Von Martina Camenzind
Unter der Federführung des Netzwerks Medicus Mundi Schweiz und des Schweizer Berufsverbandes der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK lancierten Mitte Januar über zwei Dutzend Berufsverbände aus dem Gesundheitswesen, Gewerkschaften und Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit ein Manifest, in welchen die Verantwortlichen der Schweizer Politik aufgerufen werden, den Personalmangel im Gesundheitswesen nicht auf Kosten der Ärmsten zu beheben. Doch weshalb mangelt es überhaupt an Personal?
Wir sind sauer-Kampagne des Schweizer Gesundheitspersonals (© Martin Cron/IRIN)
Viele Schweizer Spitäler und Institutionen, insbesondere in der Langzeitpflege haben Mühe, offene Stellen zu besetzen und werden bei der Suche nach Personal nicht selten im Ausland fündig. So ist es nicht erstaunlich, dass insgesamt ein Drittel des Personals ausländischer Nationalität ist.
Zwar stammen 80% der ausländischen Mitarbeitenden im Schweizer Gesundheitswesen aus den di-rekten Nachbarländern, wo sie jedoch wiederum fehlen. Deutschland füllt seine Personallücken mit Personal aus Polen, Polen holt seines aus der Ukraine, Bulgarien oder aus anderen osteuropäischen Ländern.
Im Westen ist es nicht anders: Frankreich rekrutiert das Personal, das fehlt weil, es in der Romandie eine Stelle angenommen hat, in den ehemaligen Kolonien. So arbeiten 40% der in Togo ausgebildeten Ärzte in Frankreich. Die Beispiele liessen sich unendlich wiederholen. Dieser sogenannte „Care Drain“ ist zutiefst unsolidarisch und ein Armutszeugnis für die reiche Schweiz.
Im Jahr 2009 veröffentlichten die Konferenz der Kantonalen Gesundheitsdirektoren GDK und die OdASante, die Dachorganisation der Arbeitswelt Gesundheit, den nationalen Versorgungsbericht für die Gesundheitsberufe. Auslöser für den Bericht war die Veröffentlichung der Studie "Gesundheits-personal in der Schweiz - Bestandesaufnahme und Perspektiven bis 2020" des Schweizerischen Ge-sundheitsobservatoriums (Obsan-Studie). Darin wurde aufgezeigt, dass auf die Schweiz ein höherer Bedarf an nicht-ärztlichem Gesundheitspersonal zukommen wird. Pro Jahr müssten 5000 Personen mehr ausgebildet werden, um die Lücke zu schliessen. Gründe dafür sind insbesondere demografi-scher Natur: Die Bevölkerung wird älter und kränker.
Die Resonanz auf die Obsan-Studie war beträchtlich und führte dazu, dass die Politik aktiv wurde, insbesondere im Bereich Bildung: Das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT), die GDK und die OdASanté riefen gemeinsam den „Masterplan Bildung Pflegeberufe“ ins Leben. Das Ziel ist, die Zahl der Abschlüsse bis 2015 zu erhöhen. Die Schwerpunkte liegen darin, „eine bedarfsgerechte Zahl an Ausbildungs- und Praktikumsplätzen" bereitzustellen, die Bildungssystematik sowie „Massnahmen in Bezug auf ausländische Fachkräfte" umzusetzen. Einzelne Projekte sollen ko-ordiniert und der Erfolg der Massnahmen mittels Studien laufend gemessen und kommuniziert wer-den.
