Von Anita Gerig
Der erste und wohl bleibende Eindruck von Rumänien nach der Wende 1990 wurde bei vielen Menschen geprägt durch die entsetzlichen Bilder aus den Kinderheimen der Ceausescu-Zeit, welche über unsere Medien verbreitet wurden. Die westliche Welt stellte mit Entsetzten fest, dass ein kommunistisches Regime einen Teil seiner Kinder in Heimen versorgt und wie Tiere behandelt hatte. Die Gründe, warum diese Heime entstanden, waren erschreckend und vielseitig, sollen hier jedoch nicht thematisiert werden. Doch soviel sei bereits gesagt: Obwohl sich in den letzten 12 Jahren vieles positiv verändert hat, ist der Anblick vieler rumänischer Kinderheime und Sonderschulen für unsere Augen immer noch schwer zu ertragen.
Damals, nach der Wende, wurden vom Westen aus unzählige Hilfstransporte organisiert, Heime renoviert und auf diese Weise die Lebensbedingungen in vielen Kinderheimen und Schulen verbessert. So nötig diese Hilfe war und immer noch ist, der grösste Mangel in diesen Institutionen ist das Fehlen von heilpädagogischem, didaktischem und psychologischem Wissen. Während der Diktatur von Ceausescu waren Ausbildungen in dieser Richtung strikt verboten. Ein trauriger Nebeneffekt dieses Bildungsvakuums war auch, dass die schlecht bezahlten Angestellten sozialer Institutionen ihrer Arbeit oft völlig desinteressiert nachgingen.
HEKS hatte sich daher bereits 1993 entschieden, nicht in Hardware (Renovation von Heimen) sondern in Software (Ausbildung) zu investieren. HEKS ging schon damals vom Grundsatz einer nachhaltigen Entwicklung aus, in der Bildung eine entscheidend wichtige Rolle spielt. Das Heimpersonal und die LehrerInnen von Sonderschulen sollten eine Möglichkeit erhalten, die fehlenden heilpädagogischen Kenntnisse nachzuholen. Ziel war es, ein Netzwerk von Fachpersonen in Rumänien aufzubauen, um das neu erworbene Wissen weiterzugeben.
Um dieses Ziel zu verfolgen, gründete HEKS 1993 die zwei heilpädagogischen Vereine HELP und Pro Educatione. Die Vereine haben ihren Sitz in den Hauptstädten der siebenbürgischen Distrikte Covasna (St. Gheorghe) und Brasvo (Brasov). Es sind lokale Vereine, die selbstverantwortlich die Schwerpunkte ihrer Arbeit festlegen. HEKS übernahm die Rolle der Geburtshelferin und unterstützt seither die Arbeit der beiden Vereine finanziell und ideell.
Seit der Gründung wurden von beiden Vereinen rund 45 einwöchige Kurse durchgeführt. Während die Vereinspräsidentinnen für die Kursorganisation zuständig sind, werden für die fachliche Leitung vorwiegend ausländische Fachkräfte eingesetzt. Pro Kurs werden rund 15 bis 20 LehrerInnen, vorwiegend Frauen, aus Sonder- und Regelschulen und aus Heimen angesprochen. Sie können einen oder mehrere Kurse pro Jahr besuchen. Die Kurse werden durch Donationen des HEKS und zusätzlich durch einen bedeutenden Input der beteiligten ausländischen KursleiterInnen aus der Schweiz, Österreich und den USA getragen. Die rumänischen LehrerInnen können mit einem kleinen Beitrag Vereinsmitglieder werden; die Mitgliedschaft ist aber nicht Voraussetzung für die Teilnahme an Kursen. Die Mitgliederbeiträge sind sowieso nicht kostendeckend. Die sehr praxisorientierten Kurse sind oft als Fortsetzungskurse konzipiert und stossen auf grosses Echo. Sie bilden für die LehrerInnen oft die einzige Möglichkeit, sich didaktische und pädagogische Methoden anzueignen.
Ein wichtiges Element in der Zusammenarbeit bilden Praktika im Kanton Bern, wo bisher für insgesamt 40 LehrerInnen ein drei- bis vierwöchiges Praktikum bei Schweizer Lehrkräften ermöglicht wurde. Neben der erworbenen fachlichen Ausbildung sind auch die persönlichen Kontakte für die rumänischen Partnerinnen von grosser Bedeutung.
Die Weiterbildung von Fachpersonen kommt einer grossen Zahl von leicht bis mittelschwer behinderten Kindern zugute. Diese Form der Unterstützung, die zu einer grossen Selbständigkeit der Partnerinnen und zu einer Weitergabe des Gelernten beiträgt, ist für das heutige Rumänien zukunftsträchtig; nicht zuletzt auch, weil als wichtige Voraussetzungen für einen EU-Beitritt Rumäniens die Verbesserung der Verhältnisse behinderter Kinder gefordert wird.
Auch wenn die 2. EU-Osterweiterung, bei der Rumänien möglicherweise aufgenommen wird, in weiter Ferne ist, unternimmt der rumänische Staat alle erdenklichen Anstrengungen, gewisse Bedingungen rund um behinderte Kinder und Heimkinder zu erfüllen. Es sind leider oft Ansätze, die von besser funktionierenden westeuropäischen Sozialsystemen übernommen werden und in Rumänien ohne Begleitmassnahmen umgesetzt werden. So sollen beispielsweise Kinderheime ganz aufgehoben werden; Waisenkinder sollen direkt in Pflege- oder Adoptivfamilien gebracht werden. Ob genügend Pflegeplätze vorhanden sind und was mit den Kindern geschieht, die in den Heimen leben, ist noch unklar. Trotzdem werden LehrerInnen bereits aus den Heimen zurückgezogen.
