Von Von Gabriele Kölliker
Chureca ist ein populärer Ausdruck für hässlich, unangenehm. «La Chureca» heisst denn auch die Müllhalde in der nicaraguanischen Hauptstadt Managua. Zwischen einem Viertel am Stadtrand und dem vergifteten See breitet sie sich aus, eine weite Hügellandschaft aus Abfall und Staub. Das Gelände zieht Menschen an, die sonst keinen Ort zum Arbeiten und Leben finden. So auch die 15jährige Helena del Carmen und ihre Familie.
Seit Jahren arbeiten Helena, ihre Mutter und die beiden älteren Brüder auf der Müllhalde. Sie sortieren Abfall, suchen nach allem, was irgendwie noch verwertbar, das heisst zu verkaufen ist. Helenas Tag beginnt um fünf Uhr morgens mit Putzen und Kochen. «Daran bin ich gewöhnt», meint die 13jährige trocken. Vor neun Uhr zieht die Familie mit ihrem Handkarren und den Gabeln aufs Gelände. Sie sind nicht die ersten. Bereits lehnen Frauen, Männer und Kinder an ihren Karren, stützen sich auf ihren Handgabeln. Hunde und Kühe mischen sich unter die Gruppe, Schwärme von Geiern stehen bereit. Alle warten auf den ersten Lastwagen der städtischen Müllabfuhr. Diese Camions sind begehrt. Wie diejenigen der Seifenfabrik, die manchmal auch ganze Stücke mitbringen, die sich gut verkaufen. Aber da hat sich eine Gruppe Drogenabhängiger organisiert, die die Wagen jeweils abfängt und räumt. Die Camions vom Markt wiederum sind nicht interessant für den Lohnerwerb, aber sie bringen Gemüse und Fleisch. Da werden die essbaren Stücke für den Eigengebrauch abgeschnitten, Fleischknochen ausgekocht für eine Suppe und die Reste den Haustieren verfüttert.
Sobald sich der erste Camion nähert, setzt sich die Gruppe langsam in Bewegung. Der Lastwagen kippt den Müll, und Dutzende von Handgabeln stechen in den Abfall. Die Leute ziehen den Schutt über den Boden und beginnen mit der Suche nach Verwertbarem. Helenas Familie hat sich die Arbeit organisiert: «Wir arbeiten nicht zusammen, jeder sammelt allein. Den brauchbaren Müll stecken wir in unsere umgehängten Säcke. Wir sammeln Flaschen, Alu, Papier, Plastik, Kupfer und Bronze. Gemeinsam verkaufen wir unsere Erträge an Männer, die mit Lastwagen und einer Waage kommen. Die Flaschen werden gezählt. Sechs Flaschen geben einen Cordoba, vier Schnapsflaschen ebenfalls. Kleine Gläser mit Deckeln sammeln wir separat. Den besten Ertrag gibt Kupfer, aber davon gibt's wenig. Am meisten finden wir Plastik und Papier. Was meine Mutter und ich am Morgen sammeln, verkaufen wir am Mittag für das Mittagessen, mit dem was meine Brüder am Nachmittag finden, kaufen wir das Abendessen. Am Morgen nehmen wir zwischen 10 und 15 Cordoba ein (etwa ein Franken fünfzig, d. Red.) wenn sie uns nicht betrügen.» Das Einkommen gehört immer der ganzen Familie. Damit werden Essen, Kleider und die Schule bezahlt.
Es herrscht Konkurrenz auf der Müllhalde. Zwei- bis dreitausend Leute sortieren Abfall. Einige kommen von weit her, arbeiten die Woche durch auf der Halde und fahren am Wochenende heim. Es ist keine lukrative Arbeit, doch es ist Arbeit. In Nicaragua haben nur 20 Prozent der Bevölkerung eine feste Anstellung. Die andern leben von Gelegenheitsarbeiten. Am Rande der Chureca wohnen heute 107 Familien. Die Zahl ist stabil. Unter den Familien gibt es keine Zusammenarbeit, das Misstrauen ist gross, ebenso die Gewalt und der Drogenkonsum. Viele trinken billigen Schnaps, schon fünfjährige Kinder schnüffeln Schusterleim. Seit drei Jahren gibt es immerhin einen Wasseranschluss und eine kleine Primarschule. Strom wird von den Hauptleitungen abgezwackt. Dreimal in der Woche verteilt eine kirchliche Organisation Mahlzeiten an die Kinder.
