MMS Umfeldanalyse: Gegenwärtige Entwicklungen und zukünftige Herausforderungen globaler und internationaler Gesundheit – und ihre Relevanz für die Schweiz

Die Zukunft der Gesundheitszusammenarbeit: Trends und Entwicklungen

Von Christina Biaggi-Stucki, Fiona de Korte und Claudia Kessler

Im Auftrag des Netzwerks Medicus Mundi Schweiz hat das Schweizerische Tropen- und Public Health-Institut (Swiss TPH) aktuelle und künftige Entwicklungen in der internationalen und globalen Gesundheit und Gesundheitspolitik analysiert und auf ihre Relevanz für schweizerische Akteure hin überprüft.

Lesezeit 14 min.

Die vorliegende Umfeldanalyse beruht einerseits auf einer umfassenden Literaturstudie, anderseits auf einer Reihe von Befragungen schweizerischer Schlüsselpersonen. Wir fassen die wichtigsten Inhalte und Erkenntnisse zusammen.

Schlüsselthemen

In Kürze: Die UNO-Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) für das Jahr 2015 werden in den kommenden Jahren auch für die internationalen Anstrengungen zur Verbesserung der globalen Gesundheit richtungsweisend bleiben – mit Priorität auf dem Entwicklungsziel 5, der Verbesserung der Müttergesundheit. Das sich weltweit verändernde Krankheitsspektrum erfordert jedoch die Integration von neuen globalen Gesundheitsherausforderungen, wie etwa die nicht-übertragbaren Krankheiten, in die internationale Gesundheitspolitik. Es zeichnet sich ab, dass nach 2015 weniger die Bekämpfung einzelner Krankheiten im Mittelpunkt der internationalen Gesundheitspolitik stehen wird, als die Suche nach umfassenderen Ansätzen, die auch soziale, politische und wirtschaftliche Determinanten von Krankheit und Gesundheit mitberücksichtigen. Der Stärkung der Gesundheitssysteme wird weiterhin hohe Priorität gegeben, damit verbunden als vorrangigste Ziele die Verbesserung des Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen, die Aufstockung des Gesundheitspersonals, die Finanzierung der Gesundheitsdienstleitungen und deren Anpassung an die lokalen Bedürfnisse der Bevölkerung. Die kollektive Sicherheit, der Zugang zu globalen öffentlichen Gütern und die globalen Verpflichtungen der Staaten werden weitere Schlüsselthemen bilden. Im Bereich der humanitären Hilfe werden die Stärkung der Gesundheitssysteme in fragilen Staaten und die Verbesserung der Katastrophenvorsorge zentrale Themen bleiben.

Die Millenniumsentwicklungsziele reflektieren einen internationalen Konsens, die dringlichsten globalen Probleme gemeinsam anzugehen. Mit ihren ausgewählten Themen und ihren klaren Zielvorgaben schaffen sie eine öffentliche Verpflichtung und vermitteln, dass wichtige Verbesserungen in kurzer Zeit machbar sind. Die Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Müttern (MDG 5) steht unter den gesundheitsbezogenen Millenniumsentwicklungszielen an oberster Stelle. Eine im Jahr 2010 vom UNO-Generalsekretär lancierte globale Strategie für die Gesundheit von Müttern und Kindern weist den gemeinsamen Anstrengungen, um dieses Ziel zu erreichen, den Weg. Der Zugang zu Notfallgeburtshilfe wird in den nächsten Jahren als zentrale Strategie zur Senkung der Müttersterblichkeit verfolgt werden. Familienplanung, eingebetet in den grösseren Rahmen der Bevölkerungsentwicklung, erlangt gegenwärtig neue Popularität auch im Hinblick auf die Wechselwirkungen zwischen Bevölkerungswachstum und anderen vordringlichen Themen wie Klimawandel, Migration, wirtschaftliche Entwicklung und Nahrungssicherung. Zur Erreichung des Entwicklungsziels „Senkung der Kindersterblichkeit“ (MDG 4) sollen vor allem die bereits bekannten wirksamen und kostengünstigen Massnahmen zur Bekämpfung vermeidbarer Ursachen der Sterblichkeit von unter 5jährigen Kindern im grösseren Umfang angewendet werden. Das Entwicklungsziel 6 ist auf die Bekämpfung von HIV&Aids, Malaria und Tuberkulose ausgerichtet. Die grössten Herausforderungen in der Bekämpfung von HIV&Aids sind die Gewährleistung des Zugangs zur antiretroviralen Second- Line Therapie, das enorme Ausmass der Epidemie und – nach einer Zeit stetigen Zuwachses der globalen Finanzmittel für den Kampf gegen HIV&Aids- klare Zeichen einer einsetzenden Finanzierungskrise. Die Kontrolle der multiresistenten Tuberkulose bleibt die wichtigste Aufgabe und auch dem Kampf gegen die Malaria wird weiterhin grosse Aufmerksamkeit zuteil werden. Dies nicht nur aufgrund der hohen Krankheitsverbreitung, sondern auch wegen der Hoffnung auf einen wirklichen Durchbruch: in bestimmten geographischen Gebieten besteht die Chance, Malaria durch die Unterbrechung der lokalen Übertragung auszurotten.

