ihrer Arbeit in Kriegs- und Nachkriegsregionen gegen die Pathologisierung von traumatisierten Personen ein. Selbstverständlich heisst dies nicht, dass die traumatischen Spuren nach grässlichen Erlebnissen im Krieg beim betroffenen Individuum nicht anerkannt werden. Im Gegenteil, durch ein therapeutisch begleitetes, vorsichtiges Beleuchten der traumatischen Erlebnissen aus dem in Schweigen und Scham verhüllten Dunkeln einer Person, wird das Erlebte in den politischen Zusammenhang gebracht und in diesem Kontext bearbeitet. Somit kann das Trauma in einen kollektiven Verarbeitungsprozess integriert und als Teil eines grösseren Rahmens in die individuelle und gemeinschaftliche Lebensgeschichte integriert werden.
Die psychoanalytische Therapie wird auf Englisch «talking cure» (Erzähl-Kur) genannt. Nach einer individuell angepassten Phase der psychischen Stabilisierung und einer sorgfältigen therapeutischen Annäherung sind «erinnern, wiederholen und durcharbeiten», wichtige Eckpunkte in der psychoanalytischen Arbeit. Worte suchen und ausdrücken, mit der andern Person ins Gespräch und dadurch in eine Beziehung kommen, ist das Ziel. Durch das Aussprechen werden die Erinnerungen wieder lebendig. Sie werden so lange durchgearbeitet, bis die dazugehörenden starken Gefühle von Schmerz, Wut und Trauer in die Psyche des Individuums integriert sind.
In Konflikt- und Nachkonfliktgesellschaften ist das Psychodrama eine gute Methode, mit traumatisierten Menschen zu arbeiten. Hier spielt neben der Sprache zudem der Körperausdruck, die Mimik, und vor allem die Gruppendynamik eine grosse Rolle. Allerdings brauchen viele Betroffene zuerst oder bestenfalls zusätzlich die Intimität der individuellen Therapie, bevor sie sich im Rahmen einer Gruppe öffnen können.
In der Psychodrama-Arbeit wird mit Gruppen von 10-20 Personen gearbeitet. Die TeilnehmerInnen bestimmen das Thema selber, das sie bearbeiten wollen. EinE ProtagonistIn beginnt mit Hilfe der Therapeutin, das gewählte Thema im Stegreiftheater darzustellen. Die Gruppenmitglieder werden in die verschiedenen Rollen miteinbezogen und übernehmen dadurch eine wichtige therapeutische Funktion. Die Situation wird somit im Kollektiv bearbeitet, es entsteht eine Dynamik, die verschiedene Erlebniswelten miteinschliesst und die Situation in einen grösseren Kontext stellt. In diesem Prozess tauchen oft viele «vergessene» oder «verdrängte» Erlebnisse auf, die im Verlauf des Verarbeitungsprozesses in die individuelle und kollektive Geschichte eingeordnet werden können.
Der Weg von der erlebten Ohnmacht, der Erniedrigung und dem Ausgeliefertsein in der traumatischen Situation zur bewussten Verarbeitung ist auch in der Gruppenarbeit ein langwieriger und schmerzhafter Prozess. Es ist immer wieder sehr eindrücklich zu erleben, welch starke Widerstände überwunden werden müssen, um mit Hilfe des Körperausducks und mit der Unterstützung der Gruppe endlich zur Sprache zu finden, die traumatischen Erlebnisse auszudrücken.
Seit zwei Jahren unterstützt medico international schweiz die Kampagne «Salud zapatista» im mexikanischen Bundesstaat Chiapas. Der lange anhaltende «Krieg niederer Intensität», den die Regierung gegen die aufständischen Zapatisten im Südosten Mexikos führt, hinterlässt bei der betroffenen Bevölkerung zunehmend auch psychische Wunden: Angstzustände, Erschöpfung, Spaltung von Gemeinden und Familien sind die Folge. medico unterstützte daher im vergangenen Jahr die lokale Durchführung von fünf mehrtägigen Weiterbildungskursen zum Thema «psychische Gesundheit». Im November 2007 konnte unter der Leitung von Ursula Hauser und Sanja Previsic im Rahmen dieser Weiterbildung ein Psychodrama-Workshop angeboten werden. Der Kurs hatte zum Ziel, die Gesundheitsverantwortlichen Frauen und Männer aus den Gemeinden (promotores de salud mental) zu stärken und ihnen Raum zu geben, die eigenen Belastungen und Traumatisierungen zur Sprache zu bringen.
