Von Manuela Gregori
In Bosnien-Herzegowina, einem Staat mitten in Europa, ist die Infektionskrankheit HIV/Aids heute noch ein Tabu wie ehemals in manchen Ländern der Dritten Welt. Die zugänglichen Daten weisen zwar noch auf eine äusserst niedrige Ansteckungsrate hin, die Erfahrungen in anderen Regionen der Welt zeigen aber, dass die Bedeutung von HIV/Aids ohne präventive Massnahmen im Gefolge der allgemeinen sozialen und wirtschaftlichen Krise rasch zunehmen wird.
Bosnien-Herzegowina steckt in einer tiefen ökonomischen Krise, und so werden auch im Gesundheitsbereich noch wenig sichtbare Probleme vernachlässigt, gibt es doch genügend dringende Aufgaben zu meistern. Das Gesundheitssystem in Bosnien-Herzegowina hat sehr unter dem Krieg gelitten, und es müssen neue, der aktuellen Situation angepasste Konzepte entwickelt werden. Das Personal im Gesundheitswesen hat um 40% und die Betten der Krankenhäuser um 35% abgenommen. Zwei Drittel des medizinischen Materials sind unbenutzbar geworden. Dass angemessene medizinische Versorgung oft nicht möglich ist, hat noch weitere Gründe: Kompliziertheit der Versicherungssysteme, Fehlen der nötigen Einrichtungen und Medikamente, Knappheit grundlegender Ressourcen. Hinzu kommen Transportprobleme und der Umstand, dass der Krieg grosse Teile der Bevölkerung gesundheitlich beeinträchtigt hat, was zu einem enormen Anstieg des Bedarfs an Gesundheitsversorgung geführt hat.
Nach Angaben des Amts des UNO-Flüchtlingshochkommissariats sind seit Kriegsende rund 900‘000 BosnierInnen heimgekehrt. Darüber hinaus beherbergt Bosnien-Herzegowina ungefähr 50‘000 Flüchtlinge aus anderen Ländern Ex-Jugoslawiens. Mindestens 200‘000 Personen sind zu intern Vertriebenen geworden. Leute in Bewegung sind Risikogruppen für HIV/Aids.
Der steigende intravenöse Drogengebrauch wird ebenfalls seine Auswirkungen auf die Ansteckungsrate haben, wie auch die alarmierende Zunahme des Menschenhandels: Schätzungsweise 5000 Frauen aus Osteuropa wurden in den vergangenen Jahren für Sexdienste nach Bosnien-Herzegowina “importiert”, verteilt auf landesweit 300 bis 600 Bordelle. Das Durchschnittsalter der Betroffenen beträgt 22 Jahre. Nicht zu vernachlässigen sind die Ansteckungsgefahren während des vergangenen Krieges: Bluttransfusionen, medizinische Versorgung ohne entsprechende Schutzkleidung des Personals, Prostitution von Frauen und Mädchen, die sich so das Nötigste zum Leben beschafften, Vergewaltigungen und vieles mehr: In Krisenzeiten ist Prävention kein Thema.
Angesichts dieser Tatsachen ist eine Ausbreitung der Aidsepidemie in Bosnien in den nächsten Jahren durchaus vorstellbar. Doch aktuelle Zahlen über HIV-Infizierte oder gar Aidstote gibt es nicht. Und die letzte UNAIDS-Statistik von Ende 1999 ist nicht besonders alarmierend: 750 Personen im Alter von 15 bis 49 Jahren trugen nach Schätzungen das HI-Virus in sich, und weniger als 100 Aidstote waren zu verzeichnen.
Das Thema Aids stellt somit für Menschen und Gesundheitsstrukturen in Bosnien noch keine Priorität dar. Dr. Vesna Ferkovic, stellvertretende Direktorin am öffentlichen Gesundheitsdepartement in Tuzla, bringt es auf den Punkt: “Bei uns funktioniert das sehr einfach: Wir untersuchen, an welchen Krankheiten die meisten Menschen sterben, und in diesen Bereichen wird investiert.” Im Moment werden die wenigen Gelder, die im Departement zur Verfügung stehen, in eine Präventions- und Informationskampagne für Herzkrankheiten gesteckt.
Laut der Expertin für soziale Medizin wird an den Schulen zwar Aufklärungsarbeit geleistet, “aber nicht sehr systematisch”, wie sie zugibt. Mit Fragebögen, die an Schüler und Studenten verteilt werden, wird deren Wissensstand über Aids getestet. Auch sind immer wieder Strassenaktionen geplant, an denen Ärzte und Studenten mit Plakaten auf die Krankheit aufmerksam machen.
Soviel Dr. Ferkovic bekannt ist, starb im letzten Jahr in Tuzla eine Person an Aids. Aber auch hier gibt es keine zuverlässigen Zahlen, denn Statistiken zu erstellen kostet Geld, und wer hat das schon? Der Kanton Tuzla ist einer der ärmsten Kantone von Bosnien und Herzegowina, zudem leben dort nach wie vor über 80‘000 intern Vertriebene.
Sehr ähnlich äussert sich Dr. Kasim Brigic, Psychiater an der Universitätsklinik in Tuzla und Mitglied der Kommission für Drogenbekämpfung: “Unter allen sogenannten Risikogruppen werden Aidstests gemacht, aber wir haben keine konkreten Zahlen.” - In den letzten vier Jahren wurden in Tuzla etwa 1'000 Drogenabhängige registriert; wie viele von ihnen HIV-positiv waren, ist Dr. Brigic nicht bekannt. Zu den Risikogruppen zählt er auch die Prostituierten sowie die Jugendlichen, die während des Krieges im Ausland waren. Die Kommission versucht, an Schulen und Universitäten Aufklärungsarbeit durchzuführen. Bis heute wurde diese freiwillig geleistet. Dr. Brigic hofft aber, demnächst für die Arbeit der Kommission Geld von der Regierung zu erhalten.
Für Dr. Brigic steht ausser Frage, dass in den nächsten zwei, drei Jahren ganz andere Zahlen zu erwarten sind und dass das Aidsproblem auf Bosnien zukommen wird. Es fehlt aber eine brauchbare Strategie für das ganze Land, es fehlen finanzielle Mittel, um die nötige Präventionsarbeit zu leisten, und es fehlt an höchster Stelle die Bereitschaft, Aids als Problem anzuerkennen.
*Manuela Gregori ist Kommunikationsverantworliche bei IAMANEH Schweiz. Kontakt und weitere Informationen zur Tätigkeit von IAMANEH Schweiz in Bosnien-Herzegowina: info@iamaneh.ch. Siehe auch den weiteren Artikel in dieser Bulletinausgabe. Ihre Spende mit dem Vermerk “Bosnien” wird gerne entgegengenommen auf Postkonto 40-637178-8