Limitierung durch Fokussierung. Während die Millenniumsentwicklungsziele ein weitgehend anerkanntes globales Instrument darstellen, besteht starker Konsens, dass ihre Schwerpunkte zu eng auf bestimmte Themengebiete begrenzt und auf gewisse geographische Räume wie etwa Sub Sahara Afrika und Asien zugeschnitten sind. Dagegen wird zum Beispiel den Schwellenländern zu wenig Aufmerksamkeit zuteil. Es gibt Bestrebungen, in der globalen Gesundheitspolitik der Stärkung der Gesundheitssysteme mehr Gewicht zu geben und Veränderungen in der globalen Verteilung der Krankheitslast besser zu reflektieren.

Stärkung der Gesundheitssysteme. Die Welt verändert sich – und mit ihr die Herausforderungen für die Gesundheitssysteme. Im Allgemeinen wird betont, dass ein Paradigmenwechsel notwendig sei – weg von der Zweiteilung der Welt (die „Reichen“ und die „Armen“ – die „Entwickelten“ und die „weniger Entwickelten“) hin zur Erkenntnis, dass wir in einer multipolaren Welt mit unterschiedlichen Bedürfnissen in verschiedenen Kontexten leben, die jeweils unterschiedliche Herausforderungen für die Gesundheitssysteme beinhalten:

• Fragile, schwache Staaten: ungenügende Regierungsführung, Abwesenheit eines funktionierenden Gesundheitssystems
• Ärmste Länder: Finanzierung
• Schwellenländer: Soziale Sicherheit und gerechte Verteilung
• Hoch entwickelte Staaten: gegenseitiges Lernen

Die Stärkung der nationalen Gesundheitssysteme bleibt die Toppriorität der kommenden Jahre, gleichgültig um welchen Kontext es sich handelt. Gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO, die einen systemischen Ansatz verfolgt, geht es dabei darum, sechs Grundbausteine von Gesundheitssystemen gleichermassen zu berücksichtigen: die Bereitstellung von Gesundheitsdienstleistungen, das Gesundheitspersonal, die Informationssysteme, die medizinischen Produkte, Impfungen und Technologien, die Finanzierung sowie die gute Regierungsführung.

Die Stärkung der nationalen Gesundheitssysteme bleibt die Toppriorität der kommenden Jahre, gleichgültig um welchen Kontext es sich handelt. Gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO, die einen systemischen Ansatz verfolgt, geht es dabei darum, sechs Grundbausteine von Gesundheitssystemen gleichermassen zu berücksichtigen: die Bereitstellung von Gesundheitsdienstleistungen, das Gesundheitspersonal, die Informationssysteme, die medizinischen Produkte, Impfungen und Technologien, die Finanzierung sowie die gute Regierungsführung.

Die Basisgesundheitsversorgung und Community Health gewinnen als zentrale Strategien zur Verbesserung des Zugangs zu Gesundheitsdienstleistungen erneut an Wichtigkeit. Die Diskussionen darüber, ob es einer umfassenden Basisgesundheitsversorgung bedarf oder ob ein Grundversorgungspaket definiert werden soll, werden weitergehen. Ein gerechtes Gesundheitssystem, welches auch Armen die Möglichkeit der Behandlung bietet, ist nicht mehr nur ein Thema der Entwicklungsländer. Die Mehrheit der armen Bevölkerung lebt heute in Schwellenländern mit starkem Wirtschaftswachstum. Die Bereitstellung von Gesundheitsdienstleistungen für Arme, Minderheiten und gefährdete Personengruppen ist für alle Länder gleichermassen ein wichtiges Thema. Das gilt auch weltweit für Menschen mit Behinderungen. Der Zugang zu bezahlbaren, wirksamen und sicheren Arzneimitteln bleibt ein hoch brisantes Thema auf der politischen Agenda.

