Beispiel Langzeitpflege

Sparen auf wessen Kosten?

Von Mascha Madörin

Osteuropäisches Gesundheitspersonal, das für drei Monate und geringem Lohn in privaten Haushalten die Pflege älterer Menschen sicherstellt, wird in jüngster Zeit immer wieder in der Öffentlichkeit thematisiert. Dahinter steht die ökonomische Logik unseres Sozialversicherungssystems.

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Pflegekräfte gegen Kürzungen, Berlin, 3. September 2012 (flickr/Frank Essers)

Schon seit Jahrzehnten problematisieren entwicklungspolitische Organisationen immer wieder den einseitigen „Brain drain“ von ökonomisch armen zu reichen Ländern. Damit wird der Missstand bezeichnet, dass ausgebildete Berufsleute und AkademikerInnen, die in wirtschaftlich armen Ländern ausgebildet worden sind, nachher in ökonomisch weit entwickelten Ländern arbeiten, welche sich damit Ausbildungskosten sparen können. Was ist der Unterschied zwischen dem im Gesundheitsmanifest thematisierten „Care drain“ und „Brain drain“, ausser dass es sich dabei um eine neuere Entwicklung des „Brain drain“ handelt? Beim „Care drain“ kommt hinzu, dass medizinische Behandlung, Pflege und Betreuung von Kranken etwas Elementares ist, dass nämlich Gesundheitsversorgung zu den Grundbedürfnissen aller Menschen gehört und deshalb in allen Ländern gewährleistet sein muss. Es geht hier um Menschenrechte. Kommt im Fall von Pflegeberufen hinzu, dass es vor allem Frauen sind, die emigrieren. Es geht den wirtschaftlich wenig entwickelten Ländern nicht nur Ausbildungskosten und Pflegepersonal verloren, sondern Mütter, Töchter und Schwestern, welche überall auf der Welt letztlich auch für die unbezahlte Care Arbeit zuständig sind. Das Beispiel Langzeitpflege soll diesen letzteren Aspekt illustrieren.

Eine meiner Tanten war unverheiratet, ihre Mutter (anfangs 1940er Jahre) einen Schlaganfall erlitt und noch fünf Jahre lebte. Zusammen mit einer Schwägerin, einer Mutter mit kleinen Kindern, pflegte sie ihre Eltern zu Hause bis sie starben. Sie hatte danach, wie man damals sagte, einen „Nervenzusammenbruch“ und erholte sich zeitlebens nicht mehr davon. Sie war nie mehr voll erwerbsarbeitsfähig und musste bis ins hohe Alter mit wenig Geld Zugang kommen.

Schlechte Absicherung für Langzeitpflege

Zum Glück, so denkt man, gibt es inzwischen eine obligatorische Kranken- und Pflegeversicherung. Wie internationale Vergleiche zeigen, gewährleistet sie in der Schweiz einen guten Zugang der Wohnbevölkerung zu einem hohen Standard an medizinischer Versorgung. Aber nach wie vor deckt die Kranken- und Pflegeversicherung die Kosten der Langzeitpflege schlecht ab: 61 Prozent der finanziellen Kosten der Langzeitpflege müssen Private selbst tragen, in Frankreich sind es 1 Prozent, in Österreich 18 Prozent und in Deutschland 29 Prozent (NZZ 26.10.2011). Rechnet man die unbezahlte Hauspflegearbeit von Angehörigen und FreundInnen als Teil der Gesundheitskosten mit ein, dann tragen die Haushalte nach meinen eigenen (groben) Schätzungen (für 2007) rund drei Viertel aller Kosten der Pflegeheime und Hauspflege selbst.

Der Wert der unbezahlten Care-Arbeit zu Hause – Freiwilligenarbeit in Alters- und Pflegeheimen nicht eingerechnet – liegt, so meine vorsichtige Schätzung, mindestens in der Grössenordnung der staatlichen Ausgaben für die Landwirtschaft und Ernährung. Ungefähr 70% dieser Arbeiten werden von Frauen verrichtet, vor allem von Frauen im Alter von über 50 Jahren.

