Von Katrin Haltmeier
Die Aufarbeitung der Gewalt der 90er Jahre wird in Algerien per Gesetz verhindert. Dies akzentuiert die traumatischen Prozesse in den Familien der Opfer und führt zu neuer Gewalt. Die Association pour l’Aide Psychologique, la Recherche et la Formation (SARP) bietet psychologische, soziale und juristische Unterstützung für die Opfer von Gewalt und ihre Angehörigen. Dadurch setzt sie auch ein politisches Zeichen: Physisch und psychisch Geschädigte brauchen ein Recht auf Anerkennung, Hilfe und Entschädigung. Die feministische Friedensorganisation cfd unterstützt die Arbeit der SARP seit 2005.
In den 90er Jahren herrschte in Algerien ein blutiger Krieg zwischen Islamisten und der Staatsgewalt. Es gab zwischen 100'000 und 200’000 Tote und rund 20'000 Personen sind verschwunden. Die Zahl der vergewaltigten Frauen ist tabu. Immens viele Menschen haben Massaker miterlebt, wurden verletzt und lebten unter der ständigen Bedrohung von Angriffen.
1997 nahmen mit Ausnahme der Islamischen Rettungsfront (FIS) alle Parteien an den Wahlen teil und traten ihre Ämter an. Kurz darauf erklärte der bewaffnete Arm der FIS den bewaffneten Kampf offiziell für beendet. 1999 wurde Abdelaziz Bouteflika Präsident. Sein Lösungsansatz für den Umgang mit der Vergangenheit heisst „nationale Versöhnung“. Die entsprechenden Gesetze erlauben eine pauschale Amnestie sowohl für die bewaffneten Sicherheitskräfte des Staats als auch für Islamisten, die alle gegen internationales Recht und die Menschenrechte verstossen haben. Um bewaffnete Gruppen zur Aufgabe zu bewegen, wurde ihren Angehörigen Straffreiheit versprochen, wenn sie sich innerhalb von sechs Monaten freiwillig den Behörden stellten. Die Gesetze enthalten keine Vorkehrungen, die sicherstellen, dass die für schwere Verbrechen – wie etwa die Ermordung von Zivilpersonen – Verantwortlichen strafrechtlich belangt werden. Beschwerden gegen die Sicherheitskräfte und ihre Mittäter sind nicht zulässig.
Mit dieser Regelung werden gewissermassen auch die Täter zu Opfern gemacht. Verschwundene werden wie die Kriegstoten zu „Opfern der nationalen Tragödie“ erklärt. Ihre Angehörigen haben Anspruch auf Entschädigungszahlungen. Sie haben aber kein Recht darauf, zu erfahren, was mit den Vermissten geschehen ist, wer die Verantwortlichen sind und dass diese bestraft werden. Es ist der Bevölkerung verboten, über die Gewalt zu sprechen und gegen die Amnestiepolitik zu protestieren: Entsprechende Aktivitäten können zu Haft- oder Geldstrafen wegen „Schwächung des Staats“ und wegen „Trübung des internationalen Bilds von Algerien“ führen. Die per Referendum eingeholte hohe Zustimmung des Volkes zu diesen Gesetzen gilt als gefälscht.
Dieser Umgang mit der Erbschaft des bewaffneten Konflikts führt dazu, dass die Instabilität bis heute anhält. Algerien ist in einem dauerhaften Ausnahmezustand. Die Gewalt war nie zu Ende und nimmt wieder zu. Wegen der wirtschaftlichen und sozialen Probleme sowie der Unzufriedenheit mit den Leistungen des politischen Systems sind islamistische Bewegungen erfolgreich. Es wird davon ausgegangen, dass um die 800 bewaffnete Islamisten weiterhin aktiv sind. 2007 haben terroristische Anschläge über 200 Todesopfer gefordert. In der Bevölkerung herrscht eine Atmosphäre der Angst und des Misstrauens.
Die Verleugnung der politischen Gewalt und die Politik der „nationalen Versöhnung“ akzentuieren die traumatischen Prozesse in den Familien der Opfer. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Gewaltopfer und ihre Familien erst dann ihre Trauer verarbeiten und neue Lebensperspektiven entwickeln können, wenn die Wahrheit bekannt und eine öffentliche Verurteilung oder Bestrafung der Verantwortlichen ausgesprochen ist. Besonders im Falle von Verschwundenen ist es essentiell, dass die Angehörigen wissen, was passiert ist und der Tod einer Person nachgewiesen ist. Die fehlende Wahrheit und Gerechtigkeit machen es für die Familie unmöglich, mit der Vergangenheit abzuschliessen.