Systemisches Denken ist angesagt. Tendenziell wird die internationale Gesundheitszusammenarbeit nach 2015 den Fokus nicht mehr auf die Bekämpfung einzelner Krankheiten richten, sondern einen umfassenden ganzheitlichen Ansatz verfolgen, der, verankert im systemischen Denken, die sozialen, politischen und ökonomischen Determinanten von Gesundheit mitberücksichtigt. Solch ein Orientierungsrahmen erscheint angemessener, um den zukünftigen komplexen Gesundheitsherausforderungen entsprechend zu begegnen. In Zukunft und nach 2015 wird Gesundheit in einem weiteren Kontext betrachtet werden. Wichtige Zusammenhänge zwischen Gesundheit und anderen brennenden Fragen rücken dabei ins Blickfeld:
• Klimawandel und Umwelt, Wasser und sanitäre Einrichtungen
• Globalisierung, Migration und Bevölkerungsentwicklung, Verstädterung, demographischer Wandel (zunehmende Alterung der Bevölkerung)
• Veränderungen im Lebensstil und in den sozialen Strukturen
• Ausbreitung der Armut, Wirtschaftskrise, Sicherheitsbedrohungen und kriegerische Konflikte

Die Suche nach angemessenen Finanzierungsmodellen für eine gerechtere Gesundheitsversorgung aller Bevölkerungsschichten wird ebenso im Vordergrund stehen, wie die vermehrte Ausrichtung der Gesundheitssysteme in Entwicklungs- und Schwellenländern auf die zunehmende Ausbreitung der nicht übertragbaren Krankheiten, die sich durch die Veränderung der Lebensstile ergeben. Der Zugang zur psychiatrischen Versorgung muss in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern dringend verbessert werden. Die Globale Gesundheitszusammenarbeit bietet dafür grenzüberschreitende (sowohl geographisch wie auch zwischen Disziplinen und Sektoren) Foren und Wege zur Lösungssuche an. Weiterhin braucht es auch eine gerechtere Verteilung der Forschungsgelder, um den globalen Herausforderungen gerecht werden zu können.

Kasten: Gesundheit national – international – global. Eine Begriffsklärung

öffentliche Gesundheit

internationale Gesundheit

globale Gesundheit

1. Geographischer Raum

bezieht sich auf Gesundheitsthemen eines bestimmten Landes (i.d.R. des eigenen Landes) oder einer Bevölkerungsgruppe

bezieht sich auf Gesundheitsthemen anderer Staaten, vor allem von Entwicklungsländern

 

bezieht sich auf Themen, die die Gesundheit direkt oder indirekt beeinflussen, aber nationale Grenzen überschreiten können.

2. Ebene der Zusammenarbeit zur Entwicklung und Umsetzung von Lösungen

in der Regel genügt die nationale Ebene

in der Regel zwischenstaatliche (bilaterale) Zusammenarbeit und Entwicklungshilfe

in der Regel globale Zusammenarbeit notwendig

3. Leistungen an Individuen und Gruppen

vor allem Präventionsprogramme für einzelne Bevölkerungsgruppen

Präventionsprogramme für einzelne Gruppen und klinische Versorgung von Individuen

Präventionsprogramme für einzelne Gruppen und klinische Versorgung von Individuen

4. Ziele bezüglich Zugang zu Gesundheitsdiensten

gerechter Zugang innerhalb eines Landes respektive Gruppe

besserer Zugangs von Menschen in anderen Ländern

gerechter Zugang zwischen Landern und für alle

5. Beispiel

Gesundheit von MigrantInnen

Bekämpfung der Malaria

SARS, Fukushima

nach: Koplan J et al. Towards a common definition of global health. Lancet 2009; 373: 1993–95