Helena besucht nachmittags jeweils die Schule gleich in der Nähe der Chureca. Die meisten Kinder in ihrer Klasse arbeiten auf der Chureca. «Einige der Privilegierten reden nicht mit uns», mokiert sich Helena, «aber wir sind stolz auf unsere Arbeit.» Die Schule gefällt ihr, und wenn sie erwachsen ist, will sie sich um Strassenkinder kümmern: «Denn ich bin eines, und wir werden diskriminiert.» In ihrer monotonen, klaren Stimme klingt Vehemenz, wenn sie festhält, dass gerade Frauen studieren müssten, weil viele Männer abhauen, nachdem sie die Mädchen geschwängert haben. «Wir Mädchen müssen studieren, um zu wissen, wie wir unabhängig werden können.» In Helenas Familie hat sich Arbeit und Schule bei allen in den Tagesablauf eingefügt: ihre beiden 15- und 16jährigen Brüder arbeiten bis 16 Uhr und gehen dann bis 21 Uhr zur Schule. Der neunjährige Helmer wird nicht mit zur Arbeit genommen, weil er gesundheitliche Probleme hat. «Aber die Eltern können nichts dafür, dass wir arbeiten müssen», konstatiert Helena. «Wir müssen aus Notwendigkeit arbeiten. Eltern würden ihre Kinder lieber studieren lassen, möchten, dass ihre Kinder schreiben und lesen können und nicht Diebe oder Prostituierte werden.» Die Arbeit auf dem Müll ist gefährlich. Die Erde ist giftig, der Staub verklebt die Haut, die Sonne brennt gnadenlos, und immer wieder gibt es Unfälle mit den Fahrzeugen. Im Winter, während der Regenzeit, verschlimmert sich die Situation durch den Schlamm - und die Malariafälle nehmen zu.
«Freizeit?», sinniert Helena, «Freizeit habe ich im Projekt. Manchmal gehe ich dorthin. Es ist ein Haus ausserhalb der Chureca. Dort wird Nachhilfeunterricht erteilt, wir können spielen und es werden Ausflüge für die Kinder organisiert.» Das Projekt «Dos Generaciónes» ist der Organisation arbeitender Kinder Nicaraguas NATRAS angeschlossen, die ein Recht der Kinder auf Arbeit und Ausbildung fordert. Aber Helenas Tätigkeit gehört kaum zu jenen Arbeiten, für die Rechte eingefordert werden sollen, denn auch die NATRAS ist für ein Verbot von Arbeiten, die Kinder körperlich und seelisch zerstören.
Die Leute von der Chureca reden von einem Projekt zur Sanierung der Müllhalde, das in diesem Jahr noch ausgeführt werden soll. Genaueres weiss niemand, es wurde versprochen, ihnen in einem Barrio Platz und geregelte Arbeitsplätze auf dem Müll zu schaffen. Helena ist klug und erfahren. Sie erzählt mit klarer, leicht monotoner Stimme, nur manchmal entweicht ihr ein Lächeln, wird ihre Stimme heftiger. Sie kennt ihre Situation, die ihrer Familie und die von andern armen Leuten. Und sie hat eine klare Meinung dazu. «Aus Notwendigkeit, weil wir arm sind...» beginnt sie manchen Satz. Die Notwendigkeit akzeptiert sie, ohne zu jammern, aber sie beklagt die Ungerechtigkeit: «Ich fühle mich manchmal schlecht. Ich bin ein Kind. Statt zu arbeiten sollte ich mich mehr der Schule widmen können, meiner Kindheit, meiner Persönlichkeit. Aber wir haben Pech. Nicht weil meine Mutter es will, nimmt sie uns mit zur Arbeit, sondern weil wir arm sind. Wir Kinder von der Chureca haben keine Zeit zum Träumen.»
*Gabriele Kölliker war bis zum 31.1.1999 Informationsbeauftrage von terre des hommes schweiz. Das "Themendossier Kinderarbeit" von terre des hommes schweiz ist eine informative Sammelmappe mit Hintergründen, konkreten Beispielen, Projektbeschrieben sowie einigen Zeitungsartikeln zum Thema Kinderarbeit. Information und Bestellung: terre des hommes schweiz, Laufenstrasse 12, Postfach, 4018 Basel, Telefon 061 338 91 38, Fax 061 338 91 39, E-mail info@terredeshommes.ch, Internet www.terredeshommes.ch .