Von Martin Leschhorn Strebel
Im Januar 2012 lancierte eine breite Koalition von Organisationen aus der Entwicklungszusammenarbeit, von Gewerkschaften und Berufsverbänden ein Manifest, mit dem sie die verschiedenen Akteure im schweizerischen Gesundheitssystem zu einer fairen Rekrutierungspraxis bringen wollen. Das Manifest hat einiges bewegt, doch vieles muss noch getan werden um den WHO-Kodex zur Rekrutierung von Gesundheitspersonal zu stärken.
Somalia (July 2012, © Kate Holt/IRIN)
Der Gesundheitspersonalmangel ist ein Problem, von welchem das schweizerische Gesundheitssystem, die Gesundheitssysteme verschiedener europäischer Staaten wie auch die Gesundheitssysteme in Entwicklungsländern betroffen sind. Es gehört zur Charakteristik des Gesundheitspersonalmangels, dass es sich zwar um ein globales Problem handelt, mit welchem aber letztlich jedes Land selbst zu recht kommen muss. Und weil jedes Land selbst Wege finden muss, um den Mangel zu beheben, tut dies jedes nach eigenen Möglichkeiten und Ressourcen. Letzteres bedeutet, dass diejenigen Länder, die es sich leisten können, ihr fehlendes Gesundheitspersonal jenseits der Grenzen einkaufen.
Manche Länder greifen dabei auf ihre traditionellen Beziehungen zu ihren ehemaligen Kolonien zurück, andere, wie etwa die Schweiz, ziehen durch attraktive Arbeitsbedingungen, KrankenpflegerInnen und ÄrztInnen aus dem benachbarten Ausland an. Im Zeitalter der Globalisierung und einer deregulierten Wirtschaftswelt sah man darin lange Zeit nichts Schlechtes. Nein, es sei geradezu normal, wie uns ein hoher Mitarbeiter des Bundesamtes für Gesundheit 2009 an einer Veranstaltung des Netzwerks Medicus Mundi Schweiz erklärte: „Japan produziert Autos für den Weltmarkt. Finnland produziert Nokias für den Weltmarkt. Die Schweiz produziert Medikamente für den Weltmarkt. Was ist denn falsch daran, wenn die Philippinen Krankenschwestern für den Weltmarkt produzieren?“
Nun hat sich seither die Erde ein wenig gedreht: Finnland produziert nicht mehr ganz so erfolgreich Nokias und die Weltgesundheitsversammlung hat gemerkt, dass es nicht angeht, wenn reiche Länder ihren Mangel an Gesundheitspersonal auf Kosten der ärmsten Ländern beheben. Denn was sich bei uns angesichts des demografischen Wandels immer mehr als ernstzunehmendes Problem für unsere Gesundheitsversorgung abzeichnet, ist in den Ländern des Südens bereits eine alltägliche Katastrophe für die Menschen. Ausgerechnet jene Länder, welche global die grösste Krankheitslast zu schultern haben, leiden unter einem in der WHO-Diktion genannten „kritischen Mangel.“ Dies bedeutet, dass sie mit weniger als 2,3 Gesundheitsfachkräften pro 1'000 EinwohnerInnen auskommen müssen. Die Verteilung des Pflegepersonals über den Globus illustriert die Karte von Worldmapper eindrücklich:
Weltweite Verteilung des Pflegepersonals
Der durch die Weltgesundheitsversammlung im Mai 2010 verabschiedete, ethische WHO Kodex zur Rekrutierung von Gesundheitspersonal ist ein adäquater, pragmatischer Ansatz, um international mehr Verantwortung einzufordern.
Die Schweiz hat sich bis zur Verabschiedung des Kodexes ziemlich bewegt: In den Gesprächen, welche das Netzwerk Medicus Mundi Schweiz (MMS) mit den Verantwortlichen verschiedener involvierter Bundesämter führten, konnten wir ein steigendes Verständnis für die globale Perspektive des Problems feststellen.
Da es sich jedoch beim Kodex primär um ein nicht-bindendes, freiwilliges Regelwerk handelt, lebt es im Wesentlichen von seiner Umsetzung. Der Kodex ist so stark, wie ihn die Zivilgesellschaft macht. Nur wenn er den politischen EntscheidungsträgerInnen beim Bund und in den 26 verschiedenen Gesundheitssysteme in der Schweiz und nur wenn er den für die Anstellung von Personal verantwortlichen ArbeitgeberInnen in den verschiedensten Gesundheitseinrichtung als zentrales Referenzwerk akzeptiert wird, wird der Kodex sein notwendige Wirkung entfalten.
Aus diesem Grund haben sich nach der Verabschiedung des Kodexes durch die Weltgesundheitsversammlung das Netzwerk Medicus Mundi Schweiz (MMS) und der Schweizerische Berufsverband der Pflegefachleute (SBK) zusammengetan um zu diskutieren, wie dem Kodex auch in der Schweiz Nachachtung verschafft werden kann. Die beiden Organisationen einigten sich darauf, eine breite Koalition zu schmieden, die mit einem gemeinsamen Positionspapier, einem Manifest an die Öffentlichkeit gelangten.
Das Bestechende an der Koalition war, dass sich zwei Gruppen zusammen gefunden haben, welche bislang wenig Notiz voneinander genommen haben. Auf der einen Seite sassen wir VertreterInnen der internationalen Gesundheitszusammenarbeit, und auf der anderen Seite Berufsverbände und Gewerkschaften, die sich sonst hauptsächlich mit dem schweizerischen Gesundheitssystem auseinandersetzen.