Modalitäten der Gesundheitsfinanzierung & -zusammenarbeit und künftige Akteure

In Kürze: Die weltweite Entwicklungshilfearchitektur ändert sich drastisch, hin zu einer hyper-kollektiven und fragmentierten Arena. Die heutige multipolare Welt mit ihren neuen mächtigen Akteuren verlangt nach einer neuen Ausrichtung in der internationalen Gesundheitszusammenarbeit. Die Mechanismen der globalen Gesundheitsgouvernanz müssen überprüft und demokratisiert werden, um die verschiedenen neuen Akteure wie Schwellenländer, Stiftungen und private Organisationen zur Erreichung der international anerkannten Ziele zusammenzubringen. Die reichen OECD-Länder werden in den nächsten Jahren die Hauptgeldgeber der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit bleiben. Aber die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit bildet heute nur noch eine von vielen Formen der Entwicklungshilfe für arme Länder. Auch werden die Geldmittel, die für die internationale Gesundheit zur Verfügung stehen, in den nächsten Jahren voraussichtlich abnehmen. Zivilgesellschaftliche Organisationen werden Wege finden und Allianzen bilden müssen, um sich in einem zunehmend wettbewerbsorientierten Klima zu positionieren, ihren Einfluss zu stärken und um sich in der globalen Gesundheitspolitik als Akteure zu präsentieren und zu legitimieren.


Die heutige Welt ist vielschichtiger geworden. Die Rolle der Staaten verändert sich, und neue mächtige Akteure in der globalen Gesundheitsarena haben weitreichende Auswirkungen auf die bestehenden Allianzen und Kooperationen. Schwellenländer wie China, Indien, Brasilien, Südkorea oder Thailand gewinnen zunehmenden Einfluss in der internationalen Gesundheitszusammenarbeit. Auch einige der Reformländer aus dem Osten können dazugezählt werden. Diese Veränderungen verlangen nach einer neuen Grundausrichtung in der internationalen Gesundheitszusammenarbeit.

Die traditionellen Geberländer hatten in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren in den Vereinbarungen des OECD-Ausschusses für Entwicklungshilfe (DAC) einen Konsens entwickelt, wozu Entwicklungshilfe notwendig ist, wie die gemeinsamen Anstrengungen besser koordiniert und deren Effizienz gesteigert werden soll. Formalisiert wurde dieser Konsens in der Erklärung von Paris über die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit (2005) sowie in weiteren internationalen Übereinkünften. Mit dem stärkeren Gewicht der Schwellen- und Reformländer wird das etablierte System der Entwicklungshilfe nun aber in Frage gestellt. Zudem gewinnen auch die Zivilgesellschaft, Stiftungen, private Geldgeber und die Privatwirtschaft sowie globale Gesundheitsinitiativen an Einfluss. Die Modalitäten der Zusammenarbeit und die Rollen und Verantwortlichkeiten in der globalen Gesundheitszusammenarbeit müssen deshalb überdacht werden.¨

Rasche Erfolge und Sichtbarkeit um jeden Preis? Die wirkungsvolle Zusammenarbeit und die Rechenschaftspflicht auf allen Ebenen stellen weiterhin grosse Herausforderungen dar. Gleichzeitig lässt sich heute eine problematische Abkehr von bewährten Grundsätzen der Deklaration von Paris beobachten: Der Trend geht weg von der Zusammenarbeit zwischen den Staaten und der Harmonisierung der Entwicklungshilfe zurück zu einzelnen „Projekten“ – mit den damit verbundenen, eigentlich als überholt erachteten Modalitäten und Rollen. Einzelne Regierungen stehen unter Druck, ihre Erfolge und Beiträge zur internationalen Zusammenarbeit auf der innenpolitischen Bühne besser darstellen zu können. Dies verleitet sie dazu, schnelle Erfolge anzustreben, ohne sich dabei an den Prioritäten der jeweiligen Partnerländer zu orientieren oder deren nationale Mechanismen zu berücksichtigen. Eine wichtige Rolle spielen auch berühmte Persönlichkeiten, deren gut gemeinte Bestrebungen, die Armen der Welt zu retten, zum Teil ebenfalls zu einem zunehmenden Projektaktivismus beitragen.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO bleibt die durch eine Mehrheit der Staaten und Akteure akzeptierte Führungsinstanz und Referenz hinsichtlich der globalen Gesundheitsgouvernanz. Um diese Rolle auch zukünftig vertreten zu können, ist es jedoch Voraussetzung, dass die WHO sich reformiert und verstärkt auf ihr Kernmandat konzentriert. Ihre Mitgliedstaaten müssen sie besser unterstützen – etwa durch nicht zweckgebundene Finanzierung. Eine grosse Herausforderung besteht für die WHO darin, gangbare Wege zu finden, um die neuen Interessensgruppen in den globalen politischen Dialog zu integrieren.