Überhaupt hat der beschwerliche Weg vom Kommunismus zur freien Marktwirtschaft dazu geführt, dass sich die Lebensqualität für die Mehrheit der Bevölkerung verschlechtert hat. Vielleicht am meisten betroffen sind Familien mit behinderten Kindern. Die Unterstützung, welche diesen Kindern von Seiten der staatlichen Institutionen zukommt, ist in allen Bereichen unzulänglich. In vielen Fällen verschlechtert sich der Zustand des Kindes, weil die Familie wegen Armut und Ignoranz keinen Zugang zu Informationen hat. Die Sozialisierung und Integration behinderter Kinder wird unter solchen Umständen immer schwieriger.
Vor diesem Hintergrund stehen auch die Partnerorganisationen des HEKS vor ganz neuen Herausforderungen. So muss aufgrund einer auf Schulbeginn 2002 wirksamen Gesetzesänderung ein Teil der Kinder mit Lernbehinderung in die Regelschulen integriert werden. Diese Form von Koedukation wird in EU-Ländern immer häufiger praktiziert und ist grundsätzlich auch richtig. Nur wurde in Rumänien dieses Gesetz ohne Begleitmassnahmen für Kinder, Eltern oder LehrerInnen rechtskräftig. Die LehrerInnen der Sonderschulen befürchten nun, dass behinderte Kinder, welche die Schule wechseln müssen, nach kurzer Zeit dem Unterricht fern bleiben, weil sie dem Stoff überhaupt nicht folgen können und von den restlichen Kindern nicht akzeptiert werden. Die frei gewordenen Plätze in den Sonderschulen werden durch schwer behinderte Kinder aus den Heimen besetzt. Das bedeutet, dass LehrerInnen der Sonderschulen plötzlich mehrfach behinderte Kinder unterrichten müssen. Auch dies ohne Begleitmassnahmen oder angepasstes Lehrprogramm.
Der Verein Pro Educatione in Brasov setzte sich schon seit längerer Zeit mit diesen Problemen auseinander und kam zum Schluss, dass ein heilpädagogisches Ambulatorium eine Möglichkeit bieten würde, diese schwierige Situation etwas abzufedern. Dank langjährigen Kontakten zu einem heilpädagogischen Ambulatorium in der Schweiz, wo zwei LehrerInnen des Vereins Pro Educatione ein Praktikum absolviert hatten, reifte die Idee langsam heran, selber in Brasov ein Ambulatorium zu eröffnen. Durch die erwähnte Änderung in den Sonder- und Regelschulen wurde die Idee konkret und die Umsetzung in die Hand genommen. So hat sich auch HEKS entschlossen, das Projekt des heilpädagogischen Ambulatoriums in Brasov mit einer Zusatzleistung von jährlich Fr. 40'000.- in der Pilotphase von vier Jahren zu unterstützen.
Noch Ende letzten Jahres konnte eine geeignete Wohnung gefunden und renoviert werden, so dass die Arbeit im Ambulatorium losgehen konnte: Die ersten Klienten sind in die Regelschule integrierte ehemalige Sonderschüler, die im Ambulatorium gezielte Förderung erhalten. Mit einbezogen in die Arbeit werden auch die Eltern, da viele Kinder aus sehr armen Familien mit geringem Bildungsniveau kommen. Auf einer zweiten Ebenen wird heilpädagogische Beratung und Unterstützung für RegelschullehrerInnen angeboten, damit diese den Umgang mit behinderten Kindern in ihrer Klasse lernen können. Es wird auch entsprechendes Unterrichtsmaterial zur Verfügung gestellt.
In einem zweiten Schritt sollen auch Kinder aus dem Kindergarten im Ambulatorium betreut werden. Dadurch sollen Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, Lernschwierigkeiten oder anderen psychosozialen Problemen frühzeitig erkannt und deren Absonderung verhindert werden.
Für den Verein Pro Educatione - und in gewisser Weise auch für HEKS - ist die Geschichte des heilpädagogischen Ambulatoriums in Brasov eine Erfolgsgeschichte. Für den Zustand des rumänischen Sozial- und Gesundheitswesens sollte es ein Alarmzeichen sein, da diese eigentlich staatlichen Aufgaben nicht wahr genommen werden. Und so lange die Armut in Rumänien so gross ist, dass Eltern nicht einmal das Busbillet zum Ambulatorium selber bezahlen können, so lange wird es sozial behinderte Menschen geben, die auf die Unterstützung aus dem Ausland angewiesen sind.
*Anita Gerig ist Programmbeauftragte für Rumänien beim Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz HEKS. Kontakt: gerig@hekseper.ch. HEKS war bereits vor der Wende 1990 in Rumänien aktiv. Diese Kontakte konnten nach dem Umbruch genutzt werden, um sofort mit der Aufbauhilfe zu beginnen. Heute arbeitet HEKS mit einem Länderprogramm in den Bereichen Soziales Engagement, Zwischenkirchliche Hilfe, Nothilfe, Ländliche Entwicklung und Empowerment (Stärkung der Zivilgesellschaft). Mehr Informationen zu den Projekten finden Sie unter www.heks.ch.