Von Lotty Ziörjen
Dass in Ländern des Südens grobe Kinderrechtsverletzungen stattfinden, ist allgemein bekannt und wird auch thematisiert. Kinderrechtsverletzungen gibt es aber auch bei uns in der Schweiz; allerdings meist versteckt. Erschreckend viele Mädchen und Knaben erfahren in der Schweiz im Laufe ihrer Kinder- und Jugendzeit sexuelle Übergriffe. Doch gibt es immer noch nicht genügend spezialisierte Unterstützungsangebote für direkt und indirekt Betroffene. Auch bestehen weiterhin Tendenzen zur Bagatellisierung der Tat und deren Auswirkungen für das Opfer.
Sexuelle Gewalt ist eine der verheerendsten und perfidesten Menschenrechtsverletzungen. Sexuelle Ausbeutung ist heute zwar kein Tabuthema mehr. Trotzdem scheuen sich viele, die damit verbundenen Probleme anzugehen. Handelt es sich um einen Täter, der nicht aus dem engsten Familienkreis stammt, können sich Vater und Mutter eines missbrauchten Kindes gemeinsam stützen und sich für das Kind einsetzen. Oft sind es jedoch die Väter oder Stiefväter, die sich an ihren Kindern vergehen. Wehren sich die Mütter für ihre Kinder, werden sie vielfach nicht ernst genommen, oder es wird ihnen misstraut. Auch wenn sie den korrekten Amtsweg einschlagen, sich an Institutionen wenden, die sich auf diese Problematik spezialisiert haben, stossen sie teilweise auf massive Ablehnung, Vorurteile und Vorwürfe.
Es ist eine Tatsache, dass Mütter von der Beweislage her oft sehr wenig vorzubringen haben. In den wenigsten Fällen werden sie direkt Zeugin eines Übergriffs. Sie müssen sich auf die zögernden und spärlichen Kinderaussagen stützen, auf einen Verdacht, der auf den Verhaltensweisen und Reaktionen der Kinder basiert und unter Umständen schwer zu beweisen ist. Mit dieser mageren Ausrüstung müssen sich die Mütter auf den Weg durch die Mühlen der Behörden und Institutionen machen. Doch würden sie unter diesen Umständen nicht handeln, müssten sie später mit einer Anklage wegen Vernachlässigung der Kinder oder Beihilfe zum Missbrauch rechnen. Suchen sie Hilfe, wird ihnen mangelnde Beweislage und Rachelust am Mann vorgeworfen. Die Aussage einer Fachperson verdeutlicht die Haltung gegenüber diesen Müttern: "Wissen Sie, ich habe mir im Laufe meiner 20-jährigen Tätigkeit als Gutachter eine Standardformel entwickelt: wenn so etwas in der Familie passiert, sind immer beide Elternteile gleich schuld." Eine solche Haltung hat fatale Folgen für das Kind.
Mütter und Kinder geraten oft in ein Verfahren, dass alles andere als professionell bezeichnet werden kann: Kinderaussagen, die aus Angst vor den angedrohten Folgen nur spärlich ausfallen, und die Aussagen der Mutter, gestützt auf diese Kinderaussagen sowie ihre eigenen Verdachtsmomente, werden den Aussagen des Vaters, der seine Unschuld zu beweisen versucht, gegenübergestellt. Immer wieder steht deshalb sinngemäss in den Gutachten zu lesen, dass die Kinder zwar Aussagen über sexuelle Handlungen gemacht haben, jedoch nicht abzuklären war, ob diese auf tatsächliche Übergriffe zurückzuführen seien oder das pädagogische Verhalten der Mutter für die Aussage verantwortlich zu machen sei. Die Aussagen der Mutter und jene des Kindes werden somit nur bedingt ernst genommen. Für betroffene Kinder werden in der Folge Begriffe wie Recht, Gerechtigkeit, Respekt und Achtung zu Worten ohne Inhalt; Ohnmacht und Verzweiflung machen sich breit.
Leider ist es noch vielerorts nicht der Fall, dass Verdachtsmomenten vorurteilsfrei nachgegangen wird, dass das weitere soziale Umfeld sowie die Paarproblematik abgeklärt, eine lückenlose Dokumentation angelegt und die Aussagen bei Befragungen auf Video dokumentiert werden. Erst aus diesem Puzzle von Informationen kann zuhanden des Richters ein Vorschlag für die als notwendig erachteten Massnahmen formuliert werden. Zum Schutze aller Parteien, aber ganz speziell zum Wohle des Kindes, wäre es insbesondere notwendig, dass bei jeder Begutachtung ein Videogerät zur Verfügung steht, damit die Fachpersonen ihre Arbeit und die zusammengestellten Fakten lückenlos festhalten und dokumentieren können. Durch eine lückenlose Dokumentation eines Verfahrens wird die Willkür oder Unzulänglichkeit einzelner Personen reduziert. Steht kein Videogerät zur Verfügung, müssen speziell ausgebildete Begleiter/innen die neutrale Protokollführung übernehmen. Denn es gehört auch zu den Menschenrechten, dass Kinder, wenn sie erwachsen werden und ihr Leben selbst in die Hand nehmen, zumindest die Möglichkeit erhalten, in einem ausführlichen Protokoll nachlesen zu dürfen, weshalb damals welche Entscheidung gefällt wurde.
Bei der Formulierund von Massnahmen dürfen die von den Kindern geäusserten Ängste nicht unter den Tisch gewischt, sondern ernst genommen werden. Ihre Bedürfnisse und Gefühle dürfen nicht der abstrakten "Aufrechterhaltung der Vater-Kind-Beziehung" untergeordnet werden. Diese Beziehung ist nach sexuellen Übergriffen unweigerlich gestört. Es ist wichtig, dass sexuell missbrauchte Kinder Gelegenheit haben, genügend Distanz zu schaffen, um ihre Trauer, Wut, Angst und Aggression in Ruhe aufsteigen zu lassen und verarbeiten zu können. Die meisten Kinder erhalten diese Ruhepause nie.
*Lotti Ziörjen ist Lehrerin, Erwachsenenbildnerin und arbeitet seit vielen Jahren zum Thema der sexuellen Ausbeutung. Im Rahmen eines Projektes von IAMANEH Schweiz nimmt sie die Betreuung und Begleitung von sexuell missbrauchten Kindern und Jugendlichen sowie von deren Angehörigen, insbesondere von Müttern, wahr.