Die staatliche bilaterale Entwicklungszusammenarbeit verliert gegenwärtig an Stellenwert als die überragende traditionelle Geldgeberin der Entwicklungshilfe für die armen Länder der Welt. Mit der Formierung neuer Akteure, Mechanismen und Finanzierungsmodalitäten ist die staatliche Entwicklungszusammenarbeit in den letzten Jahrzehnten zu einer von vielen Unterstützungsmöglichkeiten für ressourcenarme Länder geworden. Flexiblere Geldgeber und globale Gesundheitsinitiativen (GHI) mit speziellen Mandaten, wie etwa der Globale Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria (GFATM), der President's Emergency Plan for AIDS Relief der USA (PEPFAR) oder die Globale Allianz für Impfstoffe und Immunisierung (GAVI), leisten grosse finanzielle Beiträge. Heute wird deshalb bereits die Frage diskutiert, ob der GFATM zu einem globalen Fonds zur Unterstützung von Gesundheitssystemen ausgeweitet werden soll. Grundsätzlich hält man es aber noch für wenig sinnvoll, neue Superstrukturen der Gesundheitssystemfinanzierung zu schaffen.

Die Rolle und Stimme der Zivilgesellschaft ist in den vergangenen Jahren stärker geworden, und diese Entwicklung wird anhalten. Die Zivilgesellschaft spielt eine fundamentale Rolle in den aktuellen Veränderungen der globalen Politik, auch im Gesundheitsbereich. Problematisch ist dabei die zunehmende Fragmentierung in unzählige Organisationen und sich spontan formierende Aktionsgruppen. Die Förderung der Organisationsentwicklung von zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüssen und deren Vernetzung durch die Bildung von Allianzen wird auch in Zukunft von hoher Priorität sein. Zur Strukturierung der Zusammenarbeit wird auch die Idee eines "Netzwerkes von überlappenden Netzwerken" diskutiert. Bei diesem Modell hätte jedes Netzwerk seine eigenen Handlungsspielräume, würde aber gleichzeitig die anderen Netzwerke anerkennen. Mit Blick auf die Zivilgesellschaft in der internationalen Gesundheitszusammenarbeit bestehen folgende wichtige Fragen:
• Wie lässt sich der Einfluss der Zivilgesellschaft formalisieren?
• Wie gelingt es der Zivilgesellschaft, Repräsentativität und Legitimität zu schaffen?
• Wie können Organisationen der Zivilgesellschaft zu systemischem Denken animieren und in die Stärkung der Gesundheitssysteme involviert werden?

Auch der Privatsektor und philanthropische Organisationen und Stiftungen sind keine neuen Akteure, aber ihr Einfluss wird künftig zunehmen. Die Herausforderung wird sein, das Know-how dieser Akteure sinnvoll zu integrieren und in Einklang mit den Bedürfnissen der anderen Partner der Internationalen Zusammenarbeit zu bringen.

Relevanz für die schweizerischen Akteure

In Kürze: Angesichts der skizzierten Entwicklungen verfügen die Schweiz und ihre Akteure im Vergleich zu anderen Staaten in der internationalen Gesundheitspolitik über mehrere komparative Vorteile wie etwa Fachwissen im Gesundheitsbereich, Qualität und Modalitäten der Zusammenarbeit und über einen besonderen Status aufgrund ihrer „Gastgeberrolle“ (Sitz internationaler Organisationen in Genf, Ansässigkeit der pharmazeutischen Industrie, Ansässigkeit grosser internationaler Forschungs- und Dienstleistungsunternehmen). Damit die Schweiz ihr Potential besser nutzen und ihrer Verantwortung in der globalen und internationalen Gesundheitszusammenarbeit gerechter werden kann, ist ein stärkerer Austausch und eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Interessengruppen und Akteuren erforderlich.


