Von Peter Eppler und Dipak Ranjan Chowdhury
In Bangladesh sterben laut aktuellen Statistiken rund 120 von 1'000 Kindern, bevor sie fünf Jahre alt werden. Die Geschichte des kleinen bengalischen Knaben Azizul zeigt die Komplexität der Probleme und die Opfer und Leiden, mit denen solche Kinderschicksale verbunden sein können.
Der Hof vor der kleinen Strohhütte, im Weiler Habashpur am Ufer des mächtigen Flusses Padma in Bangladesh gelegen, war sauber mit einer Mischung aus Kuhdung, Erde und Wasser gefegt worden. Die Hütte gehörte Gafur, einem Taglöhner, und seiner Frau Sharna, die beide um Azizul trauerten, den jüngsten ihrer drei Söhne, der im Alter von nicht ganz vier Jahren gestorben war.
Sharna konnte Azizul schon seit dem vierten Monat nicht mehr stillen. Seine Diät bestand nun aus Kuhmilch, die auf Anraten einer Gesundheitshelferin einer lokalen NGO mit Trinkwasser verdünnt wurde. Der Knabe litt schon ab dem neunten Monat an haga, einer Art Durchfall, von dem er periodisch immer wieder heimgesucht wurde.
Als einmal der lokale Arbeitsmarkt ausgetrocknet war, musste Gafur "ins Ausland gehen", um in einem der umliegenden Orte eine Gelegenheitsarbeit zu suchen. Er gab seiner Frau 130 Taka, was etwa 4 Franken entspricht, für Lebensmittel, und zudem einen Topf mit Kondensmilch für Azizul. Gafur wusste leider nicht, dass die teure und mühsam ersparte Kondensmilch nicht die richtige Ernährung für das schwache Kind war. Azizul vertrug die Nahrung nur schlecht, und die Gesundheitshelferin empfahl, dem Kind statt der Kondensmilch eine Mischung von gekochtem Reis, Kartoffeln und Gemüse zu füttern und es von einem Kinderarzt untersuchen zu lassen. Doch wie sollte Sharna sich und ihre Kinder durchbringen, wenn sie noch zusätzliche ungeplante Ausgaben hatte. Dazu reichte das Geld schlicht nicht aus.
Als Gafur nach einem langen Monat wieder zurückkam, hatte sich Azizuls Zustand verschlechtert. Das Kind hatte regelmässig Durchfall und war bereits sehr schwach. Gafur brachte seinen Sohn zum Dorfarzt, einem der vielen "doctors" in Bangladesh, die keine offizielle medizinische Ausbildung genossen hatten. Dieser verschrieb zwei Medikamente für 40 Taka. Für drei Tage verbesserte sich der Durchfall. Gafur erhielt weitere Medikamente vom Dorfarzt, um die Behandlung fortzusetzen. Wieder verliess Gafur seine Familie in der Suche nach neuer Arbeit, nicht ohne seiner Frau zehn Kilo Reis und 50 Taka zurückzulassen. Er arrangierte auch, dass der Milchmann täglich Milch vorbeibrachte. Trotz dieser Unterstützung reichte das Geld nicht weit, und bald waren auch die Medikamente aufgebraucht.
Azizul hatte bereits zwölf Tage ohne Medikamente verbracht, als Gafur heimkam. Der Zustand hatte sich verschlechtert. Er war kaum wiederzuerkennen. Er wurde wieder zum Dorfarzt gebracht, der ihm diesmal an fünf Tagen eine Spritze für je 15 Taka gab. Der Durchfall verbesserte sich für zwei Wochen, setzte dann aber wieder ein. Zum Durchfall kam nun eine Afterentzündung. Dies bewog den Dorfarzt, drei weitere Spritzen zu verordnen. Obwohl Gafur für die Bezahlung wieder auf Arbeitssuche gehen musste, gewährte der Dorfarzt den armen Leuten einen Kredit. In Gafurs Abwesenheit brachte Sharna ihren Jüngsten zur Behandlung. Der kleine Azizul wehrte sich und flehte seine Brüder an: "Ich will nicht gehen, Brüder, sie werden mich töten, ich werde nie hingehen ...". Der Dorfarzt verabreichte dem wehrlosen Kind drei Injektionen in den Unterleib. Diesmal blieb der Erfolg aus.
Die Gesundheitshelferin, die ab und zu die Familie besuchte, riet der armen Frau, das Kind zum Gesundheitszentrum der Regierung zu bringen. Ein gutgemeinter Rat, den Sharna jedoch nicht befolgte, da in der Bevölkerung hinlänglich bekannt war, dass dort keine Medikamente vorhanden waren und die Patienten an die nächst höhere Ebene des Bezirksspitals verwiesen wurden. Doch ohne Gafur und ohne Geld wagte sich Sharna nicht dorthin.