Auch einige Kantone wurden aktiv und haben für die Institutionen, die sie zu einem nicht unwesentli-chen Teil mitfinanzieren, ein Ausbildungsobligatorium verhängt. Allerdings weist Roswitha Koch vom SBK darauf hin, dass dabei nicht immer auf die Qualität der Ausbildung geachtet wird: „Die Pflege von älteren und häufig chronisch- und mehrfacherkrankten Menschen ist komplex und eine grosse Herausforderung. Es braucht dafür gut ausgebildetes Personal auf Tertiärstufe, also diplomierte Pfle-gefachpersonen, unter Umständen auch solche mit einem Masterabschluss. Es ist leichtsinnig, wenn man Fachangestellten Gesundheit (FaGe), diese Verantwortung aufbürdet. Auch reicht es nicht, wenn etwa Medizinische Praxisangestellte in einer Schnellbleiche dazu befähigt werden sollen, die Betreu-ung von chronisch kranken Patienten zu übernehmen, um so die Hausärzte zu entlasten.“
Ein zentrales Problem ist mit gutem Willen allein nicht gelöst: Die Bildungsinstitutionen haben z.T. Mühe, für ihre Ausbildungsplätze genügend interessierte Lernende zu finden. Das Berner Bildungszentrum Pflege etwa konnte trotz vielfältigen Anstrengungen und Aktionen von den 450 vom Kanton vorgegebenen Plätzen gut 90 nicht besetzen.
Woran liegt es? An sich wäre die Pflege ein Beruf mit Zukunft. Die demografischen Entwicklungen sorgen dafür, dass sich Pflegende kaum Sorgen machen müssten, keine Stelle zu finden. Die Arbeit ist vielfältig und anspruchsvoll, man hat täglich Kontakt mit Menschen und die Karrierechancen sind in-takt. Pflege wird zudem heute auch auf Universitätsniveau gelehrt und es ist möglich, einen Doktor-abschluss zu machen.
Doch die Pflege hat ein Image-Problem. Für junge Leute ist der Beruf wenig attraktiv. Dazu tragen auch die Medien bei. In Diskussionen um das Gesundheitswesen ist sie quasi inexistent.
Sogar wenn es in einem Bericht um sie geht, kommen nicht Pflegefachpersonen zu Wort, sonder-nÄrzte, wie im Herbst dieses Jahres in einem Bericht von „10vor10“ zum Mangel an Pflegefachperso-nal im hochkomplexen Bereich der Neonatologie. Und wenn doch über die Pflege berichtet wird, sind die „News“ keine guten: Hohe Arbeitsbelastung, Stress, Zeitdruck. Zuweilen sind es gar „very bad News“, etwa wenn bekannt wird, dass ein Pfleger in einem Altersheim Patienten misshandelt oder gar getötet hat.
Ein junger Mensch, der sich Gedanken über die Berufswahl macht, wählt lieber einen anderen Weg.
Beim SBK ist man sich des Problems bewusst. Geschäftsführerin Yvonne Ribi macht sich aber keine Illusionen darüber, dass hier viel Arbeit ansteht: „Wir müssen dringend unsere Öffentlichkeitsarbeit intensivieren. Es muss in die Köpfe der Medienschaffenden hinein, was die Pflege leistet und dass auch die Pflegefachleute, die Experten auf ihrem Gebiet sind und etwas zu sagen haben. Und es muss klar werden, dass gerade im Hinblick auf die anstehenden Herausforderungen die Pflege in neuen Versor-gungsmodellen eine zentrale Rolle einnehmen kann.“
Zwar geniesst die Pflege bei der Bevölkerung grosses Vertrauen. In entsprechenden Umfragen landet sie immer auf den Spitzenplätzen. Vielen ist jedoch kaum bekannt, dass die Pflege längst kein Hilfsbe-ruf der Ärzteschaft mehr ist. Und vielen ist nicht bewusst, welch zentrale Rolle die Pflege im ganzen Gesundheitswesen spielt. Geht es um das Gesundheitswesen, ist praktisch nur von Kosten die Rede, von Ärzten, die Unsummen verdienen und von Krankenkassenprämien, die jährlich steigen.
Es herrscht Spardruck. Die Pflege ist damit ins Visier der Ökonomen geraten, die betriebswirtschaft-liche Prinzipien anwenden, um die Pflege effizienter und wirtschaftlicher zu machen. Sie wenden dabei die gleichen Modelle an wie für eine Fabrik. Das Problem dabei: Die Pflege eines Menschen ist nicht das gleiche wie die Produktion eines Autos.