Die Schweiz kann ihre komparativen Vorteile auf verschiedenen Ebenen in die internationale Zusammenarbeit einbringen:

Was wir tun: In bestimmten technischen Bereichen, zum Beispiel Malaria, HIV&Aids oder Wasserversorgung, verfügt die Schweiz über fundiertes Fachwissen. Sie verfügt zudem über nationale Erfahrungen in der Bereitstellung von flächendeckenden Massnahmen und über einen starken privaten Sektor von Leistungserbringern im Gesundheitsbereich. Im Dialog zwischen DEZA und NGO-Netzwerken fördert die Schweiz auch einen kohärenten Ansatz zur Stärkung der Zivilgesellschaft und des öffentlichen Gesundheitswesens.


Wie wir arbeiten: In bestimmten Bereiche der internationalen Zusammenarbeit ist die Schweiz für ihre qualitativ gute Projektführung bekannt. Dies beinhaltet etwa Forschungskenntnisse, Managementfähigkeiten und die Art der Bereitstellung von Dienstleistungen. Es gibt eine lange Tradition der Zusammenarbeit zwischen Forschung, Umsetzung und Politikentwicklung – die zukünftig weiter gestärkt werden soll. Die humanitäre Tradition der Schweiz wird heute in einem Kontinuum von Nothilfe, Wiederaufbau und langfristiger Entwicklung verstanden. Erfolgreiche mit Schweizer Unterstützung durchgeführte Pilotprojekte werden mittlerweile repliziert und ausgeweitet. „Die Schweizer“ (DEZA und SECO) sind als vertrauenswürdige Partner mit langjährigem Engagement bekannt, die ihren Partnern oft weniger Bedingungen auferlegen als andere Geberländer und ihre Modalitäten der Zusammenarbeit an den jeweiligen Kontext des Partnerlandes anpassen.


Die Schweiz als „Gesundheitsdrehscheibe“: Aufgrund ihrer Rolle als Gastgeberland vieler wichtiger Institutionen im Gesundheitsbereich – internationale und multilaterale Organisationen mit Sitz in Genf, aber auch Pharmaindustrie, Forschungsinstitutionen und Hochschulen mit internationaler Reputation – ist die Schweiz in einer einzigartigen Position. Obwohl die Schweiz ein kleines Land darstellt, verhilft ihre Gastgeberrolle unserem Land zu einem privilegierten Status und einer starken Stimme. Die Schweiz wird seit jeher für ihre Vermittlerrolle und für ihre Fähigkeit, Brückenbildnerin zwischen verschiedenen, oft verfeindeten Parteien zu sein, geschätzt. Die „Kleinheit“ des Landes trägt dazu bei, dass sich die Schweizer Akteure untereinander kennen, was dem gegenseitigen Austausch und der Zusammenarbeit förderlich ist.

...mit besten Empfehlungen

Der Bericht schliesst mit einer Auswahl von Empfehlungen der Fachpersonen, die im Rahmen der des vom Netzwerk Medicus Mundi Schweiz in Auftrag gegebenen Umfeldanalyse konsultiert wurden.

Mehr Geld für Korbfinanzierungsmodelle. Durch langfristige und verstärkte Finanzierung von globalen Gesundheitsinitiativen (GHIs) sollte die Schweiz ihre Verpflichtung gegenüber diesen partnerrschaftlichen Finanzierungsmechanismen zum Ausdruck bringen und damit Gleichgesinnte ebenfalls zu diesem Schritt ermutigen.

Gesundheit als Schwerpunktthema der DEZA. Mehrere Befragte betonten, dass die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit, DEZA, in der internationalen Zusammenarbeit im Bereich Gesundheit einen schärferes Profil entwickeln und ihre Ziele in diesem Sektor klarer definieren sollte. Die neue Gesundheitspolitik der DEZA wird mit Spannung erwartet, und man hofft, dass sie mehr Klarheit schafft.

Befähigung – auch zur Interessevertretung. Der klassische Ansatz der Befähigung (capacity building) könnte dahingehend ausgeweitet werden, dass die DEZA Delegationen aus Partnerländern für den internationalen Dialog und für globale politische Verhandlungen ausbildet, damit diese in der Lage sind, ihre Interessen besser zu vertreten. Dies geht einher mit dem Aufruf, dass die DEZA sich vermehrt für den Aufbau einer guten Regierungsführung engagieren sollte.