Durch das von offizieller Seite verordnete Schweigen werden die Opfer der politischen Gewalt und ihre Angehörigen isoliert. Sie haben kein öffentliches Forum, in dem ihr Schmerz anerkannt und in einen politischen Kontext gestellt wird und ein kollektiver Erinnerungs- und Verarbeitungsprozess möglich ist. Die Betroffenen sind sich selbst ausgeliefert, die soziale und politische Isolation verstärkt das psychische Leiden. Die vom Regime gewählte Versöhnungsstrategie genügt in keiner Weise den Forderungen nach Gerechtigkeit und dem Respekt gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen. Die Familienverbände der Verschwundenen und Menschenrechtsorganisationen fordern deshalb eine unabhängige Untersuchungsinstanz und die Einhaltung internationaler Konventionen.
Die Gewalt der 90er Jahre hat die Struktur vieler Familien und die Verteilung der Pflichten und Aufgaben zwischen den Geschlechtern beeinflusst. In vielen Familien wurden Beziehungen und damit die Kommunikation der Familienmitglieder untereinander zerstört. Die Väter, traditionell verantwortlich für den Schutz der Familie, waren gegenüber der organisierten Gewalt machtlos. Viele können bis heute ihre Rolle als Ernährer der Familie nicht wahrnehmen, sind depressiv, körperlich und mental krank. Ihre Frauen müssen das materielle Überleben sichern und die Familie im öffentlichen Raum repräsentieren. Obwohl sie diese oft riesige Last tragen, steigt ihre offizielle Macht nicht. Ist der Mann nicht fähig, über seine Frau zu bestimmen, bekommt der Sohn oder Bruder das Recht dazu. Mütter und Töchter müssen für jede Entscheidung deren Einverständnis haben. Ohne die Erlaubnis und/oder den Schutz eines Mannes ist es ihnen oft nicht einmal möglich, das Haus zu verlassen. Die Männer zeigen trotz ihrer Unfähigkeit, die ihnen zugeschriebenen Pflichten wahrzunehmen, keine Bereitschaft, auf ihre Macht zu verzichten. Die Frauen bleiben ihrer traditionellen Rolle treu und verteidigen damit ihre eigene subalterne Position. Das konservative Klima und die starke Position der Islamisten unterstützen diese Prozesse. Solche Machtstrukturen und Rollenkonflikte, die oft zerstörten Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern und der enorme Druck der ökonomischen Schwierigkeiten steigern das Ausmass der häuslichen Gewalt.
Die Association pour l’Aide Psychologique, la Recherche et la Formation (Verein für psychologische Hilfe, Forschung und Bildung, SARP), ein Fachverband von PsychologInnen, besteht seit 1989. Die SARP hat im vom Terror der 90er Jahre stark betroffenen Sidi Moussa eine Studie durchgeführt und festgestellt, dass posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen und Ängste weit verbreitet sind. In der Folge baute sie dort ein interdisziplinäres Zentrum für psychologische, soziale und juristische Unterstützung (Centre d’aide psychologique CAP) für Opfer des Terrorismus auf. Mit ihren kostenlosen Dienstleistungen setzt die SARP ein Zeichen der Anerkennung des Opferstatus der KlientInnen.
Durch die Arbeit mit Opfern der politischen Gewalt trägt die SARP zu einer Kultur der Aufarbeitung bei. Der Verband, selber einer der demokratischsten Vereine in Algerien, versteht sich als Teil der algerischen Demokratiebewegung. Die SARP vertritt die Meinung, dass physisch und psychisch Geschädigte Recht auf Anerkennung, Hilfe und Entschädigung haben. Allein durch ihre Arbeit und durch die Anerkennung der Tatsache, dass die Gewalt Folgen hat, nimmt die SARP politisch Stellung. Sie verzichtet aber darauf, diese Haltung aktiv nach Aussen zu kommunizieren: In der politischen Situation in Algerien können Organisationen, welche die Haltung der Regierung nicht teilen, in Schwierigkeiten geraten und im schlimmsten Fall zur Beendung ihrer Arbeit gezwungen werden.
Im CAP arbeiten zurzeit nur Frauen. Fast alle Mitarbeiterinnen leben in Alger. Sie sind in Sidi Moussa die einzigen, die keinen Schleier tragen. Sie kleiden sich modisch und manche von ihnen rauchen. Sie leben damit einen Gegensatz zur stark konservativ und immer mehr islamistisch geprägten lokalen Bevölkerung. Durch das Festhalten an ihrem emanzipierten Auftreten, ihrer Offenheit und ihrem Glauben an Demokratie und Gerechtigkeit möchte die SARP den Frauen, Männern und Kindern in Sidi Moussa zeigen, dass es alternative Werte gibt und dass Menschen, die „anders“ sind, menschlich, sympathisch und solidarisch sein können.