Die Ökonomin Mascha Madörin redet sich in Rage, wenn sie zu diesem Thema befragt wird. „Diese „irren Ökonomen“ haben komplett vergessen, dass es bei der Pflege um Menschen geht, um kranke Körper und vor allem um die Linderung von Leiden. Man kann nicht einfach schneller pflegen“. Mit den Fallpauschalen habe man den kranken Körper wegstandardisiert.
Die Einführung der Fallpauschalen hat für die Pflege weitreichende Konsequenzen. Im Fallpauschalen-System hat jede Diagnose einen ihr zugeordneten Preis. Doch steht dahinter ein Denkfehler: Der Beinbruch einer 85-jährigen Frau ist nicht das gleiche wie der Beinbruch eines 20-jährigen Mannes. Die Seniorin wird ein Stück länger brauchen, um sich davon zu erholen. Und sie wird mehr Pflege benötigen. Aus diesem Grund verlangt der SBK gemeinsam mit der Vereinigung der Pflegedienstlei-tungen SVPL eine Anpassung des Systems, damit die Pflegeleistungen nicht nur besser dargestellt werden, sondern auch entsprechend vergütet werden – bis anhin ohne Erfolg.
Zudem setzt der Ökonomisierungswahn einen Kontrollapparat voraus: Jede Pflegehandlung muss minutengenau dokumentiert werden, der administrative Aufwand steigt auf Kosten der Zeit mit dem Patienten. Mehr noch: Die Umsetzung der pflegerischen Handlungen in Codes hat eine neue Berufs-gruppe im Gesundheitswesen nötig gemacht Auch die Arbeit der CodiererInnen will bezahlt sein: Noch mehr Geld, dass in die Administration fliesst, anstatt dass diese Mittel direkt den Patientinnen zu Gute kommt. Da die Pflege in dieser Sichtweise nur noch ein Kostenfaktor ist, steigt der Druck, hier zu sparen. Für die Pflegefachfrauen und –männer heisst das: Zeitdruck, Stress, Überlastung.
Von daher ist der Eindruck, den die Jungen von der Pflege haben, so falsch nicht. Gemäss der RN4CAST-Studie, einer europaweiten Befragung von Pflegefachpersonen, ist in der Schweiz jedeR Fünfte mit der aktuellen Arbeitsplatzsituation unzufrieden, 15% leiden an starker emotionaler Er-schöpfung und 7% hegen den Wunsch, den Pflegeberuf zu verlassen. Diese Zahlen sind im europäi-schen Vergleich zwar relativ gut, verschleiern aber wichtige Tatsachen. Wenn in einem Team von 10 Personen 2 unzufrieden sind, leidet das ganze Team. Und wenn in absoluten Zahlen 10’000 Pflege-fachfrauen und –männer den Beruf verlassen wollen, verschärft sich der Personalmangel massiv.
Es ist den auch einen Tatsache, dass Pflegefachpersonen in Durchschnitt nach 10 bis 15 Jahren aus dem Beruf aussteigen. Könnte man die Berufsverweildauer um nur 1 Jahr erhöhen, würde sich der Ausbildungsbedarf um 5% senken. Die Kosten, die so eingespart werden könnten, müssten an sich jeden Ökonomen hellhörig machen.
Um den Personalmangel an Pflegefachpersonen zu bekämpfen, reicht es nicht aus, die Ausbildungssi-tuation zu verbessern. Vielmehr müsste dringend in eine bessere Arbeitsplatzqualität investiert wer-den. Allerdings wäre dafür ein radikaler Richtungswechsel erforderlich. Anstatt weiter an der Sparschraube zu drehen, wären Investitionen nötig. Allerdings sind die Aussichten düster: Die Kantone klagen über Finanzprobleme. Der Kanton St. Gallen will das Loch in der Kasse damit stopfen, dass das Staatspersonal im nächsten Jahr 1.5% weniger Lohn bekommt. Desgleichen im Kanton Luzern: Hier sollen in den nächsten 2 Jahren 23 Millionen eingespart werden. Im Kanton Bern sollen die Löh-ne eingefroren werden.