Gastgeberrolle neu definieren und politisch nutzbar machen. Die Schweiz als Gastgeberland für viele internationale Organisationen ist in einer einzigartigen Position. Sie sollte jedoch mehr dafür tun, um sich diesen Status auch in Zukunft verdient zu machen. Aufgrund der zunehmenden Konkurrenz unter den Staaten bezüglich der Aufnahme von internationalen Organisationen besteht die reale Gefahr, dass einige von ihnen ihren Sitz in andere Länder oder Regionen verlagern könnten. Die Schweiz könnte die Entwicklung von Clusterstrategien – die Konzentration der zu einem Thema tätigen Organisationen an einem Standort – fördern, mit Genf als Zentrum der Weltgesundheit. Ebenso sollte sie anstelle der herkömmlichen Bereitstellung von Infrastruktur, Land und Finanzen den Aufbau einer sogenannten „weichen Infrastruktur“ in Erwägung ziehen, indem sie etwa internationale akademische Einrichtungen im Bereich der globalen Gesundheit durch Gründungsfinanzierung nach Genf zieht. Wenn es der Schweiz gelänge, in Kooperation mit ihren spezialisierten Institutionen und FachexpertInnen, eine stärkere Position in Genf und als „Gastgeberland“ der Weltgesundheit einzunehmen, könnte sich dies auch positiv auf ihre eigenen politischen Entscheidungen hinsichtlich globaler Gesundheitsprioritäten auswirken und gleichzeitig dazu beitragen, dass Themen der internationalen und globalen Gesundheit eine grössere Bedeutung auf der Agenda von Schweizer Politikerinnen und Politikern einnehmen würde.

Reform der WHO mitgestalten. Als Gastgeberland der Weltgesundheitsorganisation wird der Schweizer Regierung eine wichtige Rolle und auch eine wichtige Verantwortung im anstehenden Reformprozess der WHO zugedacht. Dazu gehört auch eine stärkere Beteiligung der Zivilgesellschaft. Wie auch schon in anderen Ländern umgesetzt, sollten künftig VertreterInnen der Zivilgesellschaft in schweizerische WHO-Delegationen eingebunden werden.

Kohärenz von Entwicklungspolitik und Unternehmenspraxis. Sowohl die DEZA als auch das Bundesamt für Gesundheit sollten sich verstärkt mit Schweizer Unternehmen austauschen, um sicher zu gehen, dass diese im Ausland keine politischen und rechtlichen Schritte verfolgen, die im Widerspruch zu den Bemühungen der schweizerischen internationalen Zusammenarbeit stehen.

Mehr Klartext und Übersetzungshilfen. Es gilt, den oft allzu abstrakt geführten Diskurs über die globale Gesundheit in eine praxisrelevante Diskussion über Fragen der Demokratisierung der Gesundheitspolitik und der Gesundheitsdiplomatie zu „übersetzen“. Dazu könnten insbesondere Nichtregierungsorganisationen, die selbst in der Gesundheitszusammenarbeit tätig sind, beitragen.

Brücken schlagen. Die Zukunft sollte aus Sicht der Befragten darin liegen, dass Schweizer Akteure gemeinsam Visionen entwickeln, ihre Synergien stärken und sich nicht primär von marktorientiertem Konkurrenzdenken, Positionierung und Visibilität als obersten Zielen leiten lassen. In welchen Foren und unter wessen Führung ein solch ganzheitlicher „Schweizer Ansatz“ entwickelt werden kann, bleibt eine offene Frage. Das Brückenschlagen über die Grenzen einzelner Disziplinen, wie zum Beispiel die Kooperation zwischen der öffentlichen Humangesundheit und deren Äquivalent im Veterinärmedizinischen Sektor, beinhaltet für die Zukunft viele spannende Herausforderungen und Möglichkeiten zu einer zunehmend ganzheitlichen Versorgung.

Viele der befragten ExpertInnen betonten, dass gerade das Netzwerk Medicus Mundi Schweiz in Zukunft noch stärker als bisher eine Vermittlerfunktion übernehmen sollte, um zwischen verschiedenen Akteuren Brücken zu schlagen und gemeinsame Visionen aufzubauen.


*Context Analysis: Current Trends and Future Challenges in Global and International Health. Synthesis report, based on the literature review and a stakeholder consultation. A product elaborated by the Swiss Tropical and Public Health Institute / SCIH on behalf of Medicus Mundi Switzerland, Network Health for All. Claudia Kessler, senior public health specialist, deputy head of department SCIH. Christina Biaggi-Stucki, Fiona de Korte, Mai 2011 (erhältlich durch die Geschäftsstelle von Medicus Mundi Schweiz)