Diesmal kam Gafur mit 100 Taka nach Hause. Die Nachbarn überredeten ihn, es mit einem in der Gegend ansässigen kabiraj, einem traditionellen Heiler, zu versuchen. Der kabiraj untersuchte den Knaben und sagte zu Gafur: "Komm morgen mit 60 Taka wieder. Ich will sehen, was ich für deinen Sohn tun kann." Am nächsten Tag ging Gafur zum kabiraj, der auf seinem Sitz im Inneren des Hauses Platz nahm. Langsam begann der Heiler seinen Kopf rhythmisch zu schütteln, dann immer schneller, bis er in einen tranceartigen Zustand kam und den Besucher aufforderte, zu ihm zu kommen. Gafur erhielt ein tabij (Amulett). Solche tabij werden in Bangladesh oft in einen Metallbehälter geschlossen und an einer Schnur als Schutz um den Arm, den Hals oder um die Hüfte getragen. Der kabiraj öffnete seine Augen und sagte Gafur mit eindringlicher Stimme: "Geh jetzt, alles wird gut. Hänge dem Knaben das tabij um den Hals. Tauche es jeden Morgen in etwas Wasser, das du ihm zu trinken gibst." Gafur gab dem kabiraj 60 Taka und ergab sich der Hoffnung. Am nächsten Tag begab sich Gafur auf die andere Seite des Flusses Padma, um Arbeit zu suchen.
Als sich keine Genesung abzeichnete, ging Sharna in Begleitung ihrer Schwiegermutter mit Azizul zu einem ozha (magisch-religiösen Heiler), um es mit phnu zu versuchen. Bei phnu handelt es sich um eine Behandlung, bei welcher der Heiler einen Auszug aus dem Koran vorbetet und darauf seinen Atem dem Patienten ins Gesicht und über den Körper bläst. Als die beinahe mittellosen Frauen jedoch den Heiler wie Bettler um Hilfe anflehten, schrie sie dieser an: "Was kommt ihr zu mir? Ihr habt ihn beinahe getötet. Jetzt, nachdem ihr überall euer Geld ausgegeben habt, kommt ihr zu mir. Nichts kann ihm helfen. Schert euch weg."
Zu Hause angekommen, sagte Azizul mit klarer Stimme zu seinem älteren Bruder: "Der ozha hat gesagt, dass ich sterben muss. Komm, nimm mich eine Weile in deinen Schoss." Es war die letzte Bitte, die Azizul in seinem kurzen Leben gewährt werden sollte.
Die Geschichte von Azizul zeigt, wie hilflos die Eltern dem herrschenden Gesundheitssystem ausgeliefert waren. Einem System, das ihren finanziellen Möglichkeiten nicht angemessen ist und zudem nicht den gewünschten Erfolg bringt. Wobei anzufügen ist, dass das staatliche Gesundheitssystem von den Betroffenen oft gar nicht benutzt wird, da es entweder als ineffizient, teuer oder kompliziert angesehen wird. Die Hilflosigkeit von Azizuls Eltern wurde noch verstärkt durch ihre Unwissenheit in Ernährungs- und Gesundheitsfragen und die gesellschaftliche Stellung der Mutter, die als Frau weitgehend vom Schutz des Mannes abhängig war.
Das Schweizerische Rote Kreuz SRK zielt mit seiner Selbsthilfe-Strategie, die in den letzten Jahren gute Erfolge zeigte, auf eine Befähigung der Bedürftigen ab, die über die Gesundheitserziehung hinausgeht und weitere Komponenten beinhaltet. Die Strategie, die von lokalen Nichtregierungsorganisationen umgesetzt wird, umfasst Gesundheitserziehung und Ausbildung von freiwilligen Gesundheitshelferinnen; Ausbildung von traditionellen Geburtshelferinnen; Bewusstseinsbildung über Frauenrechte und Familienplanung; Verbesserung der sanitären Bedingungen; Mobilisieren von Basisgruppen für Frauen und Männer, die sich wiederum zu Dorfkomitees oder Selbsthilfeorganisationen zusammenschliessen; Einkommensförderung für benachteiligte Gruppen; nichtformale Schulung, insbesondere für Frauengruppen; Aufklärung über zivile Rechte und Zugang zu Dienstleistungen der Regierung.
Ein Programm, das die Reduktion der Kindersterblichkeit beinhaltet, muss sich in erster Linie an der Förderung der Mütter orientieren. Dank einem integrierten Mutter-Kind-Gesundheitsansatz ist es dem SRK und seinen lokalen Partnerorganisationen gelungen, den Gesundheitszustand von Schwangeren und Müttern anzuheben, den gesellschaftlichen und ökonomischen Status der Frauen zu fördern und durch gezielte Gesundheitserziehung die Pflege und Ernährung der Kinder zu verbessern.
*Peter Eppler ist Programmverantwortlicher beim Schweizerischen Roten Kreuz SRK; Dipak Ranjan Chowdhury ist Direktor der Voluntary Organisation for Rural Development VORD, einer lokalen Partner-NGO.