Es ist also zu befürchten, dass der Trend in die andere Richtung geht. Das ist nicht nur für die Pflege-fachpersonen eine Gefahr, sondern letztlich für die ganze Bevölkerung: Es wäre in unser aller Interes-se, unseren Pflegenden endlich Sorge zu tragen. Denn früher oder später werden wir aller Wahrscheinlichkeit nach selbst auf sie angewiesen sein. Es wäre zu wünschen, dass sich Politiker und Ge-sundheitsökonomen endlich fragen, welche Pflege sie dereinst gerne hätten und dieser Einsicht auch Taten folgen lassen.
Damit wäre auch dem Image-Problem beizukommen: Wenn Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner erzählen könnten, dass sie einen wunderbaren Beruf ausüben, der sie sehr befriedigt und von ihrem tollen Arbeitsplatz schwärmen, wäre es auch für wieder Junge attraktiv, Pflegefachfrau zu werden.
*Martina Camenzind kam 1970 in Davos zur Welt. 2003 schloss sie ihr Ethnologie-Studium an der Uni Bern mit dem Lizentiat ab. Sie ist Redaktorin der Zeitschrift "Krankenpflege" und lebt mit ihrer 10-jährigen Tochter, die gerne Pflegefachfrau werden möchte, in Bern.
In den Krisenregionen wird schon aktiv rekrutiert Die Krise in den südeuropäischen Ländern hat in vielen Ländern zu einem rigiden Sparkurs geführt. Wenn Staaten sparen müssen, sind es meist die Bereiche Bildung, Soziales und Gesundheit, wo der Rotstift angesetzt wird. In Spanien etwa wurden seit Beginn der Krise mehrere tausend Pflegefach-personen entlassen. Der Abbau wird weitergehen. Die spanische Regierung will 150 Milliarden Euro durch Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen einsparen. Die Folgen dieser Sparübungen sind für die spanische Bevölkerung fatal. Das Gesundheitswesen ist nicht mehr in der Lage, die Versorgung für die Bevölkerung zu gewährleisten. Das verbliebene Perso-nal leidet unter der Überlastung. Die European Federation of Nurses EFN zeigt sich besorgt und unterstützt die Teilnahme der Pflegenden bei Kampfmassnahmen: „In Zeiten von Sparmassnahmen ist es dringend notwendig, dass die Gesundheitsbudgets nicht gekürzt werden, damit die Pflegequalität und die Patientensicherheit gewährleistet bleiben. Gerade in Krisenzeiten müssen Massnahmen ergriffen werden, damit Pflegefachpersonen und andere Gesundheitsfachleute die Versorgung der Bevölke-rung sicherstellen können.“ Tausende arbeitslose, aber gut ausgebildete Gesundheitsfachleute in Spanien, während anderswo Fachkräftemangel herrscht? Gerade Deutschland leidet seit langem an einem eigentlichen Personal-notstand, bis 2030 rechnet man mit einem Mangel an 500’000 Fachkräften. Einzelne Bundesländern wittern in diesem Umstand eine Chance: So hat das Bundesland Hessen begonnen, aktiv in Spanien zu rekrutieren und stellt zu Hause die notwendige Infrastruktur bereit. Mit keinem Wort erwähnt wird bei den entsprechenden Verlautbarungen, dass in erster Linie die spanische Bevölkerung darunter leiden wird. Vielmehr spricht man quasi von einer „win-win-Situation“: Hessen kann so den Mangel beheben und den arbeitslosen SpanierInnen wird eine Beschäftigung angeboten. Dabei ist die Arbeitsplatzqualität für Pflegepersonal gerade in Deutschland katastrophal. Hier wurden nach der Einfüh-rung der Fallpauschalen 50’000 Arbeitsplätze gestrichen – mit den entsprechenden Folgen für die verbliebenen. Wer aussteigen kann, steigt aus. Martina Camenzind |