Von Klaus Röllin
Als krankes oder behindertes Kind ins Kinderspital eingeliefert... aber niemand will das geheilte Kind abholen. Das ist eine der Fragen, wie sie sich für Ärzte, Pflegepersonal und Sozialarbeiterinnen im Caritas Baby Hospital in Bethlehem stellen. Oft wird das Kinderspital zum Anwalt des Kindes und seiner Rechte.
Das medizinische Kleinkinderspital in Bethlehem verfügt über 82 Betten. Über 3000 Patientenaufnahmen verzeichnet das Spital; im Ambulatorium werden im Jahr rund 24'000 Behandlungen vorgenommen. Trägerschaft des Caritas Baby Hospital ist der Verein Kinderhilfe Bethlehem. Ihm gehören schweizerische und deutsche Kollektivmitglieder und einige Einzelmitglieder an. Sitz des Vereins und seiner Geschäftsstelle ist Luzern. Der Trägerverein definiert die Rahmenbedingungen für das Kinderspital und die angegliederten Betriebe und besorgt die Mittelbeschaffung. Die Kinderhilfe Bethlehem hat schon vor Jahrzehnten ihre Arbeit unter den palästinensischen Flüchtlingen und in der Bevölkerung der Westbank – mit Schwerpunkt in der Bethlehem-, Ramallah- und Hebron-Region – unter das Leitwort „Hilfe für Mutter und Kind“ gestellt.
Wie umfassend die Gründergeneration dieses Werkes und die spätere Trägerschaft diesen sich selbst erteilten Auftrag verstanden haben, wird deutlich in einer programmatischen Feststellung von P. Ernst Schnydrig, dem unermüdlichen Pionier des Kinderspitals: „Wir haben den Ärmsten geholfen, so gut wir konnten, und haben dabei nie nach Rasse oder Religion gefragt“. Diese Feststellung war Programm – und das in einer Gegend, die religiös und politisch so stark zerklüftet war und noch ist.
Das Kind steht im Zentrum dieser Arbeit – es geht um das kranke Kind, das geistig behinderte Kind, um das lernbehinderte Kind – auch um das sozial benachteiligte Kind. Die medizinischen Leistungen des Kinderspitals sind in dieser Zielrichtung zu sehen, ebenso die Beratungstätigkeit für Mütter und Familien im Spital und in kleinen Dorfambulatorien (Gesundheitsprävention, Schwangerenberatung, Mütterberatung, Ernährungsberatung und Hygiene). Ein Team von Sozialarbeiterinnen unterstützt und ergänzt die Leistungen des Kinderspitals. Über die finanzielle Unterstützung von einheimischen Institutionen der Behindertenarbeit und von sonderpädagogischen Anstrengungen leistet die Kinderhilfe Bethlehem einen Beitrag, um jene Institutionen zu stützen und zu stärken, die sich für das Kind und seine Lebensmöglichkeiten einsetzen. Dank finanzieller und professioneller Unterstützung gewinnen diese Werke auch mehr Gewicht in der eigenen, einheimischen Gesellschaft.
Das Kinderspital ist im Kreis der speziell für Kinder tätigen Werke in der sogenannten Westbank und in jenen Gebieten, die heute als Palästina wahrgenommen und bezeichnet werden, mit den Nöten der Kinder und mit den Defiziten, denen sie ausgesetzt sind, in ihrer ganzen Komplexität konfrontiert.