Das gemeinsame Manifest mit dem Titel „Den Gesundheitspersonalmangel nicht auf den Schultern der Ärmsten lösen“ verfassten wir aus einer Perspektive, die sich der gemeinsamen, globalen Verantwortung gegenüber dem Recht auf Gesundheit und gegenüber denjenigen Menschen verpflichtet sah, welche sich tagtäglich für dieses Recht engagierten – dem Gesundheitspersonal,. Aus dieser Verantwortung heraus stützt das Manifest den WHO-Kodex als sinnvollen Rahmen und fordert ihn als Referenz für die schweizerische Gesundheits- und Ausbildungspolitik ein.
Das Manifest analysiert die Probleme des globalen Gesundheitspersonalmangels, beschreibt die Versäumnisse der Schweiz und deren Verantwortung mehr dafür zu tun, dass etwa Pflegefachleute länger als nur die durchschnittlichen 10 bis 15 Jahre auf dem Beruf bleiben oder dass mehr Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz ausgebildet werden.
Das Manifest fordert, dass der Gesundheitspersonalmangel über besser Steuerung, Planung und Ausbildung angegangen werden muss. Es hält fest, dass die Rechte des ausländischen Gesundheitspersonals in der Schweiz gesichert werden müssen und erwartet von der Schweiz, dass es seine globale Verantwortung wahrnimmt. Es mündet in konkrete Forderungen, wie das Manifest umgesetzt werden soll.
Im Januar 2012 präsentierte die Koalition das Manifest im Rahmen einer Medienkonferenz der Öffentlichkeit – und stiess auf grosses Interesse: "Mehr Selbstversorgung mit Gesundheitspersonal" (Neue Zürcher Zeitung), "Ausbildung Schweizer Pflegepersonal verstärken" (SF, Schweizer Fernsehen) oder "Hilfe, uns gehen die Krankenschwestern aus!"(Blick), hiess es landauf und landab. Schweizer Medien haben rund fünfzig Artikel zum Manifest veröffentlicht.
Die schweizerische Öffentlichkeit ist bereits für die Thematik des Gesundheitspersonalmangels in der Schweiz seit einiger Zeit sensibilisiert. Immer wieder thematisierten in den vergangenen Jahren die Medien, die Präsenz von ausländischem Gesundheitspersonal – insbesondere den deutschen Ärztinnen und Ärzten. Mit dem Manifest entstand nun aus Mediensicht die Möglichkeit, den Gesundheitspersonalmangel stärker in einen globalen Kontext zu rücken und die Folgen der Rekrutierung in Entwicklungsländern zu problematisieren. Die geplante Erweiterung eines bestehenden Stagiaireabkommens mit den Philippinen auf das Gesundheitspersonal bekam nun für die Medien eine diskutablere Note (vgl. zu diesem Thema den Brennpunkt in diesem Bulletin). Die Breite und Vielfalt der Koalition, die sich mit dem Manifest für eine faire Rekrutierungspolitik engagiert haben, war ebenfalls ein wesentlicher Faktor für die öffentliche Wirksamkeit des Manifests.
Die öffentliche Resonanz des Manifests ist für die politische Arbeit in Zusammenhang mit dem Gesundheitspersonalmangel wichtig. Und einiges ist denn auch seitens des Innendepartementes in Bewegung. Zusammen mit den Kantonen besteht etwa der feste Wille, die Anzahl der Ausbildungsplätze für MedizinstudentInnen von 800 auf 1'100 zu erhöhen. Bundesrat Alain Berset brachte dies am 1. Oktober 2012 in einer Rede vor der Indischen Stiftung für Public Health in direkten Zusammenhang mit dem globalen Gesundheitspersonalmangel. Mehr noch: Er gestand ein, dass die Schweiz bislang ihrer Verantwortung zu wenig gerecht geworden sei:
„Switzerland sometimes took critical positions during the negotiation of the WHO Global Code of Practice on the International Recruitment of Health Personnel. The reason for this was not that we ignored the problem. Our position was linked to a specific situation in Switzerland. We are highly dependent on foreign health professionals mostly from neighbouring countries such as Germany. Studies showed that Germany recruits in Poland and Poland in Ukraine, where there is a shortage of doctors. Hence, Switzerland is not directly, but indirectly through a domino-effect contributing to the shortage of health professionals in countries with lower wages. The recognition of this phenomenon was an important factor leading to the decision to increase the number of training places for doctors from 800 to 1100.” (http://www.admin.ch/aktuell/00089/index.html?lang=de&msg-id;=46184)
Die offizielle Schweiz hat sich also in dieser Frage begonnen zu bewegen. Nur ist es nicht sie, welche schliesslich über eine faire, dem WHO-Kodex entsprechende Anstellungspolitik entscheidet. Innerhalb der schweizerischen Gesundheitsversorgung gibt es eine Vielzahl von Akteurinnen und Akteuren: Es gibt 26 Kantone und viele Gemeinden mit eigenen Spitälern und Pflegeheimen, es gibt aber auch private Gesundheitsdienstleister, die ebenfalls auf dem Arbeitsmarkt präsent sind. Das BAG hat zu verschiedenen, den WHO-Kodex betreffenden Sitzungen auch die Arbeitgeberseite, wie den Spital- oder Heimverband eingeladen. Erschienen sind sie nie.
Bei allem Erfolg, den die Koalition mit dem Manifest in Öffentlichkeit erreichen konnte, bleibt es unausweichlich, dass wir mit dem Thema präsent bleiben. Der WHO-Kodex muss umgesetzt werden und er muss von allen im Gesundheitswesen tätigen Institutionen als zentrales Referenzwerk anerkannt werden.
*Martin Leschhorn Strebel ist Mitglied der Geschäftsleitung des Netzwerks Medicus Mundi Schweiz und Mitinitiant des Manifestes „Den Gesundheitspersonalmangel nicht auf den Schultern der Ärmsten lösen.“ Kontakt: mleschhorn@medicusmundi.ch