Ein Kernstück der Arbeit mit Einzelpersonen und Gruppen in den Gemeinden ist es, die psychologischen Strategien des Krieges niederer Intensität offenzulegen und ihre Auswirkungen auf die Psyche zu erklären. So zeigte ein Teilnehmer anhand seines Protagonismus im Psychodrama, wie er in einer Gemeinde gearbeitet hatte. In dieser Region grassierten Gerüchte, dass die ZapatistInnen aus dem Dorf vertrieben würden und die Leute wurden durch ihre Angst gelähmt. In getrennten Gruppen von Männern, Frauen und Kindern arbeiteten sie das Thema auf, wodurch die Angst fassbar und die Organisation und Mobilisierung wieder möglich wurde. Im gleichen Psychodrama entwickelte sich ein Kampf gegen die Straflosigkeit und Repression. Darin wurde auch der eigenen Betroffenheit durch Bedrohung, Vertreibung und Vergewaltigungen im nächsten Umfeld Ausdruck verliehen. Auch die Männer, die gelernt hatten, nie vor anderen zu weinen, konnten ihren Schmerz zum Ausdruck bringen und gegenseitige Unterstützung erfahren.
Die aktuelle Entwicklung in Chiapas zeigt leider, dass die Bedrohungen und Vertreibungen durch die Paramilitärs wieder zunehmen. Solidarität ist in diesem Moment besonders wichtig. Durch den Psychodrama-Kurs konnte die Gruppe in ihrem Zusammenhalt und der eigenen Motivation gestärkt werden, und die TeilnehmerInnen setzten neue psychische Energien für ihre Widerstandsarbeit frei.
Gegen Straflosigkeit und die Pathologisierung von Traumatisierungen zu kämpfen, ist eine dringende Notwendigkeit in (Nach-)Kriegsgesellschaften. Es geht darum, die Geschichte zu verstehen, damit die eigene Identität gesucht und das individuelle Schicksal aufgearbeitet werden kann. Erst dann ist der «soziale Boden» bereitet für eine Gesellschaft, in der ein bewusster Umgang mit der Geschichte Teil der alltäglichen Realität darstellt und das Bewusstsein wächst, dass tot-schweigen und verdrängen keine Lösungen, sondern mögliche Ursachen von mehr Gewalt und neuen Verbrechen sind.
Es ist eine grosse und schwierige Aufgabe, die wahre Geschichte zu suchen und dabei die schrecklichen und schmerzhaften, die schamvollen und erniedrigenden Erfahrungen anzusehen, und als Teil der eigenen kollektiven Identität zu akzeptieren und zu integrieren. Doch sie ist zweifellos von grosser Bedeutung für die Zukunft der Gesellschaft.
*Ursula Hauser ist Psychoanalytikerin und Psychodramatikerin. Für medico leitet sie zusammen mit Maja Hess die Psychodrama-Ausbildung für das Team des GCMHP (Gaza community Mental Health Programme) in Gaza. Ausserdem arbeitet sie für medico seit vielen Jahren in El Salvador, v.a. mit der Frauenorganisation M.A.M. (Melida Anaya Montes), ebenfalls als Psychodrama Ausbildnerin.
*Maja Hess ist Ärztin und Präsidentin von medico international schweiz, Projektverantwortliche für El Salvador und gemeinsam mit Ursula Hauser in Gaza tätig.
*Sanja Previsic ist Psychologin und Projektverantwortliche für Mexiko bei medico international schweiz. Im November 2007 leitete sie zusammen mit Ursula Hauser den Psychodrama-Workshop in Chiapas.
*Lis Füglister ist Ethnologin und Mediatorin. Sie arbeitet als Kommunikationsverantwortliche auf der Geschäftsstelle von medico international schweiz.