Die Umgebung des 25 Kilometer von Alger entfernt gelegenen Sidi Moussa (300'000 EinwohnerInnen) wird "Dreieck des Todes" genannt. In den Nachbarorten Rais und Bentalha fanden 1997 zwei der schlimmsten Massaker statt, bei denen mehrere Hundert Menschen brutal getötet wurden. Zehn Jahre lang lebte die Bevölkerung unter ständiger Bedrohung; Morde, Entführungen und Einschüchterungen gehörten zum Alltag. Die Folgen der Gewalt sind immer noch allgegenwärtig. Viele Menschen beklagen verschwundene und getötete Angehörige und erst wenige wurden entschädigt. Manche Leute müssen sogar in Nachbarschaft mit den Tätern leben. Islamistische Gruppen führen den bewaffneten Kampf weiter, bis heute werden immer wieder Menschen getötet. Das Klima der Gewalt und das Schweigen über das Geschehene und Erlebte führen auch zu neuer Gewalt. So ist in der Schule die Gewaltanwendung von Lehrpersonen gegen Kinder und die Gewalt unter Kindern weit verbreitet. Auch strukturelle Gewalt ist eine Tatsache; soziale und ökonomische Probleme nehmen zu: Junge Erwachsene, die als Kinder während des Konflikts keine Schule besuchen konnten, sind nun ohne Ausbildung und Beruf. Das Problem der Arbeitslosigkeit wird dadurch verschärft, dass während des bewaffneten Konflikts staatliche Fabriken und grosse Teile der Infrastruktur zerstört und nicht wieder aufgebaut wurden. Die Perspektivlosigkeit führt insbesondere bei jungen Männern zu Kriminalität und Drogenkonsum. Durch die Zunahme des Islamismus geraten auch Frauen unter Druck: Ohne Schleier trauen sie sich nicht mehr auf die Strasse.
Zohra N. ist 54 Jahre alt, Analphabetin und Mutter von acht Kindern. Familie N. wurde während des Bürgerkriegs Zeugin eines Massakers in Sidi Moussa. Die Täter behaupteten danach, die Familie hätte Informationen an die Behörden weiter gegeben. Zohra wurde mit dem Tod bedroht. Sie konnte ihren Wohnort nicht verlassen, weil sie nicht wusste, wohin sie gehen sollte. Erst als 1994 ihr Haus zerstört wurde, flüchtete die Familie. Terroristen verfolgten sie und entführten den 18jährigen Sohn. Familie N. zog von einem Ort zum anderen und konnte sich schliesslich im Haus von Verwandten verstecken. Der Vater und ein Sohn traten der Gemeindewache bei, welche gegen die Terroristen kämpfte. Nach einer nächtlichen Patrouille wurde der Körper des Sohnes gefunden, er wies Folterspuren auf. Es wurde ihm vorgeworfen, er sei ein Informant der Terroristen. Der Vater zeigt seither psychotische Symptome, ist in psychiatrischer Behandlung und arbeitsunfähig. Auch der Mutter geht es psychisch schlecht. Sie weigert sich, zu glauben, dass ihr Sohn mit den Terroristen kollaboriert hat. Obwohl der Tod bzw. das Verschwinden der beiden Söhne alle Familienmitglieder beschäftigt und belastet, sind die Kommunikation und die Beziehungen zwischen ihnen stark angespannt und das Klima wird durch Schweigen und Lähmung bestimmt.
Die Hilfe für Gewaltopfer muss im politisch und sozial schwierigen Kontext von Sidi Moussa umfassend angegangen werden. Viele Frauen, Männer und Kinder leiden unter posttraumatischen Symptomen. Ebenso schwierig ist aber für viele Menschen, dass sie arbeitslos sind, ihre Unterkunft und/oder ihr Hab und Gut verloren haben. Das CAP bietet deshalb psychologische, soziale und juristische Unterstützung. Die Arbeit lässt sich in verschiedene Bereiche einteilen:
Therapeutische Hilfe: Opfer politischer, sozialer und häuslicher Gewalt erhalten im CAP therapeutische Hilfe. Einzelpersonen, meist Frauen, werden individuell behandelt. Sie kommen über eine längere Zeit zu regelmässigen Sitzungen. Versuche, mit Frauengruppen zu arbeiten, erwiesen sich als sehr schwierig. Ein starkes Misstrauen unter den Klientinnen verhinderte das Entstehen guter Beziehungen und einer konstruktiven Arbeitsatmosphäre. Zudem war es für die Teilnehmerinnen schwierig, neben dem eigenen Leiden und den eigenen Problemen auch noch diejenigen der anderen auszuhalten. Der Fokus liegt deshalb auf Einzeltherapie.