Die Alternativen zur unbezahlten Pflege- und Betreuungsarbeit, nämlich Pflegeheime oder die Hauspflege durch Spitex, sind teuer, auch für Haushalte mit mittleren Einkommen, nicht weil die Löhne besonders hoch wären, sondern weil der Arbeitsaufwand im Durchschnitt gross ist. Langzeitpflege bedeutet deshalb für die betroffenen Angehörigen auf die Dauer entweder hohe Arbeitsbelastung und Präsenzzeit oder hohe finanzielle Aufwendungen – oder manchmal beides. Bis jetzt war es so, dass in solchen Situationen vorwiegend Frauen – Partnerinnen, (Schwieger)töchter, Mütter, Schwestern etc. – mit viel unbezahlter Arbeit einspringen mussten.

Einfallstor für schlecht bezahlte Migrantinnen

Die manchmal sehr schwierigen Situationen, welche finanzielle und zeitliche Engpässe mit sich bringen, werden heute zunehmend zum Einfallstor für einen Markt schlecht bezahlter und prekarisierter Care Arbeit von Migrantinnen. Diese werden von privaten Homecare-Unternehmen vermittelt oder kommen via persönliche Kontakte in die Schweiz und haben, wenn sie aus osteuropäischen Ländern kommen, oft nur Dreimonatsverträge. Oder sie leben als Sans Papiers teilweise sogar in den Haushalten der Kranken. Allen ist gemeinsam, dass die Löhne trotz anspruchsvoller Arbeit sehr tief sind und die ebenfalls nicht üppigen Hauspflegelöhne der Spitex weit unterbieten. Aber sie sind – wenigstens für Mittelklasse-Haushalte – einigermassen bezahlbar. Parallel dazu wächst, wegen des problematischen Versicherungsregimes in Sachen Pflege, sowohl der Kostendruck bei der Spitex als auch in Pflegeheimen. Die realitätsfremden Tarifregelungen, die Unterscheidung zwischen medizinischer Pflege, Grundpflege und dem nicht versicherten grossen Rest führen zu sinnlosen und dysfunktionalen Arbeitsabläufen, zu Zeitknappheit und Stress. Auch das ist ein Grund für den aktuen Personalmangel in diesen Institutionen und ihrer zunehmenden Abhängigkeit von Care-Immigration. Es ist auch ein Grund für die Zunahme von Angestellten ohne genügende Berufsausbildung. Damit lassen sich nicht nur Ausbildungs- sondern auch Lohnkosten sparen.

Die bisherigen Regelungen der obligatorischen Krankenversicherung bewirken, dass die Finanzierung adäquater Löhne nicht gesichert ist und damit auch die berufliche Ausbildung von Pflege- und Betreuungspersonal für die Pflegeheime und ambulante Pflege vernachlässigt worden ist. Das war schon immer so, wird aber jetzt zu einem wachsenden Problem, weil die Babyboom-Generation in die Jahre, respektive ins Sterbealter kommt und damit in Zukunft der Bedarf an Pflege und Betreuung in der Schweiz steigt. Dazu kommt die Tendenz, Spitalpflege in den ambulanten Sektor zu verschieben. In Wirklichkeit heisst das unter heutigen Bedingungen, dass die im Spital bezahlte Pflege- und Versorgungsarbeit zu einem grossen Teil auf unbezahlte Arbeit abgeschoben wird. Wenn Frauen die unbezahlte Pflegearbeit nicht mehr unbezahlt tun können oder wollen, dann werden sie eben von immigrierten Frauen zu prekären Arbeitsbedingungen übernommen, so lautet heute die unerbittliche ökonomische Logik des gegenwärtigen Kranken-Versicherungsregimes in der Schweiz.

Kurzum: Ob es sich um meine Tante handelte, oder heute um eine 70-Jährige, welche in ihrem Haushalt mit krankem Partner 60 Stunden pro Woche arbeiten muss, um das stressige Minute-Management einer Spitexangestellten oder einer Pflegefachperson in einem Pflegeheim oder um eine Home-Care Angestellte mit geringer Entschädigung und prekären Arbeitsbedingungen, welche das Einkommen für die Ausbildung ihrer Kinder zu Hause braucht: Es ist ungerecht, es ist menschenunwürdig und widerspricht elementaren Menschenrechten und ethischen Prinzipien, wie sie im WHO Code beschrieben werden. Das muss sich ändern.

*Mascha Madörin, Ökonomin, arbeitet u.a. zur Gesundheitsökonomie aus der Sicht der Pflege. Kontakt: mmadoerin@bluewin.ch

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