Um was es da gehen kann, ist beschrieben in „Blickpunkt Bethlehem „ (Herbst 2004), einer Informationsschrift für die Freunde und Förderer der Kinderhilfe Bethlehem und des Caritas Baby Hospitals. Unter dem Titel „Sich aller annehmen“ werden zwei Beispiele beschrieben, wie Eltern zur Behinderung ihres Kindes stehen. Den Eltern (Mutter 19 Jahre, der Vater 21 Jahre) wird das erste Kind geboren – mit einer Gaumenspalte und einem Herzfehler. „Blickpunkt Bethlehem“ schreibt: „Für die Eltern war es ein Schock. Ihr Stammhalter ist behindert. In ihrem Umfeld finden sie dafür nur wenig Verständnis. Nachdem Waschdi in seinem jungen Leben schon viermal im Hospital behandelt werden musste – auch weil er zu Hause nicht die notwendige Pflege erhielt -, haben die Ärzte im Baby Hospital reagiert. Nach intensiven Gesprächen mit den Eltern konnten sie sie von einer Operation überzeugen, die Waschdis Behinderung lindern wird. Es ist die einzige Chance, dass Aimad und Rhada ihren Sohn vollständig akzeptieren werden. 'Wir helfen Waschdi, von seiner Familie als das angenommen zu werden, was er ist: ein wertvoller, einzigartiger Mensch', sagt Chefarzt Dr. Issa Shomali.“
Für Ärzte, Pflegepersonal und das Sozialarbeiterteam stellt sich in manchen Fällen von Kindern mit schweren Behinderungen die Notwendigkeit, die Eltern überhaupt zur Annahme ihres Kindes hinzuführen. „Das Recht des Kindes auf Familie“ kann hier bedeuten, ein Kind, das ins Spital eingeliefert wurde, der Familie wieder zurückzubringen. Dadurch, dass manche Familien ihre Kinder im Spital nicht abholen oder eine Rücknahme zu verweigern suchen, entziehen sie sich einerseits der Verantwortung für dieses eigene Geschöpf und auf der andern Seite verweigern sie dem Kind die Familie. Sie verweigern ihm den Ort, wo es wachsen kann, wo es Zuneigung und Wärme, Schutz und Heimat finden sollte. Akzentuiert wird diese Problematik noch durch den Unterschied, ob es sich um Knaben oder Mädchen handelt. Wir beobachten, dass die Behinderung eines Kindes weithin noch als „Schande für die Familie“ verstanden wird; das behinderte Kind möchte man am liebsten „verstecken“ – erst recht wenn es sich um ein Mädchen handelt. Das Kinderspital wird hier zum Anwalt des Kindes und zum Anwalt seiner Rechte.
In solcher Umgebung sind denn auch immer wieder Findelkinder zu verzeichnen. Das Kinderspital orientiert sich in solchen Fällen vorerst an der humanitären Aufgabe, spontan und unbürokratisch erste Hilfe zu leisten. Dann aber hat sich das Spital auch am örtlichen Recht zu orientieren (Meldepflicht). Ist dem Findelkind ein christliches Zeichen mitgegeben worden (Kreuz in den Kleidern, Anhänger mit einem christlichen Symbol), so darf das Kind einer christlichen Institution zur Obhut übergeben werden. Trägt es keine solchen Zeichen, so gilt das Findelkind als muslimisch und wird von den Behörden entsprechend platziert.
Auch dann, wenn das Spital um die Möglichkeit der Adoption von Waisenkindern angefragt wird, stellen sich rechtliche Frage in qualifizierter Weise. Die Praxis des Kinderspitals ist eindeutig: Es vermittelt keine Adoptionen. Dem Spital sind jene Instanzen bekannt, die sich auf rechtlich klarer Basis mit Adoptionen befassen. An diese wird bei Bedarf verwiesen.
Die soziale und politische Gesamtsituation Palästinas ist alles in allem desolat. Entsprechend schlecht und wenig hoffnungsvoll ist auch die Lage der Kinder. Hoffnungen lassen sich dort festmachen, wo Institutionen und Einzelpersonen sich um eine Verbesserung der Lebenssituation der Kinder kümmern...
- wo für schulischen Unterricht und Freizeitaktivitäten gearbeitet wird,
- wo für lernbehinderte Kinder Spezialunterricht aufgebaut und angeboten wird,
- wo Kinder vor schlechter Behandlung, physischer und sexueller Gewalt geschützt werden,
- wo Kinder gesundheitlich betreut, behandelt und geheilt werden,
- wo Institutionen und Einzelpersonen alles tun, um das gesamtheitliche Wohl des Kindes ins Auge zu fassen und zu fördern,
- wo Kinder das Recht auf Leben haben und dieses Recht auch geschützt wird – auch und gerade im Krieg.
*Klaus Röllin war bis November 2004 Geschäftsführer der Kinderhilfe Bethlehem. Als Senior Consultant steht er in einer Teilzeitverpflichtung weiterhin im Dienst dieses Hilfswerks. Kontakte: kinderhilfe@khb.ch, www.khb.ch