Soziale und juristische Unterstützung: Es stehen Sozialarbeiterinnen und eine Juristin als Ansprechpersonen für unterschiedliche Probleme zur Verfügung. Häufig wird Unterstützung benötigt, um den Status als Opfer zu erlangen, der zu Entschädigungszahlungen berechtigt. Dafür sind umfangreiche Demarchen bei den Behörden notwendig, welche für die KlientInnen des CAP, die häufig des Lesens und Schreibens nicht mächtig sind, alleine kaum zu bewältigen sind. Die Sozialarbeiterinnen begleiten die KlientInnen zu Behörden. Wo nötig, bietet die Juristin rechtliche Beratung und Begleitung. Die Sozialarbeiterinnen unterstützen Eltern bei Problemen mit Kindern und weisen Personen mit medizinischen Problemen an ÄrztInnen aus dem Netzwerk des CAP weiter. Sie machen auch Hausbesuche. Dabei bekommen sie Einblick in die Lebenssituation und Strukturen der Familie und stossen häufig auf weitere Probleme, zu deren Lösung sie Unterstützung anbieten können. Die so gesammelten Informationen geben den Psychologinnen wertvolle Hinweise für die Therapie.
Kinder und Jugendarbeit: Die Ludothek im CAP bietet einen geschützten Spiel- und Lernraum, in dem Kinder und Jugendliche ihre Kreativität entdecken und entwickeln, im Spiel Gewalterfahrungen aufarbeiten und innerhalb einer Gruppe alternative Strategien der Konfliktbearbeitung lernen und üben können. Die Kinder werden von Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen qualifiziert betreut und gleichzeitig beobachtet. So können sie Kinder, die Auffälligkeiten zeigen, auch einzeln betreuen und allenfalls therapeutisch behandeln. Die Kinder werden meist von ihren Müttern ins CAP gebracht, weil sie Schulschwierigkeiten haben, aggressiv sind oder sonstige Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Häufig zeigt sich, dass die Auffälligkeiten der Kinder eng mit der Fragmentierung der Familie und den Gewalterfahrungen der Eltern zusammen hängen. Wenn immer möglich bezieht das CAP deshalb die Familie in die Behandlung ein.
Weiterbildung: Das CAP bietet auch Weiterbildungen für andere Institutionen, welche mit Kindern arbeiten, wie beispielsweise den PfadfinderInnen oder das lokale Kulturzentrum. Damit helfen sie diesen, ihre Arbeit zu professionalisieren, und tragen zum Aufbau eines breiteren Netzwerkes bei, welches Kindern und Jugendlichen Aktivitäten anbietet.
Lehrgang für Mütter: Als neue Aktivität wird im Jahr 2008 ein Lehrgang für Mütter entwickelt. Während dreier Monate wird in einer Gruppe wöchentlich ein Thema behandelt, das mit der Entwicklung und Erziehung von Kindern zu tun hat. Die Teilnehmerinnen geben danach das Gelernte an ihre Nachbarinnen, Verwandten und Freundinnen weiter und diskutieren es mit diesen. Über politisch unverfängliche Fragen der Kindererziehung können so auch Themen eingebracht und bearbeitet werden, die direkt mit dem schwierigen Kontext zusammenhängen. Das Problem des Bettnässens z.B. ist in Konflikt- und Gewaltsituationen weit verbreitet. Der Lehrgang und die Tätigkeit der Multiplikatorinnen schaffen eine Möglichkeit für Frauen, eine Rolle im halböffentlichen Raum zu übernehmen, Netzwerke aufzubauen und sich untereinander auszutauschen und zu unterstützen.
Sensibilisierungsarbeit: Ein Ziel, das das CAP verstärkt verfolgen will, ist die Sensibilisierung von Jugendlichen für geschlechtsspezifische Gewalt. Dies geschieht mittels eines Filmzyklus und anschliessenden Diskussionen zum Thema. In Veranstaltungen zu Frauen- und Menschenrechten und mit der Organisation von Festen und Ferienlagern für Kinder werden zudem alternative Werte gezeigt.
Wissenschaftliche Arbeit: Die Erfahrungen aus der praktischen Arbeit im CAP werden wissenschaftlich aufgearbeitet und über die Ausbildung von PraktikantInnen im CAP, über Lehre und an Weiterbildungsveranstaltungen an Fachleute weitergegeben.
Das CAP hat Herrn N. wegen seiner schlechten psychischen Gesundheit an spezialisierte ÄrztInnen verwiesen. Die Sozialarbeiterin bemüht sich um eine Rente für ihn. Dafür braucht es Bestätigungen über die frühere Erwerbstätigkeit. Der Betrieb, in dem Herr N. gearbeitet hat, ist ausgebrannt und die Papiere sind deshalb nicht mehr vorhanden. Die Sozialarbeiterin unterstützt auch Zohra bei den aufwendigen Demarchen zur Anerkennung des Opferstatus ihrer beiden Söhne. Dies ist ebenfalls nicht einfach: Die ZeugInnen, deren Berichte notwendig sind, wollen nicht aussagen. Die Hindernisse sind aber nicht nur bürokratischer Art: Die Polizei forderte die Sozialarbeiterin dazu auf, nicht weiter „in dieser Geschichte herumzuschnüffeln“.
Bei der Forderung nach einer Wohnung erhält Familie N. juristische Unterstützung vom CAP. Die Schwestern Louiza und Hanna waren über ein Jahr in psychologischer Behandlung. Als Folge der Gewalt und der Flucht haben die Kinder über längere Zeit keine Schule besucht. Hanna, die jüngste Tochter, konnte mit Unterstützung des CAP eingeschult werden. Sie kommt regelmässig in die Ludothek und nahm zweimal an einem Ferienlager teil. Louiza machte über die Vermittlung des CAP ein Praktikum als Schneiderin und hat eine Weile in einer privaten Werkstatt gearbeitet. Heute ist sie arbeitslos, weil ihre Brüder sie nicht auswärts arbeiten lassen. Die Beziehungen innerhalb der Familie haben sich verbessert. Die Familienmitglieder haben auch begonnen, den Kontakt zu NachbarInnen und zur Familie der Schwägerin zu suchen.
Die Familie N. weist viele Charakteristika auf, die typisch sind für Familien von Gewaltopfern in Sidi Moussa: Der Vater ist krank und unfähig, die Familie zu unterhalten. Die Verantwortung für das Überleben der Familie und für die Einforderung ihrer Rechte liegt bei der Mutter. Trotzdem werden traditionelle Geschlechterrollen aufrechterhalten: Die Brüder verbieten ihrer Schwester, zu arbeiten, obwohl die Familie das Einkommen nötig hätte. Die Kommunikation und die Beziehungen innerhalb der Familie waren lange Zeit charakterisiert durch Schweigen und Vermeidung. Erst mit der umfassenden Unterstützung durch das CAP wurde es Zhora und ihrer Familie möglich, sich um die Durchsetzung ihrer Rechte zu bemühen und wieder etwas Fuss zu fassen.
Die Geschichte der Familie N. zeigt beispielhaft die schwerwiegenden Folgen des Terrorismus für die Bevölkerung. Sie demonstriert aber auch, mit welch schwierigem Kontext die SARP in Sidi Moussa konfrontiert ist und vor welche Hindernisse sie bei ihrer Arbeit gestellt wird.
*Katrin Haltmeier ist Programmbeauftragte Maghreb der feministischen Friedensorganisation cfd. Kontakt: katrin.haltmeier@cfd-ch.org
cfd: Gemeinsam für Empowerment Die feministische Friedensorganisation cfd kooperiert im Maghreb, im Nahen Osten und im Balkan mit lokalen Nichtregierungsorganisationen. Diese setzen sich ein für einen besseren Zugang von Frauen zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Einkommen, kämpfen gegen häusliche und strukturelle Gewalt, engagieren sich für die rechtliche und politische Gleichstellung von Frauen und für offene und gewaltfreie politische Auseinandersetzungen. Im Zentrum der Projektarbeit steht Empowerment als Methode und Ziel. Empowerment wird verstanden als individueller und kollektiver Prozess der Machtgewinnung. Als feministische Friedensorganisation arbeitet der cfd mit einem weiten Friedensbegriff, der alle Formen von Gewalt und Ausschluss berücksichtigt. Der cfd pflegt langjährige Partnerschaften. Die Unterstützung wird flexibel entsprechend den Bedürfnissen der Partnerinnen gestaltet. PC 30-7924-5 |